Wenn Diskursgrenzen Herrschaftsverhältnisse unsichtbar machen und warum Diversität trotzdem wichtig ist

Diversität als Thema bei der Bewegungsstiftung

Dieses Wochenende war ich bei der Online-Strategiewerkstatt der Bewegungsstifung, die das Schwerpunktthema Diversität hatte. Das Thema liegt mir bekanntlich sehr am Herzen; ich verweise als zentrale Anlaufstelle hier im Blog auf den Beitrag Rang und Privilegien in einer Nussschale. Vor ein paar Monaten habe ich endlich den lange geplanten Rang- & Priviliegientag hier in der Gemeinschaft veranstaltet, um auch hier das Bewusstsein für die Thematik zu verstärken.

Dass das Thema erst jetzt (nach beinahe 20 Jahren Bestehen der Stiftung) so ins Zentrum gerückt ist, kann auf der einen Seite verwundern, denn wie ich in meinem finanziellen Coming out geschrieben hatte, warum mich die Bewegungsstiftung besonders angezogen hat:

Dort entscheiden nämlich nicht allein die StifterInnen, wer zu welchem Zweck wie viel Geld bekommen soll, sondern die AktivistInnen der geförderten Projekte entscheiden über die Geldvergabe der Stiftung mit (mehr darüber in der Broschüre Den Wandel gestalten). Damit betreibt die Bewegungsstiftung keine undursichtige Wohltätigkeit wie die meisten anderen Stiftungen. Exemplarisch ist dabei in Deutschland die Bertelsmann-Stiftung zu nennen. Auch Warren Buffets Sohn Peter haut in die gleiche Kerbe, wenn er vom Charitable-Industrial Complex spricht. Aus dem Umfeld der Bewegungsstiftung ist u.a. die Initiative Vermögender für eine Vermögensabgabe entstanden, für die ich hier im Blog Gerhard Schröder werben lasse. Bei der Bewegungsstiftung gibst du als StifterIn also tatsächlich ein gutes Stück aus der Hand, was mit deinem Geld geschieht.

Das ist also an sich eine bessere Grundlage für Diversität als in den meisten anderen Stiftungen. Andererseits wies jemand richtigerweise darauf hin, dass das auch die Gefahr birgt, sich auf dem Erreichten auszuruhen.

Bei meiner Beschäftigung mit meinem Rang & meinen Privilegien konnte ich feststellen, dass da immer noch viel zu entdecken und sich bewusst zu machen ist. Einer von vielen Augenöffnern war dabei das Buch Der unsichtbare Tropenhelm. Wie koloniales Denken noch immer unsere Köpfe beherrscht von Friederike Habermann (Rezension in der Oya).

Wenn wir ein gutes Leben für alle wollen, müssen wir uns mit unseren (meist nicht bewussten) Privilegien auseinandersetzen. Check your privilege!

Die Stiftung versteht sich zwar (bisher?) nicht als ein Commons, dennoch musste ich dabei auch an die Muster des Commoning denken. Zum Thema hier passt wohl am besten Augenhöhe in & durch Organisationsstrukturen ermöglichen:

Menschen haben völlig verschiedene Voraussetzungen Commons aktiv mitzuorganisieren. Benachteiligungen sind sichtbar oder bleiben verborgen. Augenhöhe ist somit nicht nur eine Frage des achtsamen Umgangs. Wer sich dessen gewahr wird, gestaltet Strukturen und Abläufe hierarchiearm sowie diskriminierungssensibel. Zudem werden Räume geöffnet, die gute Artikulationsmöglichkeiten für Benachteiligte bieten.

Zugleich nehme ich in diesem ganzen Zusammenhang um die Diversität auch ungute Tendenzen wahr, um die es im nächsten Abschnitt geht.

Wolfgang Thierse und die Diskursgrenzen

Vorneweg: Als Anarchist habe ich innerhalb der Linken historisch schon immer eine Minderheitenposition inne; als innerer Anarchist erst recht.

