Aufmerksamkeitsökonomie

Mit dem Thema Aufmerksamkeitsökonomie hatte ich mich schon in meinem Informatikstudium beschäftigt (siehe mein Paper aus dem Jahr 2000), jetzt bin ich über Fefes Blog auf einen äußerst scharfen Artikel aufmerksam (sic!) geworden. Am meisten erstaunt mich daran, dass der Autor Tristan Harris als “Design Ethicist” bei Google gearbeitet hat und dennoch im Artikel Praktiken, die natürlich auch Google anwendet, anprangert.

Der Artikel: How Technology Hijacks People’s Minds — from a Magician and Google’s Design Ethicist.

Harris bestärkt mich übrigens noch mal nachträglich darin, Facebook und Twitter wieder verlassen zu haben. Ich entscheide selber, wem und was ich meine Zeit widme, & gebe mir als makelloser Krieger alle Mühe, mich nicht ablenken zu lassen.

Da ich mich als innerer Anarchist immer wieder für die geistige Freiheit einsetze, freue ich mich besonders über diesen Satz aus Harris’ Artikel:

The ultimate freedom is a free mind, and we need technology that’s on our team to help us live, feel, think and act freely.

Der Satz erinnert mich auch an die Worte von Varoufakis, dass wir gerade als Gesellschaft vor der Wahl stehen, ob es in Richtung Matrix weitergehen soll (die Maschinen beherrschen uns) oder in Richtung Star Trek (die Maschinen dienen uns). Wenn wir diese Wahl nicht bewusst treffen, geht es automatisch weiter in Richtung Matrix, denn wir lassen uns schon stark von den Maschinen beherrschen, siehe auch Eine Spielshow namens Kapitalismus und mein langer Artikel über den Film Das Netz.

Das Tag Tantra rührt daher, dass ich letzte Woche gerade aus dem Workshop Basics in Tantra gekommen bin, wo es auch viel um die Anhaftungen an unsere persönliche Geschichte ging. Das was Harris beschreibt, läuft darauf hinaus, dass die Plattformbetreiber unsere Anhaftungen gezielt fördern.

Und da es um Aufmerksamkeits_ökonomie_ geht, darf auch der Hinweis darauf nicht fehlen, dass das Menschenbild der neoklassischen Wirtschaftstheorie, der homo oeconomicus, bereits ein vollständiger Sklave ohne eigenen Willen ist.

Nachtrag: Beim Ritual (im Tantra-Workshop) hatten wir sogar unsere Plastikbehälter noch mal eingehüllt, damit Logos & Schriftzüge nicht zu sehen sind & unsere Aufmerksamkeit ablenken.

Nachtrag vom 24.05.: Auch die Ausschnitte von Jon Rappoport am Ende des Beitrags Die Opportunitätskosten des Opportunitätskostenkalküls gehören in diesen Zusammenhang.

Nachtrag vom 27.05.: Freiheit ist der Abstand zwischen Reiz und Reaktion.

Update vom 25.06.: Soeben habe ich das Buch Die Herrschaftsformel von Kai Schlieter entdeckt. Im Interview mit Telepolis sagt er:

Virginia Rometty, die CEO von IBM, sagte kürzlich, dass bald keine Entscheidung des Menschen mehr getroffen wird, ohne zuvor solche Systeme zu konsultieren. Worüber wir uns Sorgen machen sollten und auf was wir sehr genau achten müssen, ist dann unsere Autonomie.

Nachtrag vom 17.07.: Erfahrungsbericht eines 12jährigen: Ich und kein Handy. Er hat ein ganzes Buch darüber geschrieben.

Nachtrag vom 02.02.2017: Bruce Schneier schreibt in einem langen Artikel über Security and the Internet of Things:

The world-size robot is less designed than created. It’s coming without any forethought or architecting or planning; most of us are completely unaware of what we’re building. In fact, I am not convinced we can actually design any of this. When we try to design complex sociotechnical systems like this, we are regularly surprised by their emergent properties. The best we can do is observe and channel these properties as best we can.

Market thinking sometimes makes us lose sight of the human choices and autonomy at stake. Before we get controlled ­ or killed ­ by the world-size robot, we need to rebuild confidence in our collective governance institutions. Law and policy may not seem as cool as digital tech, but they’re also places of critical innovation. They’re where we collectively bring about the world we want to live in.

Nachtrag vom 24.05.2017: Gunter Dueck vergleicht unsere Situation im Internet mit der von Rotkäppchen im Wald:

Unser Wald ist das Internet, und die Wölfe und Blumen des 21. Jahrhunderts sind wie die Werbetreibenden, die Propagandisten, Netzbanditen oder Wahlkampfpolitiker, die uns locken wollen, ihnen unsere Aufmerksamkeit für ihre in Blüten gepackten Absichten zu schenken. Es gibt immer mehr und so vieles, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken wollen und sollen. Leider ist unsere Aufmerksamkeit ein Gut, das wir nur begrenzt zur Verfügung haben und was deshalb umso gieriger umworben wird. Um unsere Aufmerksamkeit einzufangen, sammeln sie Kenntnisse über uns – sie wollen unsere Daten, damit sie uns leichter in ihrem Sinne ablenken können.

