Worldwork in Warschau

Nach über einer Woche komme ich nun endlich dazu, euch von Worldwork 2014 in Warschau zu berichten, wo ich letzte Woche dabei war. Das war einfach der Oberhammer! Direkt im Anschluss bin ich auch noch zum nächsten Seminar meiner Prozessarbeit-Ausbildung gefahren. Insgesamt war das eine der intensivsten Wochen meines Lebens. So intensiv übrigens, dass ich am Montag körperlich so kaputt war, dass ich fast den ganzen Tag im Bett lag. Über die Woche habe ich mich nun einigermaßen erholt & dabei festgestellt, dass ich in der kurzen Zeit doch ne ganze Menge Unistoff nachzuholen habe.

Worldwork, Weltarbeit, was ist das eigentlich? Nach meiner Erfahrung bezeichne ich es als die Königsdisziplin der Prozessarbeit. Prozessorientierte Psychologie entstand ja in Zürich, wo Arnold Mindell die Jungsche Psychologie dahingehend erweiterte, dass er körperliche Symptome und Signale einbezog. Auch den Begriff des Träumens erweiterte er in dieser Hinsicht (der Körper träumt durch seine Symptome und Signale).

Ein, um nicht zu sagen das Kernkonzept sind Primär- und Sekundärprozess. Der Primärprozess ist kurz gesagt das, womit ein Mensch sich zu einem Zeitpunkt identifiziert, entsprechend ist der Sekundärprozess alles, womit dieser Mensch sich derzeit nicht identifiziert. Ist es dir nicht auch schon gelegentlich passiert, dass du etwas getan oder gesagt hast & anschließend gedacht “das war jetzt aber nicht ich, oder?!?” – das war in dem Moment dein Sekundärprozess. Nach dieser Definition ist der Sekundärprozess prinzipiell unendlich, was auch heisst, dass die Prozessarbeit nie zu Ende ist. :-)

Später erweiterte Arnold Mindell gemeinsam mit seiner Frau Amy die Prozessarbeit auf Beziehungen und Gruppen. Auch eine Gruppe hat Primär- und Sekundärprozess, hierbei sind es wechselnde Rollen, durch die das Träumen der Gruppe sich ausdrückt. Außenseiter und von der Gruppe unterdrückte Tendenzen entsprechen den Körpersymptomen eines einzelnen Menschen. Darüber hinaus treten immer wieder Geisterrollen auf, das sind in der Atmosphäre der Gruppe vorhandene Rollen, die aber im Augenblick von keiner Person in der Gruppe tatsächlich vertreten werden. Das kann z.B. in der Controllingabteilung eines Großkonzerns die Geisterrolle des Spielerischen sein (das dürfte dort in der Regel nicht vertreten sein…).

Worldwork dehnt diese Konzepte dann schlicht auf größere Gruppen aus unterschiedlichen Kulturen, ethnischen oder wirtschaftlichen Zusammenhängen aus. Und da geht es ganz schön zur Sache.

In Warschau waren um die 500 Menschen aus 40 Ländern zusammen gekommen. Schon als sie die einzelnen Länder aufzählten, habe ich das erste Mal geweint, weil es mich so berührt hat, dass all diese Menschen sich hier treffen, um gemeinsam an den großen Themen zu arbeiten. Diese Entschlossenheit, gemeinsam dran zu bleiben, auch mitten im tiefsten Schmerz und der größten Wut die anderen nicht aus dem Blick zu verlieren, zeigte sich während der gesamten 5 Tage immer wieder & berührt mich bis heute. Genau das ist es, was wir Menschen brauchen, um aus den vielfältigen Gewaltspiralen rauszukommen!

Das ist die Haltung der Tiefen Demokratie, die ich in diesem Blog schon öfters angesprochen habe. Es geht um Bewusstsein (auch & gerade in der Hitze eines Konflikts!), dass alle Stimmen gehört und geachtet werden wollen. Leichter gesagt als getan. Tiefe Demokratie braucht stetiges Üben und die Entschlossenheit, diesen Weg zu gehen. Aber dafür sind wir doch in dieser Welt. Die ganze Welt ist ein Prozess, der sich weiter & weiter entfaltet – wenn wir ihn denn lassen. Bzw. wenn wir ihn nicht lassen, dann entfaltet er sich durch die Hintertür in Form von Krankheiten und Konflikten bis hin zu Kriegen und Umweltkatastrophen.