Und es geht mir hier hier vor allem um eine linke Kritik des Ansatzes von Identitätspolitik. Die Strategiewerkstatt habe ich zum Anlass genommen, das Buch Trigger-Warnung. Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen anzufangen, das ich schon über ein Jahr im Regal rumstehen hatte. Aus dem Klappentext:

Der Sammelband „Trigger Warnung“ (Verbrecher Verlag 2019) beschäftigt sich mit den Fallstricken der Identitätspolitik und sucht nach Allianzen jenseits von Schuldzuweisungen und Opferkonkurrenz. Die Beiträge erteilen schlichten Beiß- und Abwehrreflexen eine Absage und richten den Blick dorthin, wo es zwickt und weh tut: wo Identitätspolitik sich in Symbolpolitik erschöpft. Wo die Betonung der Differenz vergessen lässt, dass man nicht mit allem identisch sein muss, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Bisher habe ich nur den einleitenden Aufsatz der Herausgeber:innen gelesen. Der liefert aber schon genügend Ansatzpunkte, z.B. diesen hier:

Wie aus manchen Schülerinnen von Karl Marx “Vulgärmarxistinnen” wurden, so erleben wir momentan die Verbreitung einer vulgären Identitätspolitik mit fundamentalistischen Zügen. Der Ruf nach Trigger-Warnungen und Safe Spaces bringt dabei eine Tendenz linker Identitätspolitik auf den Begriff, die wir für problematisch, mehr noch: für grundfalsch halten. Die Verallgemeinerung der medizinischen und klinischen Beschäftigung des Triggers aus der Traumaforschung in politisierter Absicht wird zunehmend – mal intendiert, mal zufällig – zum Mittel, um Gegenredner*innen oder unbequeme Positionen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Hinzu kommt eine vereinfachte, manichäische Spaltung der Welt in Gut und Böse, in “globaler Süden” und “der Westen”. Eine oberflächliche Lektüre etwa von Michel Foucault führt in diesem vulgären Poststrukturalismus zur Gleichsetzung von Macht und Bosheit. Folglich reicht allein die Schwäche der Gruppe, dass man ihr ultimatives Recht zusprechen muss.

Diese Problematik hatte ich vor gut 5 Jahren schon mal im Beitrag Mikroaggressionen und Rang untersucht, wo ich das ganze u.a. durch die integrale Brille betrachte. Mit dem Thema Trauma habe ich mich verschiedentlich, auch aus eigener Betroffenheit, befasst.

Außerdem sind wir damit jetzt auch bei Wolfgang Thierse, der mit seinem FAZ-Artikel “Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?” kürzlich echt was losgetreten hat. Der Artikel befindet sich hinter einer Bezahlschranke, ich habe eine meiner Quellen angezapft, um ihn mir zukommen zu lassen. Er schreibt darin zu der Opferhaltung:

Die eigene Betroffenheit, das subjektive Erleben sollen und dürfen nicht das begründende Argument ersetzen. Biographische Prägungen, und seien sie noch so bitter, dürfen nicht als Vorwand dafür dienen, unsympathische, gegenteilige Ansichten zu diskreditieren und aus dem Diskurs auszuschließen. Opfer sind unbedingt zu hören, aber sie haben nicht per se recht und sollten auch nicht selbst Recht sprechen und den Diskurs entscheiden.

Eva Berendsen, Saba-Nur Cheema und Meron Mendel schreiben weiter:

Was kann die Identitätspolitik der Mehrheit der Gesellschaft [oder, in der Sprache der Weltarbeit, dem Mainstream] anbieten? Was bleibt den “alten weißen heterosexuellen Männern” und anderen Mitgliedern “privilegierter Gruppen”, als die eigene “privilegierte Position” zu bedauern und sich dafür schuldig zu fühlen? Dann befinden wir uns schon sehr nah an der alten christlichen Moral, indem das Handeln durch Schuldgefühle über eine Ursünde bestimmt werden soll.

Es ist daher kein Zufall, dass der Diskurs einen fast schon religiösen Charakter bekommen hat: Dissens wird auf moralische Kategorien von Gut und Böse verengt, was wiederum eine Dynamik entfaltet, die Kommunikation versperrt.

Meine Kritik an linker Identitätspolitik geht nun noch weiter. Ich halte diese sogar für reaktionär, weil sie von Eigentumsverhältnissen (die immer auch Herrschaftsverhältnisse sind) so sehr ablenkt, dass sie diese unsichtbar macht.

Die Herausgeber:innen von “Trigger Warnung” schreiben in ihrem Aufsatz

Nach den langen, mühsamen Kämpfen für die Integration der Perspektiven von Minderheiten in linke Theorie und politische Praxis erleben wir derzeit eine Art Backlash des marxistischen Hauptwiderspruchs.

