China ist... anders

Zu Beginn dieses Beitrags bekenne ich, dass ich von China bisher kaum eine Ahnung hatte und zu großen Teilen westlicher Propaganda aufgesessen war (dies gilt insbesondere für meine bisherige Einschätzung des chinesischen Social Credit Systems). Auch jetzt fange ich gerade erst an, mich vorsichtig in die chinesische Kultur einzuschwingen, so weit mir das hier aus der Ferne überhaupt möglich ist. Deshalb danke ich all den Menschen, die viel tiefer eingetaucht sind und ihre Erlebnisse und ihr Wissen weitergeben in Sprachen, die ich verstehe.

Je mehr ich mich nun damit beschäftige, um so deutlich wird mir, dass die chinesische Kultur schon vor Jahrtausenden an einigen Weggabelungen anders abgebogen ist als die indoeuropäische Kultur. Deshalb die Überschrift.

Und weil wir hier von einer jahrtausendealten, sehr weit entwickelten Kultur reden, kann ich in diesem Beitrag nur anreißen, was es da zu entdecken gibt. Es ist für mich der Beginn einer sicherlich noch langen und weiten, auf jeden Fall faszinierenden Reise.

Ach ja, im Zuge dieses Beitrags habe ich rückwirkend ein neues Tag “China” im Blog eingeführt.

Daoistisch, praktisch, gut

Diese Reise begann für mich, wenn ich mich recht entsinne, schon während meiner Ausbildung in Prozessorientierter Psychologie. In dieser Zeit las ich natürlich auch verstärkt Bücher von Arnold Mindell, darunter sein erstes Buch zur Prozess-Theorie River’s Way: The Process Science of the Dreambody (die deutsche Übersetzung “Traumkörper-Arbeit oder Der Weg des Flusses” ist nur noch antiquarisch erhältlich). Darin geht er auf den Daoismus als voll entwickelte Prozesstheorie ein, die somit eine wesentliche Wurzel der Prozessorientierten Psychologie bildet. Deren Ansatz lässt sich sehr kompakt in dem Satz zusammenfassen

Follow nature.

was zugleich auch als Ultrakurzzusammenfassung des Daodejing durchgeht.

Eben jenes Daodejing habe ich in Gestalt der 3bändigen Studien zu Laozi Daodejing von Viktor Kalinke (fast vollständig) durchgelesen:

  1. Originaltext und Übersetzung sowie ein vollständiges Zeichenlexikon
  2. Anmerkungen und Kommentare: Tiraden der Vieldeutigkeit, Daoistische Wurzeln systemischen Denkens
  3. Nichtstun als Handlungsmaxime. Zur Rationalität des Mystischen. Essay

Dabei habe ich mich nicht an die Reihenfolge gehalten; zuerst habe ich den eigentlichen Text in Band I gelesen, dann aber zunächst den 2. Band übersprungen, weil der sehr ins Detail geht. Band 3 gibt dem gegenüber einen Überblick über die Entstehungsgeschichte und den historischen und geistesgeschichtlichen Kontext. Erst zum Schluss habe ich den 2. Teil von Band 2 gelesen. Der erste Teil “Tiraden der Vieldeutigkeit” geht mir zu sehr in die Details der chinesischen Sprache, als dass ich dem folgen könnte. Vielleicht kommt das noch irgendwann später; fürs erste habe ich diesen Teil ausgelassen.

Besonders spannend fand ich im 3. Band die Information, dass es in der chinesischen Geschichte häufige Volksaufstände gegeben hat, die gelegentlich sogar einfache Bauern zum neuen Kaiser machten. Philosophisch hatte das u.a. den Hintergrund, dass der chinesische Kaiser zwar als himmlischer Herrscher galt, als solcher dennoch dem Himmel und zuletzt dem Dao untergeordnet war. Anders als die europäischen Herrscher “von Gottes Gnaden” konnte das Volk immer noch kritisch beäugen, ob der Kaiser wirklich der himmlischen Ordnung diente oder aus ihr herausgefallen war; dann konnte er gestürzt werden.

Dieses Motiv fand ich später in Fabian Scheidlers Buch Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen wieder (er hat davor auch schon Das Ende der Megamaschine geschrieben). Er bestätigt darin, dass anders als in Europa in China die meisten Volksaufstände erfolgreich waren, was dazu führte, dass die Herrscher sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen können mit autoritärer Politik, die den Interessen des Volkes zuwider läuft.

Ein anderer fundamentaler Unterschied zwischen der chinesischen und der indoeuropäischen Kultur findet sich im 3. Band von Viktor Kalinke:

Erst später kam in den indoeuropäischen Kulturen die Vorstellung vom Schöpfergott auf. Der Glaube an einen transzendenten Gott, der die Erde und das Leben geschaffen habe, beruht auf der Fähigkeit zum Staunen. Was nicht nachvollzogen werden konnte, wurde in anthropomorpher Umschmelzung als Tat betrachtet: denn zu einem “Geschöpf”, suggerieren die indoeuropäischen Sprachen, gehört ein “Schöpfer”. Und weil zu solcher Großtat nur eine übermächtige Person in der Lage sein könne, kann sie nur in einem Wort, in einem Befehl bestanden haben. […]

In China fehlt die Vorstellung vom Schöpfergott und alle Versuche der jesuitischen Missionare, ihn in die chinesischen Klassiker hineinzulesen, können als gescheitert gelten. Der Grund liegt darin, dass die Chinesen sehr früh – lange vor dem Aufkommen des Daoismus – im Dao ein Symbol für die immanenten Abläufe in der Natur gefunden hatten, das sie – so glaubten und glauben sie bis heute – auf die Vorgänge in der menschlichen Gesellschaft übertragen können.

