Corona: Die Einhegung der Allmende auf Steroiden

In diesem Blog geht es seit langem immer wieder um das Gemeinschaffen, das Commoning. Nun haben die Commons bzw. auf deutsch Allmenden eine lange Geschichte der Einhegung hinter sich. Das fing mit den allerersten Staaten an, was sich bei James C. Scott nachlesen lässt, kam mit der Enclosure Movement in England zu einem ersten Höhepunkt und wurde in späteren Phasen in Karl Polanyis Werk The Great Transformation dokumentiert.

Einhegung heisst nichts anderes, als dass die ursprünglichen Beziehungen des Gemeinschaffens aufgebrochen und in eine abstrakte Marktbeziehung unter Aufsicht eines (ab der Industrialisierung bürgerlichen) Staates verwandelt wurden. Das ging einher mit immer stärkerer Individualisierung und Vereinzelung der Menschen und mit einem immer schärferen Konkurrenzkampf, bei dem die Solidarität der Menschen zusammen mit der Allmende immer weiter zurück gedrängt wurde.

Die Corona-Krise beschleunigt diesen Prozess gerade massiv durch das von allen Seiten propagierte Social Distancing. Alle hocken nur noch vereinzelt in ihren Privatwohnungen, der öffentliche Raum ist faktisch nicht mehr existent. Im Internet stecken ja auch alle nur noch in ihren persönlichen Filterblasen.

Das Lied “Every Home A Prison” von Coldcut und Jello Biafra ist jedenfalls gerade erschreckend aktuell.

Wie soll mensch da noch mit anderen zusammen Gemeinschaffen? Die Keimform-Leute basteln gerade an einer Software für ununterbrochenes Commoning. Bin gespannt was dabei herauskommt (mehr dazu auch beim Wandelbündnis).

Inspiriert zu diesem Blogbeitrag hat mich Charles Eisensteins Essay The Coronation. Er stellt darin die Frage

COVID-19 wird irgendwann abebben, aber die Bedrohung durch ansteckende Krankheiten wird bleiben. Unsere Antwort wird den Kurs für die Zukunft bestimmen. Das öffentliche Leben, das gemeinschaftliche Leben und das Leben gemeinsamer Körperlichkeit ist schon seit einigen Generationen im Schwinden begriffen. Statt in Geschäften einzukaufen, lassen wir uns Sachen nach Hause liefern. Statt Rudeln von Kindern, die draußen spielen, haben wir Play Dates und digitale Abenteuer. Statt des öffentlichen Platzes haben wir ein Online-Forum. Wollen wir fortfahren uns noch weiter voneinander und von der Welt zu isolieren?

Und weiter:

Wollen wir uns, um das Risiko einer weiteren Pandemie zu senken, dafür entscheiden, für immer in einer Gesellschaft ohne Umarmung und Händeschütteln zu leben? Wollen wir uns dafür entscheiden, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir uns nicht mehr in größerer Zahl versammeln? Soll das Konzert, das Sportereignis und das Festival der Vergangenheit angehören? Sollen Kinder nicht mehr mit anderen Kindern spielen? Soll aller menschlicher Kontakt durch Computer und Gesichtsmasken vermittelt werden? Kein Tanzunterricht, kein Fußballtraining, keine Konferenzen und keine Kirchenbesuche mehr? Soll die Reduzierung der Todesfälle der Maßstab sein, an dem der Fortschritt gemessen wird? Heißt menschliche Fortentwicklung Getrenntheit? Ist das die Zukunft?

Zugleich bietet diese Krise eine noch nie da gewesene Chance:

Was kann uns als Einzelne und als Gesellschaft leiten, die wir durch diesen Garten sich verzweigender Wege gehen? An jeder Wegkreuzung können wir uns bewusst machen, wovon wir uns leiten lassen: Angst oder Liebe? Selbstschutz oder Großherzigkeit? Sollen wir in Angst leben und eine darauf basierende Gesellschaft errichten? Sollen wir leben, um unsere abgetrennten Egos zu wahren? Sollen wir die Krise als Waffe gegen unsere politischen Feinde nutzen? Dies sind keine alles-oder-nichts-Fragen, nur Angst oder nur Liebe. Sondern ein nächster Schritt in Richtung Liebe liegt vor uns. Er fühlt sich wagemutig an, aber nicht leichtsinnig. Er umspannt die Wertschätzung des Lebens und zugleich die Anerkennung des Todes. Er kommt aus dem Vertrauen darauf, dass mit jedem neuen Schritt der nächste sichtbar wird.

Nachtrag vom 08.04.: Nun ist endlich die deutsche Übersetzung von Charles Eisensteins großartigem Essay erschienen: Die Krönung. Deshalb ersetze ich die Zitate oben durch die deutsche Version. Und Bruno Latour stellt Fragen für eine umfassende Bestandsaufnahme, wie wir nach der Krise leben wollen.

Nachtrag vom 14.09.: Die Corona-Proteste um die Commons-Perspektive ergänzen.

Nachtrag vom 18.11.: Sehr wichtiger Vortrag von Daniele Ganser über die verschiedenen Arten von Corona-Angst; bei mir überwiegt bisher die Diktatur-Angst. Besser ist es in jedem Fall, sich nicht von Angst welcher Art auch immer leiten zu lassen.

Nachtrag vom 14.01.2021: Nach langer Pause lese ich gerade in Miki Kashtans Artikelreihe Apart and Together weiter. Im Teil Reengaging with the Full Range of Our Emotions schreibt sie

This, then, is how we came into the pandemic: isolated, stressed, and powerless. Already in epidemic levels of anxiety, depression, and suicide. Many more of us than ever before living alone, separate from others, passively watching events and stories happening elsewhere. Then, in much of the world, the response to the Coronavirus has only intensified both the stressors and the isolation. As with so much else I have explored, this makes more visible and stark the conditions that have already been unsustainable for human life. We are social creatures, requiring touch and communion to thrive. In most of our time on this planet, we lived in small bands, moving around together. Even after settling down, we still mostly lived in small communities where we knew everyone, and where we leaned on each other for material, emotional, and spiritual needs. We are made weaker, less able to meet the challenges of life, and less capable of wisdom, when we are separated from each other.

Nachtrag vom 02.02.2021: Michael Wengraf bringt es im Telepolis-Interview auf den Punkt:

[Das neoliberale Programm] beginnt im Wien der Zwischenkriegszeit mit den ideologischen Stammvätern des Neoliberalismus Ludwig Mises und Friedrich Hayek. Sie entwarfen eine Strategie, wie Marktliberalismus, Deregulierung, Sozialabbau und Austerität nicht nur in die Praxis umgesetzt werden, sondern auch die Köpfe der Menschen bestimmen. Das wurde später kontinuierlich weiterentwickelt. Und hier sind wir beim “Masterplan”.

Inwiefern nützt Corona dieser Art Politikumstellung?

Auf vielfache Weise. Zum Beispiel, indem Kommunikation und Kollektivität verhindert werden. Orte der Zusammenkunft gibt es kaum mehr, kleine Gaststätten, Kaffeehäuser und Bars sind - und bleiben wahrscheinlich! - geschlossen. Homeoffice und Homeschooling atomisieren die Menschen und verhindern gemeinsamen Widerstand. Außerdem werden im Zuge der Covid 19-Maßnahmen Klein- und Familienbetriebe im Interesse der großen, globalen Akteure beseitigt. Lockdowns überleben die meisten von ihnen ja nicht. Hier wird also ein der “Rechten Revolution” eingeschriebener Vernichtungskrieg vollendet.

Weiter unten:

Der autoritäre Neoliberalismus ist eine neue Form des Totalitarismus, die weitgehend unsichtbar bleibt.

Sie ist vor allem gekennzeichnet durch Demobilisierung, Herbeiführen von Unsicherheit, Angst und Apathie. Staat und Gesellschaft sind der Wirtschaft, will heißen dem Profitinteresse, strikt untergeordnet. Darüber hinaus gibt es offene und stille Gewalt gegen Dissidenten wie Edward Snowden oder Julian Assange sowie eine verdeckte, aber vollkommene Einschränkung des Meinungsspektrums.

Entscheidungen werden meist jenseits aller Kontrollen getroffen, und dies angesichts einer grundsätzlich apathischen Bevölkerung. Dieser umgekehrte Totalitarismus, übt, so der Politikwissenschaftler Sheldon S. Wolin, eine totalitäre Gewalt aus, ohne Konzentrationslager zu errichten, ideologische Einheitlichkeit zu erzwingen oder die Dissidenten gewaltsam zu unterdrücken. Zumindest solange sie unwirksam bleiben. Das ist allen offen autoritären Bestrebungen überlegen.