Wir ziehen uns buchstäblich selbst den Boden unter den Füßen weg

Seit letztem Jahr bin ich Mitglied bei der neu gegründeten BioBoden Genossenschaft. Die hatte gestern ihre erste Generalversammlung. Obwohl das ja eigentlich eine tolle Initiative ist, bin ich ziemlich geplättet nach Hause gekommen (auch wegen der Hitze). Ich habe nämlich ein paar Fakten erfahren, die mich erschütterten. Zuerst lernte ich, dass es in Mitteleuropa 2.000 Jahre dauert, bis 10 Zentimeter fruchtbarer Boden entstanden sind. Als ich dann in einer Broschüre der Initiative Boden. Grund zum Leben. folgendes las, fühlte sich das an wie ein Schlag in die Magengegend:

In den vergangenen 40 Jahren ist durch Überweidung, Entwaldung und nicht nachhaltige Bodenbewirtschaftung bereits ein Drittel der weltweiten Ackerfläche unbrauchbar geworden.

Da ist die Megamaschine am Werk, die mitten dabei ist, sich selbst aufzufressen. Charles Eisenstein beschreibt das im siebten Kapitel mit einer chinesischen Sage:

Eine alte chinesische Sage mag helfen zu illustrieren, was da vor sich geht. Es gab ein Monster namens Tao Tie, so erzählt man sich, das einen unersättlichen Appetit hatte. Es verschlang jede Kreatur in der Nähe, ja sogar die Erde selbst – aber es war immer noch hungrig. Also begann es schließlich, seinen eigenen Körper zu fressen: die Arme, dann die Beine und dann den Rumpf, sodass nichts mehr übrig blieb, außer dem Kopf.

Ein drittes Zahlenverhältnis erfuhr ich im Interview mit Hans-Joachim Fuchtel in der gleichen Broschüre:

Der durchschnittliche Europäer beispielsweise nutzt für ganze 60 Prozent seines Konsums (Nahrung, Kleidung, Holz etc.) Böden außerhalb Europas, d.h. nur 40 Prozent unserer Bedürfnisse decken wir mit unserem eigenen Boden.

Kürzer und eindrücklicher kann man wohl nicht sagen, dass der Kolonialismus mit anderen Mitteln ungehindert weitergeht.

Könnt ihr nachvollziehen, dass ich manchmal verzweifle oder beinahe verrückt werde? Vor allem weil ich selber bei dem Ganzen immer noch mitmache, was in einer Stadt auch gar nicht anders geht?!

Im Bodenatlas 2015, den ich mir schon bei der Generalversammlung der GLS-Bank mitgenommen hatte, hatte ich schon erfahren, dass Städte und Tagebaue jeweils 1% der globalen Landfläche einnehmen – Tendenz steigend. Die Megamaschine auf dem Vormarsch.

In diesem Zusammenhang erinnere ich auch an den Artikel Der grüne Planet von vor 10 Jahren, wo es um die Wälder ging. Dort findet ähnlicher Raubbau statt.

Wenn ich mir das alles so anschaue, erscheint mir mein Beitrag bei der BioBoden Genossenschaft als ein Tropfen auf den heißen Stein; zumal mir klar ist, dass unser Geldsystem Raubbau belohnt und das Erhalten unserer Lebensgrundlagen bestraft. So lange sich da nichts grundlegend ändert, werden alle anderen Maßnahmen nur Tropfen auf den heißen Stein bleiben.

In solchen Momenten, da ich zu verzweifeln drohe, rettet mich oft eine Fußnote im Kapitel 8 der Ökonomie der Verbundenheit, hier erst mal der Absatz:

Die Menschheit geht gerade durch diese Initiation. Die vielfachen Krisen, die über uns hereinbrechen, sind eine Prüfung, die unsere Identität in Frage stellt. Wir wissen nicht einmal sicher, ob wir sie überleben werden. Sie fordert ungeahnte Fähigkeiten und zwingt uns, eine andere Art von Beziehung zur Welt zu finden. Die Verzweiflung, die sensible Menschen angesichts der Krise überkommt, ist Teil dieser Prüfung.

Und hier die Fußnote:

Eigentlich ist ja alles gut: Die Krise spielt eine evolutionäre Funktion. Aber lassen Sie das nicht Ihre Panik beschwichtigen. Alles ist gut, aber nur deswegen, weil wir wahrnehmen, dass alles furchtbar falsch läuft.

Der Absatz endet dann so:

Wie ein initiiertes Stammesmitglied werden wir uns als Menschheit – sofern wir die Probe überstehen – der Gemeinschaft aller Lebewesen anschließen und ein vollwertiges Mitglied im “Stamm des Lebens” sein. Mit unseren einzigartigen Fähigkeiten, der Technologie und der Kultur, werden wir zum Wohle aller beitragen.

Bis dahin gilt es, weiter die Spannungen auszuhalten.