Immanenz und Transzendenz – diese beiden Pole charakterisieren den Unterschied zwischen chinesischen und indoeuropäischen Denkmustern am treffendsten. Für die Indoeuropäer gibt es außerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Welt eine höhere Wirklichkeit, die sie nicht genau kennen können, aber auf die sie sich ständig berufen, um ihr Handeln zu legitimieren. Für die Chinesen gibt es nur eine Welt, innerhalb derer sich alles entwickelt. Ihr wohnt das Dao inne, das Anzeichen über den potentiellen Entwicklungsverlauf verrät. Jeder Versuch, die Chinesen mit einer transzendenten Göttervorstellung zu missionieren, ist an ihnen abgeprallt und gilt ihnen – zu Recht – als “barbarisch”, d.h. sie zeugt von ungenügender Einsicht in die Abläufe dieser Welt. Es handelt sich um zwei gegenläufige Geistesbewegungen: Während die Indoeuropäer ihre subjektiven Launen und Ideen in die höhere Wirklichkeit der Götterwelt hineinspiegeln, holen die Chinesen die Einsicht in die natürlichen Entwicklungswege vom Himmel hinunter, um sie auf der Erde anzuwenden.

An diese fundamental andere Sichtweise als die europäische muss ich mich erst langsam gewöhnen; sie fasziniert mich auf jeden Fall.

Als Appetitanreger stellt der Verlag ein Essay von Viktor Kalinke zur Verfügung, Nichtstun als Handlungsmaxime. Deutungsvarianten im 1. Kapitel des Daodejing.

Als weiteres Buch von Kalinke steht schon Zhuangzi. Das Buch der daoistischen Weisheit im Regal und wartet darauf, von mir gelesen zu werden (ich habe die Reclam-Ausgabe, es gibt auch eine Ausgabe inklusive des chinesischen Originaltextes für den vierfachen Preis).

Wer statt zu lesen lieber Vorträge hört, der empfehle ich Hannes Fellners Vorträge bei der Gesellschaft für dialektische Philosophie. Angefangen habe ich mit Klassenkampf im antiken China. Sozialphilosophische Grundlagen des Daodejing von April diesen Jahres. Darin wurde ich dann aufmerksam auf den Vortrag Die Dialektik des Dao. Philosophische Grundlagen des Daodejing von vor einem Jahr. Diese Reihenfolge ist gar nicht so verkehrt, der neuere Vortrag eignet sich m.E. besser als Einstieg.

Womit ich mich bisher noch nicht ernsthaft befasst habe, weil ich noch keinen richtigen Zugang dazu gefunden habe, ist das I Ging, das ich in der klassischen Übersetzung von Richard Wilhelm habe. Auch die Schafgarbenstengel liegen noch unbenutzt rum; Orakeln ist offenbar nicht so meins.

Sozialismus auf Chinesisch

Ein weiterer Text, der mir China näher gebracht hat, sind die 34 Seiten Ein nicht-eurozentristisches politisches China-Brevier von Beat Schneider. Darauf wurde ich wiederum aufmerksam im Artikel Planvolle Gestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung Chinas: Nationaler Volkskongress stimmt 14. Fünfjahresplan zu über den dortigen Link zum Artikel Die Volksrepublik China und der Sozialismus der Schweizer Kommunisten (was es nicht alles gibt!).

Was mir darin besonders deutlich wurde, ist, dass entgegen der westlichen Propaganda die chinesische Führung sehr wohl am Sozialismus festhält und diesen weiterentwickeln will. Kostprobe:

Der Entscheid für eine ‘sozialistische Marktwirtschaft’ wurde und wird in China nicht als ein Systementscheid betrachtet. Marktwirtschaft sei nicht identisch mit Kapitalismus, und die «sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung» werde nicht durch eine unsichtbare Hand gelenkt, sondern durch eine recht deutlich sichtbare von der KP China gesteuerte staatliche Hand und sie werde einer recht rigiden gesetzlichen Marktkontrolle unterzogen.

Ein Beispiel dafür ist das rigorose Durchgreifen der KP Chinas gegen Alibaba. Weiter im Text:

Das Festhalten am Kommunismus als «höchstem revolutionärem Ideal» und «endgültigem Ziel» ist ein Teil der chinesischen Supraplanung. In der chinesischen Verfassung steht: «Das höchste Ideal des Kommunismus, das die Kommunisten anstreben, kann nur auf der Grundlage der vollen Entwicklung und des hochgradigen Gedeihens der sozialistischen Gesellschaft realisiert werden.» Mao Zedong meinte, dass sich der Kommunismus allerdings nur und erst von der ganzen Menschheit verwirklichen lasse. «Wenn es so weit ist, dass die ganze Menschheit sich selbst und die Welt bewusst umgestaltet, dann wird die Epoche des Kommunismus in der ganzen Welt erreicht sein.»

Gerade das ist auch der Grund, warum China speziell für die USA, aber generell für den kapitalistischen Westen zur Gefahr geworden ist, denn damit bietet China eine echte Systemalternative.

Auch mein Bild von der Kommunistischen Partei Chinas ist durch Beat Schneider klarer geworden:

In der VR China hat die gesamte politische Willensbildung gemäss Verfassung grundsätzlich innerhalb der KP China zu erfolgen. Man muss sich die grösste Partei der Welt mit ihren rund 90 Millionen Mitgliedern als eine grosse Bevölkerung vorstellen, die mehr als zehn Mal grösser ist als diejenige in der Schweiz. In einem solchen Gebilde, das nur schon wegen seiner Grösse nicht monolithisch sein kann, geschweige denn wegen der vielen, zum Teil disparaten Interessen, in einem solchen Gebilde gibt es selbstverständlich eine Vielzahl von verschiedenen, miteinander sich streitenden Strömungen. Die politische Debatte mit der Opposition findet gewissermassen innerhalb dieses Riesengebildes statt. Peter Achten meint: «Es gibt laut glaubwürdigen Quellen innerhalb der Partei bis zu einem gewissen Punkt Diskussionen um Meinungsverschiedenheiten. Nach einem einmal gefällten Entscheid allerdings ist die Diskussion beendet.»

Der chinesische Weg als Alternative zum westlichen Kapitalismus spielt auch eine Rolle in Werner Rügemers Buch Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, das ich allerdings erst angefangen habe. Schon nach den ersten Kapiteln kann ich eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen, das Buch ist eine Fundgrube an Informationen.

Strategeme: Die Kunst der List

Noch ein anderer Aspekt der chinesischen Kultur wurde mir nähergebracht, indem ich Harro von Sengers Buch Die Kunst der List. Strategeme durchschauen und anwenden geschenkt bekam. Es ist eine Einführung in die 36 Strategeme, über die er auch ein viel dickeres gleichnamiges Buch geschrieben hat. Worum geht es?