Der Prozess, die Welt, braucht uns Menschen nicht. Aber wir Menschen brauchen diese Welt, um darin zu leben. Also sollten wir ganz eigennützig dafür sorgen, dass alle Stimmen sich äußern können, und diese auch ernst nehmen.

Für mich war schon als ich das erste Mal von Worldwork in Warschau erfahren hatte klar, dass ich da hinfahre. Meine Familie (sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits) stammt aus Ostpreußen, und der Nachname Ollech ist sicherlich kein germanischer oder teutonischer. Mit Polen verbindet mich viel, wovon ich bisher noch recht wenig an mich herangelassen habe. Z.B. kann ich kaum ein Wort Polnisch. Das will ich allerdings in absehbarer Zeit ändern.

Zu meinem Primärprozess gehört mithin, dass ich Deutscher bin. Das ist allerdings auch schon wieder ein weites Feld, wie sich am zweiten Tag zeigte. Mittags hatte sich eine Gruppe von Deutschen, bei der ich nicht dabei war, zusammengesetzt & gerade dieses Deutsch-sein prozessiert. Am Nachmittag wurde diese Gruppe ausgewählt, um in der großen Gruppe daran weiter zu arbeiten. Das fing schon damit an, dass sich die Gruppe gar nicht einig war, ob sie überhaupt schon bereit ist, sich in der Gesamtgruppe zu zeigen. Und so ist es ja tatsächlich auch im Großen: heute wollen sich viele Deutsche in der Welt nicht als Deutsche zeigen, andere tun das mit Schuld- und Schamgefühlen, wieder andere suchen nach dem, worauf sie als Deutsche stolz sein können. Ich habe mich der Gruppe schrittweise angenähert, bis ich gegen Ende in der Mitte angekommen war. Es war ein eher ruhiges, behutsames Sich-Zeigen der ganzen Gruppe. Die Menschen waren sich in ihren Rollen & auch als Personen sehr bewusst, wie verletzlich sie sind. Da haben “wir Deutschen” einiges gelernt und sind an unserer Geschichte gewachsen, dass es möglich ist, uns so zu zeigen. Anschließend, über die Tage hinweg, habe ich von vielen aus der großen Gruppe gehört, dass sie sehr berührt davon waren, die deutsche Gruppe so zu sehen, gerade auch viele Polen. Und es war ein Anfang, die brutalen Teile der deutschen Geschichte warten noch darauf, wirklich angesehen und gefühlt zu werden. Das ist hier eine sehr verkürzte Darstellung des Prozesses, ich bin mir der Gefahr bewusst, dass manches einseitig ankommen kann. Mir geht es generell nach dieser intensiven Zeit so, dass ich mich nur an wenige konkrete Einzelheiten erinnere, vieles nehme ich als ein grundlegendes Gefühl mit + einzelne starke Momente.

Ein weiterer solcher starker Moment war am dritten Tag, als es um Wirtschaft ging. Aus der Kombination meines Studiums & meiner Ausbildung heraus war das “der” Tag von Worldwork für mich, jedenfalls thematisch. Am Vormittag war der für mich berührendste Moment, als ein Mann aus Kenia in der Mitte regelrecht zusammenbrach & nur noch von anderen gestützt seinen Schmerz ausdrücken konnte. Er sprach davon, dass er in seiner Heimat keine Möglichkeit hat, sein Potenzial zu entfalten. Kurz darauf meldete sich ein anderer Mann zu Wort und sagte, dass er an der Wall Street arbeitet und das erste Mal spüre, wie sich sein Tun auf andere auswirken kann. Dieser Mann sagte dann am Nachmittag in einer anderen Runde:

I know how need feels. I think I don’t know how love feels.