Was er schreibt, klingt zwischendurch recht pessimistisch:

Verantwortungslose Aufmerksamkeitsprofis spekulieren und zocken in einer neuen Aufmerksamkeitsökonomie. Sie hypen Neues oder Stars und ziehen anschließend alles wieder nieder – es geht zu wie auf dem Aktienmarkt der Lebensmittelspekulanten, also ohne Rücksicht auf Verluste der Produzenten und Menschen. Die Spekulanten lieben besonders die großen Schwankungen (hier die der Aufmerksamkeit), weil diese stets zu großem Rummel führen und alle die Milchmädchen und Affektklicker anlocken – denn die sollen ja die Zeche zahlen! Das Erzeugen von Rummel ist durch das Netz leichter denn je. Wir werden sehen, dass das Gewimmel an extremen Meinungen, Heilslehren, Management-Patentrezepten und an immer neuen politischen Forderungen ein gewisses inneres System hat. Es gibt da wohl „eine unsichtbare Hand“, die nicht nur die Rhythmen der Ökonomie, sondern auch die der Aufmerksamkeitswirtschaft zu prägen scheint. Und auch privat schielen wir langsam nach den neuen Prinzipien der Aufmerksamkeit. Wir lechzen nach Rummel um uns selbst. Wir pimpen uns nun, wir stellen uns heraus, wir steigern die Zahl unsere Facebook-Freunde und Followers – wir werden von einer Art Sucht ergriffen, wie sie die Zocker am Aktienmarkt befällt.

Doch er zeigt auch Auswege:

Was aber können wir heute schon tun oder wenigstens tapfer ins Auge fassen, um uns tätig zu beruhigen? Zuerst müssen wir eine Art Intelligenz für den Umgang mit Aufmerksamkeit anerkennen, die wir schulen müssen. Zur Bildung gehört es schon immer, das Wichtige und Wertvolle zu erkennen und aus diesem Schatz heraus in der normalen Welt das Tiefsinnige vom Flachsinnigen trennen zu können.

Nachtrag vom 10.10.2017: Der Erfinder des Facebook-Like-Buttons lässt sich über das Suchtpotential von sozialen Medien & Smartphones aus und ist selber fast auf Cold Turkey. Auch der Silicon Valley-Autor Nir Eyal mit seinem Buch Hooked: How to Build Habit-Forming Products kommt im Artikel vor:

He explains the subtle psychological tricks that can be used to make people develop habits, such as varying the rewards people receive to create “a craving”, or exploiting negative emotions that can act as “triggers”. “Feelings of boredom, loneliness, frustration, confusion and indecisiveness often instigate a slight pain or irritation and prompt an almost instantaneous and often mindless action to quell the negative sensation,” Eyal writes.

Das stimulus-response Empire, von dem Jon Rappoport schreibt. Und Tristan Harris kommt im Guardian-Artikel ebenfalls vor:

“A handful of people, working at a handful of technology companies, through their choices will steer what a billion people are thinking today”

Der weist immer wieder darauf hin, “it’s the economy, stupid”:

Harris believes that tech companies never deliberately set out to make their products addictive. They were responding to the incentives of an advertising economy, experimenting with techniques that might capture people’s attention, even stumbling across highly effective design by accident.

Vielleicht sollte ich das Buch Im Zeitalter der Sucht von Anne Wilson Schaef unter diesem Gesichtspunkt noch mal lesen. Und Chris Marcellino sagt:

“It is not inherently evil to bring people back to your product,” he says. “It’s capitalism.”

James Williams hat auch Gewichtiges aus seiner Erfahrung bei Google zu sagen:

The ex-Google strategist who built the metrics system for the company’s global search advertising business, he has had a front-row view of an industry he describes as the “largest, most standardised and most centralised form of attentional control in human history”.

Er hat zusammen mit Tristan Harris die Initiative Time Well Spent gestartet. Noch mal Williams:

The same forces that led tech firms to hook users with design tricks, he says, also encourage those companies to depict the world in a way that makes for compulsive, irresistible viewing. “The attention economy incentivises the design of technologies that grab our attention,” he says. “In so doing, it privileges our impulses over our intentions.”

Williams meint auch, dass unsere Gesellschaft mehr in Richtung von Huxleys Schöner Neuer Welt entwickelt, als in Richtung von Orwells 1984. Das empfinde ich seit längerem schon so. Die Aufmerksamkeitsökonomie stellt sogar die Demokratie in Frage (womit wir wieder bei Jon Rappoport wären):

“The dynamics of the attention economy are structurally set up to undermine the human will,” he says. “If politics is an expression of our human will, on individual and collective levels, then the attention economy is directly undermining the assumptions that democracy rests on.” If Apple, Facebook, Google, Twitter, Instagram and Snapchat are gradually chipping away at our ability to control our own minds, could there come a point, I ask, at which democracy no longer functions?

Nachtrag vom 30.04.2019: Auch Thomas Metzinger setzt sich mit unserer gestörten Aufmerksamkeitskultur auseinander.

Nachtrag vom 15.07.2019: Ablenkung und Dauerstress: Wie Handys und digitale Medien das Hirn beeinflussen.

Allein die Nähe des eigenen Smartphones reicht demnach aus, dass Menschen bei Testfragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter. Ward schlussfolgert, dass ein in der Nähe befindliches Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsgedächtnis in den Stirnlappen der Großhirnrinde, im Präfrontalen Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen diesen Bereich unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es ebenfalls aktiv.