Die Beschäftigung mit der chinesischen Listweisheit vermittelt westlichen Menschen etwas für sie ganz Neues, nämlich einen Gesamtüberblick über die Ressource List. Der krampfhafte, zum Scheitern verurteilte westliche Versuch, die Welt als einen geordneten, übersichtlichen und durch Eindeutigkeit geprägten Raum zu denken, wird freilich gründlich infrage gestellt. Wenn man grundsätzlich die List als einen integralen Bestandteil menschlichen Lebens anerkennt, ergibt sich die in der Tat zunächst einmal verunsichernde Einsicht in die Vieldeutigkeit und Unübersichtlichkeit humaner Dinge. Die Welt wird etwas verwickelter als es der westliche Glaube an das Licht einer eindimensionalen Vernunft, das angeblich keine Schattenreiche unausgeleuchtet lässt, wahrhaben will. Westliche Selbstherrlichkeit, die nicht daran zweifelt, die Erde dank routinemäßiger Rationalität im Griff zu haben, erkennt eine ihrer Achillesfersen – die eigene Listblindheit.

Das Anwenden und das Durchschauen von List haben im Reich der Mitte seit alters einen viel höheren Stellenwert als in Europa. Da in China die List unbefangen betrachtet wird, haben Chinesen jahrtausendelang vergleichsweise vorurteilsfrei über sie nachdenken können und vor etwa einem halben Jahrtausend die wichtigsten im Laufe der Zeit erprobten Listen im Katalog der 36 Strategeme benannt, zusammengestellt und numeriert. Aus nur 138 Schriftzeichen bestehend, kristallisiert dieses ABC der List jahrtausendealte, weltweit gültige Erfahrungen im trickreichen Umgang mit prekären Situationen aller Art. Keine andere Kultur der Welt verfügt über eine vergleichbare Listenliste. Das Außergewöhnliche daran sind die wertfreien Formulierungen der 36 Listtechniken und die durch deren Zusammenstellung ermöglichte grandiose Gesamtschau der List in all ihrer Vielschichtigkeit.

Dieser Spur werde ich auf jeden Fall weiter folgen. Auch für meine neue Rolle als Geschäftsführer kann das ganz bestimmt nicht schaden.

Ein weiteres Buch von Harro von Senger steht ebenfalls schon in meinem Regal, Meister Suns Kriegskanon. Der Titel ist vermutlich geläufiger in der Formulierung Die Kunst des Krieges.

Noch umfassender als die Strategemkunde ist Moulüe - Supraplanung. Mal sehen wann ich dazu komme, mich damit auch noch zu beschäftigen. Für Geschäftsführer ist es bestimmt ebenfalls sehr lohnende Lektüre…

Senger äußert sich übrigens auch immer wieder zur Menschenrechtsfrage, wie aus seinem Wikipedia-Artikel hervorgeht:

Neben der Menschenrechtsgeschichte beschäftigt er sich auch mit sinomarxistischen und weitgehend auf UNO-Dokumente abstellenden Menschenrechtspositionen der chinesischen Regierung und weist darauf hin, dass die Volksrepublik China auf globaler Ebene im Rahmen der Vereinten Nationen, namentlich im UNO-Menschenrechtsrat in Genf, eine starke Position einnehme, eine Tatsache, mit der man sich im Westen kaum auseinandersetze.

Er macht ferner darauf aufmerksam, dass westliche Staaten und die Volksrepublik China im Menschenrechtsrat in einer Mehrzahl von inhaltlichen Menschenrechtsfragen übereinstimmende Positionen verträten. Die recht grosse chinesisch-europäische Schnittmenge an gemeinsamen Menschenrechtspositionen scheinen aber laut Senger europäische Staaten ihren Völkern gegenüber geheim zu halten. In ihren Menschenrechtsverlautbarungen würden diese Staaten ihren Völkern den Anschein vorspiegeln, zwischen europäischen und chinesischen Menschenrechtspositionen gebe es einzig und allein eine gewaltige Kluft, welche europäische Staaten mühsam zu überbrücken hätten.

China geopolitisch

Noch ungelesen steht in meinem Regal das Buch Das chinesische Jahrhundert von Wolfram Elsner.

Geopolitisch finde ich es höchst bedeutsam, dass China und Russland schon seit mehreren Jahren an einem eigenen Zahlungssystem arbeiten, um sich damit vom EU-basierten SWIFT (das eng mit US-Geheimdiensten kooperiert und auf deren Wunsch auch schon mal Transaktionen sperrt) unabhängig zu machen. Darüber schweigen sich die westlichen Leitmedien aus; Russia Today informiert über den aktuellen Stand des Projekts.

Ein anderes geopolitisches Thema sind die mutmaßlichen chinesischen Menschenrechtsverletzungen an Uiguren in Xinjiang (an dieser Stelle gilt wieder die Propaganda-Warnung für Wikipedia). Hier greift mal wieder die typische westliche Doppelmoral “gute Islamisten” vs. “böse Islamisten”. Die Islamisten in Xinjiang sind “gute Islamisten”, denn sie richten sich gegen China, so wie die in Tschetschenien gegen Russland oder die in Syrien gegen Assad. Den Syrien-Vergleich bringt auch direkt der Artikel Der Konflikt in Xinjiang und seine Entstehung im InfoSperber:

Die chinesische Regierung befürchtet, dass in Xinjiang ein syrisches Szenario entstehen könnte. In Syrien hatten die Saudis zusammen mit Katar und den NATO-Staaten eine vorerst friedliche Protestbewegung für ihre Zwecke benutzt und einen bewaffneten Aufstand unterstützt, der einen nunmehr seit zehn Jahren anhaltenden Bürgerkrieg zur Folge hat.

Und er spricht die Doppelmoral direkt an:

Über solche chinesischen Befürchtungen informieren unsere Medien kaum. Dieselben Schweizer Zeitungen, die keinen investigativen Aufwand scheuen, um eine «islamistische Gefahr» in Winterthur oder sonstwo ausfindig zu machen und jede Dschihadistin wie eine Stecknadel im Schweizer Heuhaufen suchen, haben es nie für nötig befunden, über den Terror uigurischer Extremisten in Xinjiang mehr als ein paar Worte zu verlieren.