Das aus dem Mund eines Wall Street-Bankers zu hören war für mich ein Blick ganz in die Tiefe unserer menschlichen Misere. So wichtig es ist, das Wirtschafts_system_ zu ändern, so wichtig ist auch die Stimme unseres Herzens. Jedes einzelnen Herzens.

Am vierten Tag hatte ich mein persönlich tiefstes Erlebnis, ich wurde nämlich von einer Geisterrolle regelrecht “übernommen”. Wir hatten uns am dritten Tag intensiv auch mit dem Thema Rang beschäftigt, das ist kurz gesagt alles, worin Menschen in einer Situation einander nicht gleich gestellt sind. In jeder Beziehung haben Menschen in mancher Hinsicht höheren, in anderer niedrigeren oder auch gleichen Rang, sei es nun Geschlecht, Alter, sozialer Status, Einkommen/Vermögen, ethnische Zugehörigkeit usw. usf. Rang ist für mich als Anarchisten grundsätzlich ein sehr wichtiges Thema, aus genau diesem Grund streife ich es in diesem Beitrag nur, weil es einen eigenen braucht. Jedenfalls saß ich am Vormittag in der großen Gruppe, während die Facilitatoren das Thema & den Zeitplan vorstellten, & mir fiel wie Schuppen von den Augen, dass die Kinder in unserer Runde überhaupt nicht vertreten sind. Zum einen waren ganz einfach keine Kinder im Raum, und es hatte auch noch niemand die Stimme für sie erhoben. Nun hatte ich aber nicht bewusst beschlossen, dass ich diese Rolle übernehme, sondern ich spürte im ganzen Körper mit unheimlicher Kraft die Dringlichkeit, dass die Kinder gehört & gesehen werden wollen. Ich fing richtig an zu zittern & zwang mich, zu warten bis die Facilitatoren den Vormittag fertig vorgestellt hatten. Dann ging ich fast wie ferngesteuert in die Mitte & sagte den Facilitatoren, dass ich etwas für alle zu sagen habe. Dann hatte ich endlich das Mikrofon in der Hand & sagte, dass ich hier für die Kinder stehe & die Erwachsenen anflehe, dass sie sich ihres Rangs bewusst sein sollen. Wir Kinder kommen neu in diese Welt, die schon da ist, & die von den Erwachsenen gestaltet wurde. Neu geboren & völlig hilflos bleibt uns erst mal gar nichts anderes übrig als das zu akzeptieren. Und nur wenige Erwachsene, sowohl Eltern als auch alle anderen, die mit Kindern zu tun haben, sind sich dessen wirklich bewusst.

Es tat unheimlich gut, in dieser Rolle gehört zu werden. In der Folge waren die Kinder als Rolle im Gruppenprozess da & wurden immer wieder von wechselnden Menschen vertreten. In der Abschlussrunde, als all den verschiedenen Beteiligten gedankt wurde, die dieses Worldwork möglich machten, rannten die ganze Zeit zwei kleine Mädchen in der Mitte herum. <3

Ich könnte noch viel schreiben, mir kommt es für heute aber rund vor. Ich hoffe, damit habe ich euch einen (sehr subjektiven) Eindruck von Worldwork vermittelt.

Für mich persönlich hatte Worldwork noch einen weiteren wunderbaren Effekt, ich habe nämlich einen dritten besten Freund gewonnen. Simon, you’re my soulbrother!

Update: Gerade habe ich in Arnold Mindells Buch Sitting In The Fire erfahren, dass Kinder, die gegen Erwachsene rebellieren (vermutlich weil jene sich ihres Rangs nicht bewusst sind), sogar als psychisch krank diagnostiziert werden. Nach ICD-10 ist das die Diagnose Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3). Was in der ICD-10 eindeutig fehlt, ist die Diagnose “Störung des Sozialverhaltens aufgrund mangelnden Bewusstseins des eigenen Rangs”. Das ist eine Volkskrankheit…

Update vom 15.05.: Diese Kurzfassung von 5.000 Jahren europäischer Geschichte gibt einen Eindruck, wie komplex die ganze Angelegenheit ist: