Thomas Metzinger über Aufmerksamkeitsräuber

Das Thema Aufmerksamkeit taucht in diesem Blog immer wieder mal auf (zuletzt der Beitrag Aufmerksamkeitssteuer für “soziale Medien” wie Facebook, Twitter, Instagram), einfach weil ich die Schlacht beobachte, die seit langem darum tobt.

Im März war ich nun bei einem Vortrag von Thomas Metzinger im Rahmen der MIND Academy hier in Berlin zum Thema “Achtsamkeit und geistige Autonomie”.

Passend dazu lese ich sein Buch Der Ego-Tunnel, das ich mir zu Weihnachten gewünscht hatte. Darin schreibt er im Kapitel “Eine neue Art von Ethik” folgendes:

Aufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource, und sie ist absolut essenziell nicht nur für die momentane Lebensqualität, sondern für ein gutes Leben im Allgemeinen. […]

Heute greifen uns die Werbe- und die Unterhaltungsindustrie aus dem Mediendschungel heraus an, indem sie die innersten Fundamente unserer Erlebnisfähigkeit selbst attackieren und uns immer tiefer in eine vollkommen unüberschaubare und verwirrende Umwelt hineinzerren. Die modernen Aufmerksamkeitsräuber versuchen, uns so viel wie möglich unserer knappen Ressource wegzunehmen – und sie tun dies auf immer eindringlichere und intelligentere Weise. Natürlich machen sie sich zur Erreichung ihrer Ziele auch zunehmend die von den Neuro- und Kognitionswissenschaften erarbeiteten neuen Einsichten in den menschlichen Geist zunutze (eines der hässlichen neuen Trendwörter heisst “Neuromarketing”). Der Psychologe Roy Baumeister spricht in diesem Zusammenhang von Ego Depletion, von einer Erschöpfung oder Entleerung des Ego. Die Idee ist, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle – also das, was man früher einfach die “Willenskraft” genannt hat – auf einer einzigen, aber begrenzten Ressource beruht. Diese Ressource erschöpft sich mit der Zeit, je nachdem, wie oft und wie viel Energie man für die Kontrolle seines eigenen Verhaltens aufwenden muss. Die Willenskraft ist wie ein Muskel, der ermüdet, wenn er ständig überlastet wird.

An dieser Stelle ergänze ich, dass die Willenskraft auch analog einem Muskel erschlafft, wenn man sie gar nicht benutzt, sondern immer sofort seinen Impulsen folgt (siehe Freiheit ist der Abstand zwischen Reiz und Reaktion) – wozu unsere Konsumgesellschaft uns ja alle herzlich einlädt.

Die Werbe- und Marketingindustrie bombardiert heute gezielt diesen Teil unseres Selbstmodells – denn ihr Ziel ist das “erschöpfte Ego”, das am Ende Dinge kauft, die es überhaupt nicht braucht. Es könnte aber durchaus so sein, dass die ständige Überlastung durch die neuen medialen Umwelten am Ende auch bestimmte Aspekte unserer natürlich evolvierten und noch schwach entwickelten Fähigkeit zur geistigen Selbstbestimmung zerstört, also etwa die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitslenkung und zur Kontrolle des inneren Handelns, die wir in Kapitel 4 näher betrachtet haben. Das erschöpfte Ego würde dann am Ende sogar Dinge denken, die es eigentlich gar nicht denken will.

Genau das beabsichtigt Propaganda: Dass die Leute Dinge denken, die sie eigentlich gar nicht denken wollen. Insofern ist das alles kein neues Phänomen, nur die Mittel werden immer ausgefeilter. Als ich damals den Film Er ist wieder da im Kino gesehen habe, fiel mir besonders auf, wie gekonnt dieser Hitler die Aufmerksamkeit der Menschen lenken kann. Offenbar konnte das der historische Hitler ja auch gut.

Metzingers geistige Autonomie besteht also vor allem darin, die eigene Aufmerksamkeit selbst lenken zu können und Ablenkungsversuchen von außen zumindest in gewissem Ausmaß zu widerstehen.

Die allerersten Auswirkungen können wir bereits erkennen: in der epidemischen Ausbreitung von Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern und jungen Erwachsenen, in zunehmenden Burnout-Syndromen in der mittleren Lebensphase und in einem ansteigenden Ängstlichkeitsniveau in weiten Teilen der Bevölkerung. […] Man versucht, uns unsere Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zu entreißen. Immer neue mediale Umwelten könnten deshalb eine neue Form des Wachbewusstseins erzeugen, die schwach subjektiven Zuständen ähnelt – eine neue Mischung aus Traum, Demenz, Berauschtheit und Infantilisierung.