Die uigurischen Islamisten werden u.a. von Erdogans türkischer Regierung unterstützt:

1995 weihte Recep Tayyip Erdogan, damals Bürgermeister von Istanbul, in einer Ecke des Parks der Blauen Moschee ein kleines Denkmal ein. Der Ziegelstein-Obelisk trägt eine Plakette, auf der zu lesen ist: «Zu Ehren der Märtyrer von Ostturkestan». Ostturkestan ist der Name, den uigurische Aktivisten der chinesischen Provinz Xinjiang geben. Das Denkmal erinnert an Isa Yusuf Alptekin, den Gründungsvater der separatistischen Uiguren-Bewegung. Alptekin stand während des Bürgerkrieges auf Seiten von Tschiang Kai Schecks Kuomintang, die von den USA militärisch und finanziell unterstützt wurde, um einen Sieg der Kommunisten zu verhindern. 1949 marschierten Mao Tse-tungs Rotarmisten in Xinjiang ein, ohne dass ein Schuss fiel. Die Kuomintang-Truppen liefen praktisch geschlossen über zur kommunistischen Volksarmee. Alptekin floh in die Türkei.

Dessen Sohn Erkin Alptekin lebt übrigens in Würzburg.

Und natürlich mischen die USA kräftig mit:

Seit der Machtübernahme von Mao Tse-tung haben die USA versucht, ethnische Minderheiten im Widerstand gegen die kommunistische Regierung in Peking zu organisieren, vor allem in Tibet, Nordburma und in Xinjiang. Diese Versuche schwankten – je nach politischer Grosswetterlage – in Intensität und Entschlossenheit. Ziel war jedoch stets und ist bis heute die Destabilisierung Chinas und ein Regime Change in Peking.

Ein interessantes Detail:

Der erste Agent der damals neu gegründeten Central Intelligence Agency (CIA), der in Ausübung seiner Tätigkeit ums Leben kam, war Douglas Seymour Mackiernan. Er wurde 1950 bei dem Versuch, von Xinjiang nach Tibet einzureisen, erschossen. Der US-Luftwaffenoberst hatte zuvor im Grenzgebiet von Xinjiang ein System von hochsensiblen Mikrophonen installiert, die die Schallwellen atomarer Explosionen auffangen und den Testort annähernd lokalisieren konnten. Mit Hilfe dieses Systems und der Messungen der Luftradioaktivität in der Region kamen die USA im August 1949 zu der Erkenntnis, dass die Sowjetunion in Kasachstan ihre erste Atombombe gezündet hatte.

Den Artikel über Mackiernan gibt es in der Wikipedia nur auf Englisch, Russisch und Chinesisch. ;-)

Nun ist auch nicht alles eitel Sonnenschein in Xinjiang:

Tatsächlich strömten mit der steigenden Nachfrage nach Arbeitskräften sehr viele Han-Chinesen nach Xinjiang, so dass sich die Bevölkerungsstruktur zu Ungunsten der Uiguren verschiebt. Bei der Arbeitssuche sind Uiguren häufig benachteiligt, weil sie nicht gut chinesisch sprechen. Wirtschaftlich und gesellschaftlich geben Han-Chinesen immer stärker den Ton an. Verteidiger der Minderheiten- und Menschenrechte sehen die Uiguren wohl mit Recht in Bedrängnis.

Aber:

Uigurische Aktivisten und mit ihnen die US-Regierung verbreiten, in Xinjiang werde die uigurische Kultur systematisch ausgelöscht und es fände ein Genozid statt. Das ist eine masslose Übertreibung und Verniedlichung der tatsächlichen Genozide. Völkermorde gab es im Zweiten Weltkrieg, während dem rund sechs Millionen Juden sowie Zehntausende Sinti und Roma ermordet wurden, oder 1994 in Ruanda, wo die Hutu etwa 800’000 Tutsi umbrachten.

In Xinjiang gibt es keine Anzeichen eines Massakers. Auch für systematische, organisierte Vergewaltigungen und Folterungen in den geschlossenen Uiguren-Camps gibt es keine überzeugenden Indizien, geschweige denn Beweise. Das schliesst nicht aus, dass es in Einzelfällen zu grobem Fehlverhalten gekommen ist und kommt.

Zu den Fotos von angeblichen Umerziehungslagern siehe Xinjiang offers real-site photos to debunk satellite images ‘evidence’ of ‘detention centers’.

Zur weiter oben erwähnten Kuomintang liefert der englischsprachige Artikel They were CIA-backed Chinese rebels. Now you’re invited to their once-secret hideaway aufschlussreiche Hintergründe. Die Kuomintang war in den 30er und frühen 40er Jahren des 20. Jahrhunderts der Gegner der Kommunistischen Partei Chinas. Sie zog sich 1949 nach Gründung der Volksrepublik China nach Taiwan zurück und stellte dort bis 1991 die Einparteienregierung; allerdings flohen einige Einheiten stattdessen nach Birma (dieser Wikipedia-Artikel ist erfrischend antiimperialistisch). Von denen handelt der Artikel. Wie Wikipedia schon schreibt

Bis zur Mitte der 1970er-Jahre soll die KMT in Birma etwa 80 % der Opiumproduktion im Goldenen Dreieck kontrolliert haben.

Auch dabei hat die CIA natürlich kräftig mitgemischt.

Die Tibet-Frage habe ich dabei bisher noch gar nicht berührt; die CIA hat jedenfalls auch dort auf Seiten der Tibeter interveniert, was die Sachlage nicht einfacher macht.

Für den sehr weiten Überblick stehen in meinem Regal die beiden Geschichtsbücher Das alte China sowie Das neue China, jeweils von Helwig Schmidt-Glintzer. Das “alte China” reicht dabei bis ins 19. Jahrhundert.

Licht und Schatten in einem sehr komplexen Land

Bei allem neuen Interesse an China sehe ich auch, dass dort – wie überall in der Welt der Erscheinungen – einiges im Argen liegt. Die auf Hochtouren betriebene Industrialisierung Chinas betrachte ich mit Sorgen. In einer Doku habe ich erfahren, dass China in den letzten Jahren 10-15 neue Flughäfen pro Jahr gebaut hat und immer noch baut! Anderswo hörte ich von 50 (!) neuen Kohlekraftwerken im Jahr, also fast jede Woche geht ein neues ans Netz. Da verwundert es nicht, dass Chinas jährlicher Ausstoß von Treibhausgasen erstmals die Emissionen aller entwickelten Länder zusammen übersteigt (wobei ich bekanntlich Charles Eisenstein darin folge, Treibhausgase nur als ein zweitrangiges Problem zu betrachten). In der Hinsicht kann ich China nicht wirklich als ein Vorbild sehen.