Nachtrag: Ich kann erst jetzt so richtig würdigen, dass ich in meiner ganzen Kindheit & Jugend in einem Haus mit großem Garten gelebt habe, in dem meine Eltern Gemüse & Obst angebaut haben. An der Arbeit habe ich mich fast nicht beteiligt, aber immer gern den Salat (mit Schnittlauch & Petersilie), die Radieschen, den Rhabarber, die Zwetschen, Äpfel, Him- & Erdbeeren gegessen (Brom-, Johannis- & Stachelbeeren sowie Tomaten gab es auch, die moche ich als Kind aber nicht). So selbstverständlich wie ich damit aufgewachsen bin, war es seither für mich selbstverständlich, mir all mein Essen zu kaufen. Zunehmend wird mir weder das eine noch das andere mehr selbstverständlich, sondern eine bewusste Wahl. Und die Wahl, alles Essen zu kaufen, gefällt mir zunehmend weniger. In Leipzig hatte ich mir immerhin die (Un-) Kräuter für den grünen Smoothie in den letzten Jahren selber geerntet. In Berlin habe ich mir bisher noch keinen einzigen Smoothie zubereitet. Hmpf.

Nachtrag vom 31.08.: Heute beutelt es mich, die Tränen fließen. In der Kriegsenkelgruppe & anderswo habe ich oft erzählt, dass ich mit meiner Gemeinschaftsreise aus freien Stücken ein Schicksal gewählt habe, zu dem meine Eltern und Großeltern gezwungen wurden: ihre Heimat zu verlassen und ohne festen Wohnsitz umherzuziehen. Und dann habe ich jedes Mal dazu gesagt, ich habe diese Heimatlosigkeit für mich so gelöst, dass ich den ganzen Planeten Erde als meine Heimat empfinde. Was mich heute nun so erwischt hat: den ganzen Planeten als meine Heimat zu empfinden, erscheint mir nun doch sehr abstrakt. Und ich bin nach & nach in immer größere Städte gezogen; immer weiter weg vom Land, vom Boden. Aufgewachsen bin ich wie gesagt in einem Dorf in einem Haus mit großem Garten fast direkt am Waldrand. Dann bin ich nach Bielefeld gezogen, eine Stadt mit gut 300.000 Einwohnern, nach meiner Gemeinschaftstour dann zwischenzeitlich wieder sehr auf dem Lande angekommen in Jahnishausen. Das war aber nur ein kurzer Zwischenstopp, bis es dann nach Leipzig mit gut einer halben Million Einwohnern weiterging. Und jetzt sitze ich hier in der Millionenstadt Berlin, wo gegenüber gerade die Bautzener Brache plattgemacht und mit Häusern vollgestellt wird.

Ich habe im Moment fast keinen Bezug zu dem Boden, auf dem ich lebe & der mich mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Deshalb habe ich wohl eben, als ich auf den Seiten des Café Botanico surfte, tief in meinem Innersten berührt geweint.

Dazu trägt auch die Oya Ausgabe 40 bei, die ich im Vorfeld geschickt bekommen habe, weil ich am Wochenende nach Klein Jasedow zum Oya-Treffen fahre. In der ersten Geschichte dieser Oya bringt Werner Küppers vom Omnibus für direkte Demokratie das Bild “Geh nach Hause, und kümmere dich um die Bienen”. Ausgerechnet die Bienen, die meinen einen Großvater fast sein ganzes Leben begleitet haben und er sie als Imker. Ausgerechnet die Bienen, für die ich Lebenszeit-Mitglied im Mellifera e.V. geworden bin. Auch wieder so ein abstrakter, indirekter Bezug. Wieso habe ich noch keine Bienenkiste? Was hält mich ab? Was hält mich davon ab, beim interkulturellen Garten Rosenduft im Gleispark mitzumachen?

Und vielleicht behagt mir Wellness auch deshalb nicht, weil ich es so deutlich als schalen Ersatz wahrnehme. Kein Spa, keine Massage dieser Welt kann den eigenen Garten ersetzen. Jetzt wo ich es hinschreibe, spüre ich, dass das stimmt.

Nicht ohne Grund höre ich, während ich das schreibe, die Musik aus dem Beitrag meine Wurzeln im Osten. Denn wenn ich an diese Wurzeln denke, geht es unweigerlich um den Boden, der mich und uns ernährt.

Nachtrag vom 31.12.2018: Wir sind kollektiv bescheuert – und suizidal. Siehe auch Humusrevolution – Wie wir den Boden heilen, das Klima retten und die Ernährungswende schaffen können und Aufbauende Landwirtschaft – Boden wieder gut machen. Methoden einer regenerativen Agrarkultur.

Nachtrag vom 07.06.2019: Schon im Jahr 2015 sagte Maria Helena Semedo von der Welternährungsorganisation, dass uns weltweit nur noch etwa 60 Ernten bleiben, wenn wir der massiven Bodenerosion und -verschlechterung durch die industrielle Landwirtschaft nicht entschieden entgegensteuern.