Was ist der marxistische Hauptwiderspruch? Der zwischen Arbeiter- und Kapitalistenklasse. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Selbst wenn er nicht der _Haupt_widerspruch ist, so ist er doch zumindest ein sehr wichtiger. Und genau das wird durch vulgäre Identitätspolitik verdeckt. Die CIA hat aus gutem Grund die Entwicklung der französischen Neuen Linken mit Foucault & Co. wohlwollend begleitet. Ich zitiere, was ich im verlinkten Artikel schrieb:

Kurz zusammengefasst: diese “linken” Strömungen verlassen mehr und mehr das eigentliche linke Projekt des Klassenkampfes für eine klassenlose Gesellschaft. Und das kann dem US-Imperium nur recht sein.

Wolfgang Thierse kritisiert das auch:

Themen kultureller Zugehörigkeit scheinen jedenfalls unsere westlichen Gesellschaften mittlerweile mehr zu erregen und zu spalten als verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen.

“You will own nothing, and you will be happy” – alles Verschwörung oder was?

Vor diesem Grundrauschen kann das Weltwirtschaftsforum daher weitgehend unwidersprochen verkünden, im Jahr 2030 würden wir Normalmenschen kein Eigentum mehr besitzen und glücklich dabei sein. Was sie nicht dazu sagen, aber meinen: uns Superreichen gehört dann alles. Ich schreibe hier ja schon seit Jahren regelmäßig über Eigentumsverhältnisse und Verteilungsgerechtigkeit.

Und mit dem Weltwirtschaftsforum (WEF) kommen wir zu weiteren Mitteln, Diskurse zu begrenzen, die älter sind als die heutige linke wie rechte Identitätspolitik. Denn wer das WEF kritisiert, wird heutzutage sehr schnell als “Verschwörungstheoretikerin” etikettiert. Dabei lässt sich kaum bestreiten, dass dort jedes Jahr viele ausgesprochen mächtige Menschen zusammen kommen, um neben dem offiziellen Programm in den Pausen alles mögliche off the record zu besprechen. Die Doku The Forum bietet interessante Einblicke; allerdings natürlich nicht in die vertraulichen Hinterzimmergespräche.

Geheimdienste sind ja schon per Definition Verschwörungen.

Dabei gilt es zu unterscheiden, ob eine “Verschwörungstheorie” von einer begrenzten, konkreten Verschwörung handelt, oder ob sie sich zur Vorstellung einer allumfassenden Weltverschwörung ausweitet. Letzteres bringt die bekannten Probleme mit sich, dass eine solche Vorstellung nicht mit Argumenten und Beobachtungen zu widerlegen ist.

Charles Eisenstein bringt diese wichtige Unterscheidung gut auf den Punkt:

Aber was ist denn überhaupt eine Verschwörungstheorie? Manchmal wird der Begriff gegen alle verwendet, die Autoritäten infrage stellen, die von der gängigen Lehrmeinung abweichen oder denken, dass unsere führenden Institutionen von versteckten Interessen beeinflusst werden. Dann wirkt diese Zuschreibung als Instrument, das abweichende Meinungen unterdrückt und jene schikaniert, die versuchen, gegen Machtmissbrauch aufzustehen. Man muss nicht das kritische Denken ausschalten, um zu glauben, dass mächtige Institutionen manchmal konspirieren, sich verschwören, vertuschen und korrupt sind. Wenn das mit dem Wort Verschwörungstheorie gemeint ist, sind manche dieser Theorien offensichtlich wahr. Erinnert sich irgendjemand noch an Enron? Iran-Contra? COINTELPRO? Vioxx? Irakische Massenvernichtungswaffen?

In Zeiten von COVID-19 haben Verschwörungstheorien eine neue Tragweite erlangt. Sie gehen weit über einzelne Geschichten von Konspiration und Korruption hinaus und beschreiben das Funktionieren der Welt prinzipiell als eine große Verschwörung. Befeuert durch die autoritären Reaktionen auf die Pandemie (seien diese Maßnahmen gerechtfertigt oder nicht, Lockdown, Quarantäne, Überwachung und Tracking, Zensur von Fehlinformation, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und anderer Bürgerrechte usw. sind in der Tat autoritär), behauptet diese Ur-Verschwörungstheorie, dass eine böse, machthungrige Elite absichtlich eine Pandemie provoziert habe, oder diese zumindest rücksichtslos ausnutze, um die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken zu versetzen und sie schließlich dazu zu bringen, eine totalitäre Weltregierung unter einem dauerhaften medizinischen Kriegsrecht, eine Neue Weltordnung (NWO), zu akzeptierten. Außerdem ziehe diese böse Gruppe, ziehen diese Illuminaten, die Fäden bei allen größeren Regierungen, den Großkonzernen, den Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation, der US Gesundheitsbehörde, den Medien, den Geheimdiensten, Banken und NGOs. Sprich, alles was man uns erzählt, sei eine Lüge und die Welt sei in der Hand des Bösen schlechthin.

Das genau zu unterscheiden, ist sehr wichtig. Denn wenn beide Arten von “Verschwörungstheoretikerinnen” in einen Topf geworfen werden, wie das die meisten Medien tun, diskreditiert das auch diejenigen, die konkreten Machtmissbrauch untersuchen und kritisieren. Und real existierende Verschwörungen, von denen Charles Eisenstein ein paar Beispiele auflistet (mehr davon findet ihr in Alternativlos Folge 23), können ungestört weiterarbeiten.

Genau das meine ich mit der Überschrift Wenn Diskursgrenzen Herrschaftsverhältnisse unsichtbar machen.

Nun geht diese Überschrift aber weiter, weshalb ich abschließend noch mal auf einen Aspekt eingehe, der mir besonders am Herzen liegt.

Privilegien aufdecken als Arbeit mit sich selbst

“Arbeit mit sich selbst” ist eine Disziplin der Prozessarbeit. Die spielt sich sonst im Wesentlichen zwischen Menschen ab. Die Arbeit mit sich selbst ist dafür jedoch auch sehr wichtig, denn sie fördert ganz besonders die Selbst-Bewusstheit. Und genau darum sollte es m.E. schwerpunktmäßig in der Bewegungsstiftung (wie auch in der umgebenden Gesellschaft) erst mal gehen. Diese Einladung geht somit auch an Herrn Thierse. Er schreibt

Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, ist der programmatische Titel eines Buches von Alice Hasters. Ja, wir Weiße haben zuzuhören, haben Diskriminierungen wahrzunehmen. Aber die Kritik an der Ideologie der weißen Überlegenheit darf nicht zum Mythos der Erbschuld des weißen Mannes werden. Die Rede vom strukturellen, ubiquitären Rassismus in unserer Gesellschaft verleiht diesem etwas Unentrinnbares, nach dem Motto: Wer weiß ist, ist schon schuldig. Und deshalb sei Blackfacing, sei kulturelle Aneignung über Hautfarben und Ethniengrenzen hinweg nicht erlaubt. Verbote und Gebote von sprachlichen Bezeichnungen folgen. Das erzeugt falsche kulturelle Frontbildungen, Unsicherheiten und Abwehr. Eine Abwehr, die offensichtlich nicht nur zum rechten Rand, sondern bis weit in die Mitte der Gesellschaft reicht. Umso mehr bestätigt diese dann wieder den Rassismusvorwurf, ein Circulus vitiosus.

Zwar gehen Rassismusvorwürfe, wenn sie zu dem beschriebenen “Wer weiß ist, ist schon schuldig” führen, zu weit und führen auch nicht zum gewünschten Ziel, wie Thierse schreibt. Dennoch will ich den Aspekt

Ja, wir Weiße haben zuzuhören, haben Diskriminierungen wahrzunehmen.

noch mal betonen – und ergänzen um “wir Männer”, “wir Vermögende” usw. usf. Da verweise ich noch mal auf Rang und Privilegien in einer Nussschale.

Von der Strategiewerkstatt habe ich eine sehr eindrückliche Metapher mitgenommen, die das Problem verdeutlicht: Stellen wir uns politische Themen wie Radiosender vor. (Anti-) Rassismus ist einer dieser Sender. Privilegierte Weiße wie ich und Wolfgang Thierse haben die Möglichkeit, mal in diesen, mal in andere Sender reinzuhören. People of Color, die in Deutschland leben, müssen den Radiosender (Anti-) Rassismus ständig hören, sie können nicht umschalten.

Lass das mal wirken.

In dem Zusammenhang hat mich ein Artikel von Miki Kashtans Facing Privilege-Seite ganz besonders bewegt, nämlich was sie über Absicht und Auswirkung von Handlungen schreibt. Fast alle ihrer Texte gibt es nur auf Englisch, deshalb versuche ich das hier mal kurz & knapp zusammenzufassen:

Ihr Ausgangspunkt ist, dass eine häufige Reaktion auf unbeabsichtigte Verletzungen ist, zu sagen “Ich wollte dich nicht verletzen”. Das mag wohl sein, dennoch ist es passiert. Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Und sich als privilegierte Person darauf einzulassen, sich damit zu konfrontieren, kann uns einander näher bringen. Die Reaktion “Ich wollte dich nicht verletzen” bewirkt zwei Dinge: einerseits lenkt es die Aufmerksamkeit von dem, was tatsächlich geschehen ist, auf die dahinter liegende Absicht. Und es lenkt die Aufmerksamkeit von der Person, die verletzt wurde, auf diejenige, die (unabsichtlich) verletzt hat.

Wenn ich beim Gemüse schnippeln aus Versehen jemand anderem in die Hand schneide, sage ich ja auch nicht “oh, tut mir leid, ich hab’s nicht böse gemeint”, sondern ich hole schnell ein Pflaster.

Privilegien und hoher Rang bringen auch die Verantwortung mit sich, mit Menschen niedrigeren Rangs achtsam zu sein und deren Bedürfnisse zu achten. Dazu müssen wir manchmal erst lernen, was deren Bedürfnisse sind.

Der Text über Rang und Privilegien bringt es gut auf den Punkt:

Eines der größten Privilegien ist es, nicht an einem Problem leiden zu müssen. Sich nicht damit befassen und jeden Tag darüber nachdenken zu müssen. Natürlich wissen die mit dem Privileg das nicht!

Darum geht’s. Wenn ich ein Problem nicht habe, heisst das noch lange nicht, dass dieses Problem gar nicht existiert. Es existiert sehr wohl, und das kann ich lernen von Menschen, die sich mit diesem Problem tagtäglich herumschlagen müssen.

In diesem Sinne: Check your privilege and then use it to the benefit of all!

Nachtrag vom 08.03.: Apropos Weltwirtschaftsforum – Micah White hat ja letztes Jahr den Spagat ausprobiert, als Aktivist nach Davos zu gehen. Seither habe ich nichts mehr von ihm mitbekommen. Ist er in den Untergrund gegangen? Ist sein Schweigen erkauft worden? Ist er zum Feind übergelaufen und arbeitet jetzt als CSR-Berater für Großkonzerne? Ich weiss es nicht. Jedenfalls habe ich gerade noch einen sehr kritischen Artikel über ihn bei Jacobin gefunden.

Weiterer Nachtrag vom 08.03.: Just flatterte mir der Artikel What if liberal anti-racists aren’t advancing the cause of equality? von Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara im Guardian rein.

Much of today’s advocacy around racial justice places the onus on individual actors and the private sector. We need collective action instead.

Das ist ja schon lange mein Reden, siehe z.B. Wellness vs. Solidarität. Allerdings warne ich davor, individuelle Bewusstseinsbildung und kollektives Handeln gegeneinander auszuspielen. Es braucht beides, und das kann sich sogar gegenseitig unterstützen.

Und noch ein Nachtrag vom 08.03.: Zu dem Thema stöbere ich doch auch mal in der Republik, habe ich mir gedacht, und bin mehrfach fündig geworden. Fangen wir an mit dem Artikel Wer hat Angst vorm Zuhören?

Zur Moderne gehören von Anfang an und bis heute auch Exklusion und Missachtung, Unfreiheit und Ausbeutung, Abhängigkeit und Entmenschlichung. Diese betreffen ganze Gruppen von Menschen, denen man eben genau mit Verweis auf ihre Zuordnung zu bestimmten Gruppen – als Frauen, Versklavte, «Wilde», «Barbaren», Juden, «Behinderte», «Homosexuelle» – die angeblich universalen Rechte verweigert hat.

Zum Kern des Artikels:

Entscheidend aber ist: Wenn jemand darauf besteht, als ein «Wer» zu sprechen und gehört zu werden, anerkannt zu werden als ein Mensch, der durch die Gruppen­zuordnung bestimmte (Diskriminierungs- oder sonstige) Erfahrungen gemacht hat, sollten wir aufhören, darauf mit pauschaler Abwehr zu reagieren. […]

Aber für wen ist es eigentlich kaum auszuhalten, dass marginalisierte Personen und Gruppen sich auch einmal in «geschützten» Räumen austauschen wollen? Vielleicht merken wir ja bloss nicht, dass auch wir uns die meiste Zeit schon in solchen Schutz­zonen bewegen? Wenn wir zum Beispiel von der eigenen Hautfarbe absehen können, weil wir weiss sind; wenn wir hetero sind und deshalb keine Sorge vor Gewalt und Beleidigung beim Händchen­halten in der Öffentlichkeit haben müssen?

Wer hat Grund, sich von der Forderung angegriffen zu fühlen, über die eigene soziale Position samt deren Deutungs- und Handlungs­mächtigkeit nachzudenken? Für wen ist das zu viel, und wer darf das entscheiden?

Und weiter:

Die historische Lehre aber ist klar: Universalismus kann man nicht einfach deklarieren, ohne sich mit der Frage zu befassen, wer davon ein- und wer ausgeschlossen ist. Solange Menschen rassistisch diskriminiert werden, weil sie schwarz sind, muss die sozial zugewiesene Bedeutung von Hautfarbe ein Thema sein. Wenn sich jemand dagegen­wendet mit dem Argument, er sei bereits «colour-blind», mag das aufklärerisch gemeint sein. Aber es ist eben doch eine privilegierte Position, die sich (ungewollt) zur Komplizin von Rassismus macht: Worüber wir nicht sprechen, das gibt es nicht.

Siehe oben.

Deshalb lohnt sich das Zuhören. Hinter so manchen Anekdoten von «übertriebenen» Formen der Identitäts­politik stecken genuin moderne, zur Demokratie gehörende Kämpfe um Partizipation, um die Teilnahme am politischen, kulturellen, ökonomischen Leben. Es sind Kämpfe darum, ebenfalls zu denjenigen zu gehören, die an Universalismus, Menschen­rechten, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität teilhaben. Statt sich mit den eigenen Befindlichkeiten zu befassen und mit pauschaler Kritik den Kräften zuzuarbeiten, die Emanzipations- und Gleichheits­forderungen bekämpfen, sollten alle, die guten Willens sind, daran arbeiten, wie wir gemeinsam diese Ziele erreichen können.

Auf dem Weg dahin muss die Spannung zwischen dem Projekt des Universalen und einer Praxis des Partikularen ausgehalten werden. Daraus folgen paradoxe Emanzipations­formen, nämlich solche, die zunächst Differenz betonen müssen, um sie langfristig zu relativieren. Daraus folgt aber auch eine (selbst-)kritische Befragung der Gruppen­logik insgesamt, auch in ihren emanzipatorischen Absichten.

Nächster lesenswerter Republik-Artikel: Welches Links?.

Ja, angesichts eklatanter sozialer Ungleichheit und nach Jahrzehnten neoliberaler Verheerung braucht es dringend ein politisches Gegen­programm. Aber Politik, die ausschliesslich Klassen­kampf spielen will, ist ein Auslaufmodell.

Linke Politik wird heute daran gemessen, wie sie die drei grossen Fragen der Gegenwart zusammendenkt: die soziale Frage, die Klimakrise und die vielfältigen Gerechtigkeits­fragen unter dem aufgeladenen Label «Identitäts­politik». […]

Natürlich soll und muss gestritten werden um die Frage, was linke Politik heute bedeutet. Aber anstatt ständig im Modus «Entweder – oder» zu debattieren, könnte man sich einmal wieder mehr auf das schöne Wörtchen «und» besinnen.

Keine Aufregerdebatte der letzten Zeit war davon weiter entfernt, keine ist mit so viel Eifer geführt worden wie der zum Entscheidungs­duell hochstilisierte Streit namens «Soziale Frage oder linke Identitäts­politik?». Als müsse man notwendig, um das eine zu tun, das andere lassen. Und als wären die ökonomische Ungleichheit und die vielfältigen Formen von Diskriminierung nicht beides komplexe Heraus­forderungen, die klügerer Antworten bedürfen, als das eine gegen das andere auszuspielen.

Der Autor Daniel Graf spricht übrigens von “dem ausgesprochen empfehlens­werten Sammelband «Trigger Warnung»”. :-) Da werde ich also bald drin weiterlesen. Explizit erwähne ich nun das Dossier “Identitätspolitik” der Republik zum Weiterlesen. Das habe ich selber bisher nur überflogen.