Auf der anderen Seite sticht China durch groß angelegte Aufforstungsprojekte hervor, was u.a. dazu geführt hat, dass es in Beijing inzwischen so gut wie keine Sandstürme mehr gibt.

All diese Beobachtungen kommen mindestens aus zweiter Hand zu mir; mir fehlt für China so jemand wie Thomas Röper, der in Russland lebt und vor Ort berichten kann, was dort abgeht. Wenn du so jemand kennst, sei es deutsch- oder auch englischsprachig, dann freue ich mich sehr über einen entsprechenden Hinweis.

Aus diesem Grund habe ich auch mit großem Interesse Fefes China-Reisebericht von April 2019 gelesen; er hat eine Woche später noch mal nachgelegt. Darüber hinaus hat er auch in Alternativlos Folge 43 von seiner China-Reise erzählt.

Und dann gibt es ja auch noch von Chinesinnen geschriebene Romane. Die Republik empfiehlt «Weiches Begräbnis» von Fang Fang, wobei sie zunächst die Erwartungen dämpft:

Ein einziges Buch lesen und damit 1,4 Milliarden Menschen, 5000 Jahre Kultur­geschichte und eines der wider­sprüchlichsten politischen Systeme der Gegenwart begreifen?

«Wer China verstehen will, sollte diesen Roman lesen» – so bewirbt der Verlag die deutsche Übersetzung des Romans «Weiches Begräbnis» der chinesischen Autorin Fang Fang. Man kann das als klares Angebot verstehen, ein sehr europäisches Bedürfnis zu befriedigen: sich bitte so wenig wie möglich mit China beschäftigen zu müssen – und doch möglichst viele einfache Antworten zu bekommen.

Es klingt durchaus vielversprechend:

Zugleich aber ist Fang Fang eine Autorin, die dafür bekannt ist, in ihren Büchern äusserst kritisch die soziale Ungleichheit und die ideologischen Widersprüche der Volks­republik zu analysieren. Dabei drängt sie immer wieder auf die Aufarbeitung der zahlreichen nationalen Traumata des chinesischen 20. Jahr­hunderts, die im offiziellen Diskurs ausgeklammert und zensiert werden, weil ihre Ursachen zumeist in katastrophalen Fehlern der Partei­führung liegen.

Auch der Republik-Artikel selbst gibt weitere spannende Hinweise:

China ist ein autoritäres Regime ohne Presse­freiheit, aber kein Terror­staat wie Nordkorea. China ist ein Land voller Graswurzel­bewegungen und NGOs, die sich für Umwelt­schutz, für LGBT-Rechte oder soziale Gerechtigkeit einsetzen; ein Land, das eine reiche Tradition an Formen des alltäglichen Mikro­widerstands besitzt. In chinesischen Universitäten und im chinesischen Internet finden, trotz aller Bemühungen der Zensur­behörde, engagierte politische Diskussionen statt – zum Beispiel, indem immer wieder humorvolle Wege gefunden werden, «sensible» Worte durch Geheim­codes und -sprachen an der Zensur vorbeizuschmuggeln.

Autoren wie Liao Yiwu oder Yang Lian, die in Europa als Dissidenten gefeiert werden, sind in China gänzlich unbekannt; Dissidentinnen, die in China wirklich aktiv sind, kennt wiederum in Europa niemand – und viele Mitglieder der Kommunistischen Partei sehen diese durchaus kritisch und versuchen sie von innen zu verändern.

Zurück zu Fang Fangs Roman:

Niemand kann China durch die Lektüre eines einzigen Buchs «verstehen». Aber wenn es momentan einen in deutscher Übersetzung zugänglichen Roman gibt, der die Wider­sprüche der chinesischen Gegenwart ebenso differenziert und multi­perspektivisch zeigt wie die Lebens­realität ihrer Bewohner; einen Roman, der uns Chinesinnen als ganz normale Menschen mit all ihren Ambivalenzen, Bedürfnissen, Alltags­sorgen, Lieblings­gerichten, Familien­streitereien und Haus­tieren nahebringt – dann ist es Fang Fangs «Weiches Begräbnis».

Im Kern ist dieser Roman ein Buch über die Volatilität ideologischer Systeme und ihrer Begriffe, die das 20. Jahr­hundert in China geprägt haben wie nirgendwo sonst.

Kann gut sein, dass ich mir das noch zu Gemüte führe, es reizt mich auf jeden Fall.

Der weiter oben schon angesprochene Peter Achten schreibt im Infosperber über Vielfältiges China: Demokratie unten, Meritokratie oben und betont darin, wie unterschiedlich die Wertesysteme Chinas und der westlichen Kultur aufgebaut sind:

In der 3500 Jahre alten Geschichte Chinas ist bis auf den heutigen Tag politisch wie sozial wenig Vergleichbares mit dem Westen zu erkennen. Bis vor kurzem definierten sich Chinesinnen und Chinesen eher über die Gruppe (Familie, Clan oder Arbeitsplatz) als über das Individuum. Das zeigte sich etwa 1989 bei den Demonstrationen auf dem Tiananmenplatz in Peking. Demonstranten traten in Gruppen auf, etwa hinter dem Banner einer Universität, einer Fabrik, einer Zeitung, eines Ministeriums. Gedacht und gehandelt wird noch heute eher in der Kategorie „Sowohl als auch“ ungleich dem westlichen „Entweder-Oder“.

Mir selber geht es auch so, dass der Wert “Freiheit” in meiner persönlichen Hierarchie langsam aber sicher weiter nach unten wandert, je mehr ich mich mit China beschäftige…

Auch Kai Ehlers hat sich in diesem Jahr schon in mehreren Artikeln mit China befasst:

Die finde ich seeehr lesenswert. Aus dem ersten Artikel:

Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, wohin die Neuausrichtung der Politik treibt. Aber die Fragen sind nicht nur an die Politik zu richten. Was mit China heraufkommt, ist nicht nur ein ökonomischer, nicht nur ein politischer Konkurrent in einer sich machtpolitisch neu gruppierenden Weltordnung. Es ist das Wetterleuchten einer noch nicht klar erkennbaren, aber neuen Kultur des Sozialen, die sich am Horizont ankündigt. Und dieses Wetterleuchten ist nicht auf China begrenzt. Als „great reset“ erfasst es den ganzen Globus.

Aus dem dritten Artikel:

Längerfristig liegen die Chancen aber in der gegenseitigen Durchdringung, Anregung und Förderung der historisch gewachsenen Mentalitäten der drei genannten Kulturräume. In Stichworte gefasst sind das: Der individualisierte, vom selbstbewussten Ich getriebene Pioniergeist des Westens, die pragmatische Einordnung des Ich in die kosmische Ordnung im chinesischen, die intuitive Spontaneität des Ich zwischen diesen Extremen im russisch-eurasischen Raum.

Damit sind die Stärken der drei Kulturräume skizziert, die man im Detail noch weiter anschauen muss, um zu den geistigen Wurzeln zu kommen, aus denen sie ihre Kraft beziehen – das alte taoistische und konfuzianische Erbe Chinas, das ägyptisch-griechisch-römische Euro-Amerikas, das spirituelle und schamanische Russlands als Herzland Eurasiens zwischen Osten und Westen, um nur etwas anzudeuten, wohin genauer zu schauen sein wird. Am Ende der Skizze werden dann aber auch die vereinseitigten Extreme sichtbar, die immer wieder aus der Geschichte hervortreten: Da wird der Pionier des Westens zum Eroberer, die kosmische Einordnung in China zur Unterordnung, die russisch-eurasische Spontaneität zur Unberechenbarkeit. Diese Liste endet beim imperialen Ego des Westens, im autoritären Kontrollstaat Chinas, im russisch-eurasischen Chaos.

Eine umfassende Rückschau, die Handhabung für den bewussten Austausch gibt, kann hier nur als Aufgabe benannt werden. Soviel aber ist sicher: Eine lebensförderliche Zukunft, die die Ödnis einer vereinheitlichten weltumgreifenden technischen, genauer bio-digitalen Zivilisation überwinden könnte, kann sich nur dann öffnen, wenn nicht nur China sich auf seine geistigen Wurzeln besinnt und sie ins Weltgeschehen einbringt, sondern Euro-Amerika und Russland/Eurasien ebenso, ohne dass gegenseitige Herrschaftsansprüche gestellt werden.

Dieser schönen Vision für die Menschheitsentwicklung gebe ich doch gerne meine geistige Kraft & Ausrichtung.

Wo ich bisher noch gar nicht näher reingeschaut habe, ist das englischsprachige Justrecently’s Weblog.

Konfuzius & Co.

Von den chinesischen Klassikern habe ich bisher nur das Daodejing studiert, weil es eben eine wesentliche Grundlage der Prozessphilosophie ist. Wer sich mit der chinesischen Kultur befassen will, kommt allerdings natürlich nicht um Konfuzius herum. Von dessen Gesprächen habe ich mir 2 verschiedene Übersetzungen besorgt, die sind demnächst dran. Menzius und Mozi sind dann wohl auch noch dran.

Was die Übersetzungen der klassischen Texte angeht, werde ich außer dem schon erwähnten Richard Wilhelm auch Ernst Schwarz studieren, der die DDR-Ausgaben von Konfuzius und Laotse übersetzt hat.

Ein integraler Blick auf China

Durch seine Kritik am integralen Modell auf hohem Niveau (wobei mir die deutsche Übersetzung holprig erscheint, hier ist das englische Original) bin ich auf Joseph Dillard aufmerksam geworden. Der hat auch eine 4teilige Serie von langen Artikeln über China geschrieben:

In Teil 1 nennt er die hauptsächlichen religiösen bzw. philosophischen Einflüsse der chinesischen Kultur:

Although other religious traditions have been influential in China, Chinese humanism is primarily composed of four main traditions: Chinese folk rituals, which are a mixture of shamanism and Buddhism, Taoism, and Confucianism. The spiritual outlook of most Chinese people traditionally consists of some combination of beliefs and practices from these four traditions. Buddhism itself had a very widespread and powerful expression in China from 200 BC, probably due to its philosophical and atheistic nature, which was compatible with Chinese humanism, until a persecution in the Tang dynasty in 845 AD led to the almost complete eradication of Buddhism from China. Therefore, outside of Chinese folk traditions, Buddhism has not been a major influence in China for centuries, primarily because Chinese society and culture continuously reverts to its humanistic roots.

Und hier kontrastiert er die unterschiedlichen Wertesysteme:

While Western humanism emphasizes individual liberties and rights, Chinese humanism emphasizes personal perfection for the good of family, state, and natural collectives. While the former emphasizes freedom, the latter emphasizes responsibility and obedience. Western humanism takes the form of collectivist actions and institutions to protect the individual, such as protests, unions, and the Bill of Rights, while Chinese humanism manifests as individual actions and institutions designed to protect the collective, such as social ritual, observance of social hierarchies, obedience, and meritocracy. While Western humanism was a rational and secular reaction to pre-rational, absolutist, and religious culture, society, and religion, Chinese humanism was organic and not reactive. As a result, it has a degree of deep-seated authenticity that reactive world views find difficult to sustain. Indeed, this is validated not only by the multi-millennial influence of Chinese humanism but by its continued existence within the current communist-socialist-capitalist Chinese governmental structure and in contrast to the ongoing collapse of major elements of Western humanism and neoliberal economics.

Dillard konstatiert für die integrale Theorie auch einen blinden Fleck hinsichtlich der chinesischen Kultur:

Integral AQAL essentially ignores China and Chinese humanism. Its multi-perspectivalism fails when it comes to assessing and integrating three thousand years of Chinese philosophy, history, and world view. In this regard, Integral AQAL is quintessentially Western, because while the West has been able to assimilate Indian-based world views into its own, largely through the New Age tradition from Blavatsky, Gurdjieff, Vivikananda, Yogananda, Aurobindo, Hudson, Suzuki, Watts, Jung, and Thurman, it is impossible to come up with a comparable list of names of influences integrating Chinese humanism into Western world views.

In der gesamten Reihe betont er immer wieder, dass er die moralische Entwicklung für den Gradmesser von gesamtgesellschaftlicher Entwicklung hält. Und diese sieht er in China höher entwickelt als bei uns im Westen.

Die integrale Theorie selber sieht er im Oberen Linken Quadranten zentriert, während die chinesische Kultur genau gegenüber im Unteren Rechten Quadranten ihren Schwerpunkt hat. Das macht es für sie schwer, China zu begreifen:

While Integral AQAL considers all four quadrants, due to its emphasis on consciousness, spirituality, and self-development, it emphasizes or is centered in the interior individual quadrant while Chinese culture, and particularly its humanism, is centered in the exterior collective quadrant, meaning that they are opposites in many respects. Western socio-cultural civilization as a whole tends to emphasize individual achievement and progress over collective solidarity. Therefore, both the specific lens of Integral AQAL and the broader context in which it is embedded tend to frame China and Chinese culture in terms that are foreign to it. This is a bias that is difficult to escape or neutralize, but being aware of it is a first step toward a more objective assessment of China.

Insgesamt finde ich, Dillard hätte sich mit seiner eigenen Methode des Integral Deep Listening in diesen Artikeln mehr zurückhalten sollen. So versucht er gleichzeitig die integrale Theorie zu erweitern und mit der so erweiterten Theorie auf China zu blicken, was das Lesen & Verstehen m.E. erschwert.

Im 2. Teil habe ich viel über die schamanischen Wurzeln der chinesischen Kultur gelernt. Außerdem betont er, wie außergewöhnlich die Ideen des Daodejing und von Zhuangzi für ihre Zeit waren:

What is extraordinary about these texts is what is not in them. We should be able to find clearly shamanistic sources in texts that date from 400 BC and 300 BC China, but we do not and neither do most of the prominent authorities on Taoism. Instead of discussing trance, spirit communication, journeying between earth, heaven, and hell, and totem animals, they emphasize wu-wei, or action through non-action, naturalness, simplicity, spontaneity, and the “Three Treasures” of compassion, moderation, and humility. The dualisms that are fundamental to shamanism are treated in an abstract way foreign to shamanism. Instead of concrete, naïve realism built around sensory experience and the reality of perception, the Tao Te Ching and Chuang Tzu focus on going beyond and beneath appearances and on the integration of opposites. In fact, the concepts in these works are not only foreign to shamanism, but to the mainstream of world religions. They contain no dogma, ritual, belief, prophesy, blessing, divine law, or ecstatic practice, which is why these works are generally referred to as “philosophy” instead of religious texts. However, this is incorrect. It is much more accurate to term them “mystical,” in the sense that mysticism focuses on the apprehension of various types of union and non-duality.

Im 4. Teil bezieht er sich ausgiebig auf Xi Jinpings Autobiographie. Das ist mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, da dieser über sich selbst geschrieben hat; dennoch finde ich es beeindruckend. Da klingen für mich deutliche Führungsqualitäten durch, die ich bei westlichen Politikerinnen (mit wenigen Ausnahmen wie Tulsi Gabbard) doch sehr vermisse. Und die Kriterien, nach denen offenbar Führungskräfte in China ausgewählt werden, haben mich daran erinnert, wie Tom Porter den Auswahlprozess zukünftiger Anführer bei den Haudenosaunee beschreibt:

Wenn in einer Gruppe von Krabbelkindern eines durch Freigebigkeit, Friedfertigkeit und Gemeinschaftssinn hervorsticht, dann ist es mit Führungsqualitäten zur Welt gekommen, und die Clanmütter beobachten es. Spielt es friedlich? Streitet es? Wenn ja, warum? Wenn ein Kind Streit unter Gleichaltrigen schlichtet, dann verhält es sich bereits wie ein Anführer. Hilft das Kind später im Haushalt mit? Hilft es den Alten ungefragt beim Holzmachen und Wasserholen? Das sind Führungsqualitäten. Begegnet er als Teenager und später als Erwachsener Frauen mit Respekt? Als verheirateter Mann soll er seiner Frau treu bleiben, seine Kinder gut behandeln, die Familie materiell gut versorgen und sich für das Dorf einsetzen. Das sind Führungsqualitäten. Wer sich anders verhält, kommt als Anführer nicht in Frage.

Dillard betont, dass anders als z.B. der US-Präsident der Staatspräsident wie auch der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas keine alleinige Befehlsgewalt hat; das eigentliche oberste Entscheidungsgremium ist der Ständiger Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas.

Er weist darauf hin, dass die konfuzianische Ausrichtung auf soziale Normen immer in Gefahr ist, zu einem freudianischen Über-Ich zu werden:

In fact, the Confucian junzi is something akin to the Freudian super-ego, the assimilated or appropriated values of culture, generally internalized social scripts of one form or another which become so embedded in our “nature,” “character,” or “self-definition,” that we think they are who we are. We are, along with Master K’ung and just about every well-meaning teacher, guru, and llama in the history of the world, very likely to confuse internalized, socially scripted priorities with yi because we lack methodologies to differentiate them from our life compass.

Seine Untersuchung, was vermutlich noch Schwachstellen des Konfuzianismus sind, ist für mich im Moment noch gar nicht dran. Da halte ich mich mit Urteilen lieber demütig zurück und arbeite weiter daran, die chinesische Kultur überhaupt erst mal zu begreifen.

Was mir allerdings erst in Teil 4 klar geworden ist: Das früher von mir noch als Horrorvision aufgenommene Social Credit System dient vor allem auch dazu, dass das Volk die Eliten überwachen kann, denn auch deren Taten und Untaten werden darin verzeichnet:

What is required is an increase in the surveillance technologies largely decried by libertarians. However, we can already see how ruling elites have much more to fear from these tools than does the average citizen, because they have so much more to lose. We have a powerful recent example. The video of one policeman choking a black man to death with his knee was sufficient to defund and dissolve the police department of the city of Minneapolis, instigate wide-ranging reforms of police departments in cities across the US, and generate massive increases in oversight by the federal government, enforced by the withdrawal of federal funding. Therefore, it does not take much of a crystal ball to predict that versions of China’s “social credit” system are going to become commonplace across the globe. This is because only transparency and accountability motivate sociopaths and corporations with sociopathic characteristics to change their behavior.