Wir brauchen uns also gar nicht zu wundern über Phänomene wie Fake News und Donald Trump. Wenn die Leute nur noch die Überschrift lesen und den Artikel gleich weiterteilen, wenn ihnen dieser zusagt (oder auch gerade nicht, dann eben empört), kann da ja nix Vernünftiges bei rumkommen.

In meinem ersten Beitrag zur Aufmerksamkeitsökonomie hatte ich Gunter Dueck zitiert, den ich an dieser Stelle noch mal ins Gedächtnis rufe (er hat ein ganzes Buch zum Thema geschrieben, Flachsinn – Ich habe Hirn, ich will hier raus!):

Verantwortungslose Aufmerksamkeitsprofis spekulieren und zocken in einer neuen Aufmerksamkeitsökonomie. Sie hypen Neues oder Stars und ziehen anschließend alles wieder nieder – es geht zu wie auf dem Aktienmarkt der Lebensmittelspekulanten, also ohne Rücksicht auf Verluste der Produzenten und Menschen. Die Spekulanten lieben besonders die großen Schwankungen (hier die der Aufmerksamkeit), weil diese stets zu großem Rummel führen und alle die Milchmädchen und Affektklicker anlocken – denn die sollen ja die Zeche zahlen!
Das Erzeugen von Rummel ist durch das Netz leichter denn je. Wir werden sehen, dass das Gewimmel an extremen Meinungen, Heilslehren, Management-Patentrezepten und an immer neuen politischen Forderungen ein gewisses inneres System hat. Es gibt da wohl „eine unsichtbare Hand“, die nicht nur die Rhythmen der Ökonomie, sondern auch die der Aufmerksamkeitswirtschaft zu prägen scheint. Und auch privat schielen wir langsam nach den neuen Prinzipien der Aufmerksamkeit. Wir lechzen nach Rummel um uns selbst. Wir pimpen uns nun, wir stellen uns heraus, wir steigern die Zahl unsere Facebook-Freunde und Followers – wir werden von einer Art Sucht ergriffen, wie sie die Zocker am Aktienmarkt befällt.

Diese “unsichtbare Hand” nimmt immer häufiger die Form eines Algorithmus an. Was uns die “sozialen Medien” anzeigen, ist hochgradig darauf optimiert, dass wir möglichst viel Zeit auf der jeweiligen Plattform verbringen. Dafür ist jedes Mittel recht.

Ein anderer Philosoph, den ich schon hier im Blog hatte zum Thema Geld, Christoph Türcke, hat ebenfalls ein ganzes Buch nur zu diesem Thema geschrieben, Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur. Im FAZ-Interview „Man kann keinen klaren Gedanken mehr fassen“ haut er in die gleiche Kerbe wie Metzinger und Dueck:

ADHS ist keine Krankheit in gesunder Umgebung. Die gesamte Gesellschaft leidet an wachsender Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit. Bei Kindern äußert sich das nur am stärksten. Ich spreche von einer Kulturstörung. Wir leiden an konzentrierter Zerstreuung. Das ist ein paradoxer Begriff. Soll heißen: Wir sind ständig zwanghaft damit beschäftigt, uns zu zerstreuen. Das führt gerade nicht zur Entspannung, sondern produziert Stress.

Sein Rezept für die Gegenkur, Rituale, halte ich dabei nur für bedingt brauchbar. Wie ich schon zum inneren Anarchismus schrieb, ist Selbstdisziplin zwar wichtig, um eingefahrene Gewohnheiten zu überwinden, zu stark ritualisiertes Verhalten führt aber nur wieder in neue unbewusste Abhängigkeiten. Metzinger empfiehlt hingegen Meditation, also aktives bewusstes Achtsamkeitstraining. Da bin ich bekanntlich auch ein großer Fan von. Deshalb schliesse ich mit dem gleichen Zitat von ihm wie im Nachtrag zum inneren Anarchismus:

Nicht zu handeln, so scheint es, ist eine der wichtigsten menschlichen Fähigkeiten überhaupt, denn sie ist die Grundvoraussetzung aller höheren Formen von Autonomie.

Nachtrag vom 15.07.: Ablenkung und Dauerstress: Wie Handys und digitale Medien das Hirn beeinflussen.

Allein die Nähe des eigenen Smartphones reicht demnach aus, dass Menschen bei Testfragen schlechter abschneiden. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter. Ward schlussfolgert, dass ein in der Nähe befindliches Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsgedächtnis in den Stirnlappen der Großhirnrinde, im Präfrontalen Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen diesen Bereich unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es ebenfalls aktiv.