Das geht dann wieder deutlich in Richtung Sousveillance, was mir das erste Mal bei David Brin begegnet ist & mich seither als Utopie nicht mehr losgelassen hat.

Übrigens habe ich mich direkt zu der Online-Konferenz Sozialkredit-System in China und Datenkapitalismus im Westen – Herrschaft durch Scoring und datengestützte Simulation von Gesellschaft angemeldet, von der ich eben erst erfahren habe. Das lasse ich mir nicht entgehen!

Uff, das war jetzt ein ganzes Stück Arbeit & musste doch am Ende Stückwerk bleiben. Ich hoffe, mein Beitrag inspiriert euch zu einem frischen Blick auf China.

Nachtrag vom 24.05.: Was der Westen von China lernen kann und sollte vom schon erwähnten Thomas Röper.

Der Kampf der Systeme gegen Länder wie China oder auch Russland hat einen viel banaleren Grund: Die dortigen Regierungen lassen sich von den westlichen Konzernen nichts vorschreiben und machen einfach eine eigene Politik.

Schlimmer noch: Sie lassen sich auch von den eigenen Konzernen nichts vorschreiben. Wenn Putin oder Xi Jingping sich wenigstens nach westlichem Vorbild von den eigene Oligarchen und deren Konzernen nach westlichem Vorbild die Politik aufzwingen lassen würden, könnten die westlichen Konzerne die russischen oder chinesischen Konzerne mit der Zeit übernehmen und sich so den Einfluss auf die Politik der Länder sichern.

Aber China und Russland sind der Meinung, dass der Staat die Regeln vorgeben sollte und nicht die Konzerne. Mehr noch: Sie sind sogar der Meinung, dass die heimische Wirtschaft sich gefälligst zum Wohle des eigenen Landes engagieren sollte.

Nachtrag vom 27.05.: Das Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung hat einen Artikel über Die ökologische Programmatik in China – ein riesiger Aufwand auch für China veröffentlicht.

Nachtrag vom 14.06.: Oh, spannend, das ist im November 2020 an mir vorübergegangen in Fefes Blog:

Und dann noch ein Gedanken zum Notstand: Da gibt es in China auch ein schon in konfuzianistischer Zeit etabliertes Protokoll: Du darfst als lokaler Regent jederzeit (begründet) den Notstand ausrufen, das ist dann mit erheblichen Sonderrechten für die Notstandsverwaltung gekoppelt (die üblicherweise militärisch organisiert ist, auch wenn die Notstände nicht immer Aufstände sind, sondern auch Naturkatastrophen beinhalten).

Aber: Wenn du den Notstand ausrufst, gibst du das Heft aus der Hand. Du hast den Notstand ausgerufen, du bist nicht mehr zuständig, dafür sind jetzt die Experten zuständig, die sich für diesen Notstand vorbereitet haben, und die das auch können — und die drücken anders als der Problemlöser bei Pulp Fiction nicht dir den Putzlappen in die Hand, sondern machen das selber, weil sie wissen, dass du auch so einfache Sachen nicht trainiert hast. Wenn die alles wieder geklärt haben, kannst du auch wieder eingesetzt werden, wenn du den Notstand rechtzeitig ausgerufen hast.

Das verhindert, dass der Notstand unnötig erklärt wird. Es verzögert evtl. das Ausrufen des Notstands (aber dann bist du wirklich weg). Es wird auf jeden Fall von dir erwartet, dass du nach Ausrufen des Notstands deinen Rücktritt anbietest; dieses Angebot wird dann verwehrt, wenn du keine großen Fehler gemacht hast. Der Bürgermeister von Wuhan hat sich ungefähr an das Protokoll gehalten.

Nachtrag vom 17.03.2022: Im “MagMa – Magazin der Masse” hat eine sehr interessante Artikelserie über China angefangen, Das alte China – Artikelserie zu China Teil I (dort werden alle kommenden insgesamt 14 Artikel verlinkt, sobald sie veröffentlicht werden).

Nachtrag vom 18.03.2022: Im Zusammenhang mit China und allgemein Eurasien habe ich mehrere internationale Organisationen aufgelistet, die in Europa noch recht unbekannt sind.

Nachtrag vom 16.01.2023: Meinen China-Beitrag habe ich nun schon länger nicht mehr upgedatet, obwohl ich in der Zwischenzeit einige Texte über China gelesen habe. Dieser hier in Le monde diplomatique ist auf jeden Fall erwähnenswert, es geht um die durchaus kontroversen Debatten chinesischer Intellektueller: China und seine ­unbekannten Denker. Dessen Autor David Ownby betreibt die sehr spannende Website Reading the China Dream.

Weiterer Nachtrag vom 16.01.2023: In der Zwischenzeit hatte ich auch Jürgen Kurz entdeckt, der seit 2003 teilweise in China lebt und aus erster Hand von dort berichtet. Der gehört hier auf jeden Fall mit rein. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch seinen Artikel in den NachDenkseiten Die Chinapolitik der Ampel ist schlecht für Deutschland, Europa und den Klimaschutz!.

Nachtrag vom 12.03.2023: Der Artikel Der alltägliche Kollektivismus zeigt faszinierende Einblicke in die chinesische Alltagskultur. China ist eben wirklich sehr anders als Mitteleuropa!

Nachtrag vom 21.03.2023: Das Buch von Wolfram Elsner habe ich zwar immer noch nicht gelesen, dafür aber heute dieses sehr informative Interview mit ihm gesehen: „Unser Bild von China ist völlig verzerrt“ - Punkt.PRERADOVIC mit Prof. Dr. Wolfram Elsner.

Nachtrag vom 04.06.2023: Mein Weltbild wurde heute gehörig erschüttert – es gab 1989 kein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens! Dort fiel noch nicht mal ein einziger Schuss. An diesem Tag fand nämlich gleichzeitig an anderen Stellen in Peking ein Arbeiteraufstand statt, der eskalierte und zu mehreren hundert Toten führte – auch unter den Soldaten. Im Detail lässt sich das alles nachlesen im Artikel 1989 Tiananmen Square “Student Massacre” was a hoax.