Vom Virus hypnotisiert

Weil ich nicht schlafen konnte, habe ich mir eben Charles Eisensteins großartigen Essay The Coronation angehört, von ihm selber gelesen. Den hatte ich hier im Blog schon mal erwähnt, aber beim ersten Lesen noch gar nicht in seiner Fülle erfasst.

Nun beim Hören wurde mir bewusst, dass ich mich vom Virus, der Pandemie sowie auch der drastischen Reaktion darauf regelrecht habe hypnotisieren lassen. Wenige Tage nachdem wir unseren Laden vorerst dicht gemacht hatten, hatte ich schon mal die tiefere Dimension des Geschehens kurz gestriffen. Dann packte mich aber gleich wieder die Demokratie-Panik & ich war wieder mit meiner Aufmerksamkeit ganz an der Oberfläche des Themas.

Mein Verstehen-Wollen der Situation drückt auch die Grundhaltung aus, dass ich damit die Situation für mich wieder unter Kontrolle bringen will. Genau diesen Ansatz fahren auch die Regierungen in aller Welt, besonders deutlich ausgedrückt im Strategiepapier des Innenministeriums. Dessen Titel lautet “Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen” (Hervorhebung von mir).

Nochmal zurück zur Pandemie und der Reaktion darauf. Charles beobachtet sehr genau, dass unsere Wahrnehmung sowohl des Virus als auch der drastischen Maßnahmen der Staaten beide von Angst geprägt sind: Auf der einen Seite Angst vor den schlimmen Folgen der Pandemie, einem zusammenbrechenden Gesundheitssystem usw., auf der anderen Seite Angst vor einem neuen Faschismus durch Corona-Notverordnungen. Der zweiten Angst war ich zeitweilig sehr heftig auch verfallen.

Dabei ist Die schönere Welt, die unser Herz kennt, auf einmal greifbar nahe geworden, wo sie bis vor kurzem noch wie ein Wolkenkuckucksheim erschien.

Übrigens, während ich das hier schreibe, höre ich die Vertonung der Gensequenz von SARS-CoV-2 auf Soundcloud.

Auch Yuval Noah Harari, der ansonsten allerdings der alten Kriegsrhetorik verhaftet bleibt “wie wir gegen die akute Bedrohung kämpfen können”, sieht die Chance für große Umwälzungen:

In normalen Zeiten lässt sich Vertrauen, das über Jahre untergraben worden ist, nicht über Nacht wieder aufbauen. Aber in einer Krise kann sich auch das Denken schnell ändern. Wir können uns mit unseren Geschwistern über Jahre bitter streiten, aber wenn es zu irgendeiner Notlage kommt, finden wir ein verstecktes Reservoir von Vertrauen und Zuneigung und eilen einander zu Hilfe. Wir müssen kein Überwachungsregime einführen, stattdessen können wir das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft, die Behörden und die Medien wieder aufbauen; dafür ist es nicht zu spät.

Damit dieses Vertrauen & diese Zuneigung kein Strohfeuer bleiben, gilt es, uns bewusst auf Kooperation und Mitgefühl auszurichten. Und es gilt, die Strukturen unserer Gesellschaft in diese Richtung umzugestalten, allen voran ein lebensförderndes Anreizsystem einzuführen und jetzt mit dem Aufbau einer regenerativen Kultur für alle zu beginnen. Das umfasst auch, unsere Böden und überhaupt unsere Ökosysteme zu regenerieren, wozu wir die Agrarwende brauchen. Nun ja, ich habe noch viele andere mögliche Bausteine hier im Blog skizziert.

Damit wir an dieser Wegscheide, an der wir kollektiv stehen, gute und schöne Entscheidungen treffen, kommt es darauf an, dass wir auf unser Herz hören. Deshalb zitiere ich noch mal den letzten Satz aus “Das Ende der Megamaschine”, den ich im Beitrag Die Rekultivierung unseres Lebens schon mal zitiert hatte:

Die Qualität der anderen Welten, die wir vielleicht schaffen können, wird sich nicht nur daran zeigen, ob sie ökologisch nachhaltig und sozial gerecht sind, sondern auch daran, welche Feste wir feiern und welche Lieder wir singen.

Wie riecht die schönere Welt, die unser Herz kennt? Wie schmeckt sie? Wie fühlt sie sich an, wie klingt sie, wie sieht sie aus? So wie die Scherben singen oder vielleicht doch ganz anders?

Wenn wir einen Eindruck von ihr haben, dann können wir uns Schritt für Schritt dort hinbewegen, vom Misstrauen zur Verbundenheit. Auf diesem Weg erinnern wir uns an die neue und uralte Geschichte der Verbundenheit. Wie Charles so treffend in “The Coronation” schreibt: Leben ist Gemeinschaft.

Zum Schluss wiederhole ich noch mal mein Zitat von Rutger Bregman aus dem Beitrag Das Hamsterrad steht still:

Historiker haben vielfach gezeigt, dass Krisen auch gesellschaftliche Wende­punkte sein können. Oft sind das die Momente, in denen Wandel geschieht. Es ist, als befänden wir uns gegenwärtig in einem Historien­film; und es ist noch zu früh für eine Prognose, aber ich hoffe, dass dieser Moment ein Wende­punkt sein und das Ende dessen markieren wird, was man das neoliberale Zeitalter nennen könnte, in dem wir vor allem auf Wettbewerb und Individualismus gepolt sind. Vielleicht können wir in ein neues Zeitalter der Kooperation eintreten, auf der Grundlage eines positiveren Menschen­bildes. Wie ich in meinem Buch schreibe: Was Sie anderen Menschen unterstellen, ist oft auch das, was Sie von ihnen bekommen. Wenn man davon ausgeht, dass die meisten Leute nur an ihren Eigennutz denken, dann errichtet man auch die eigene Gesellschaft gemäss diesem Prinzip: alle Institutionen, Schulen, Arbeits­plätze, die Demokratie, was auch immer Sie wollen. Aber wenn wir umgekehrt Institutionen auf der Vorstellung aufbauen würden, dass Menschen zwar keine Engel, aber letztlich ziemlich anständig sind, dann bekämen wir eine ziemlich andere und wohl auch bessere Gesellschaft.

Nachtrag vom 08.04.: Nun ist endlich die deutsche Übersetzung von Charles Eisensteins großartigem Essay erschienen: Die Krönung. Und Bruno Latour stellt Fragen für eine umfassende Bestandsaufnahme, wie wir nach der Krise leben wollen.

Nachtrag vom 15.04.: Miki Kashtan hat eine Artikelreihe über die Coronakrise angefangen. Sie betont auch, dass der Ausnahmezustand große Chancen für grundlegende Veränderungen birgt:

during times of crisis, scripts don’t work and habits are challenged. At such times we are pushed to respond freshly in the moment, from deeper layers of ourselves than those conditioned by the social order. Jolted out of autopilot, the future becomes even less known. Suddenly, deeper patterns become visible, taboo topics open up, and actions that might have seemed impossible are now commonplace. There is a very real possibility that at least in some parts of the globe, the immediate response to the current conditions will reflect a move toward honoring life, interdependence, and needs, even as the risk of increased totalitarianism is present.

Sie findet wahrhaftig starke Worte:

Overall, I see this crisis as the first opportunity in at least centuries, if not millennia, to change course, precisely because the entire machinery that keeps it all going is ground to a halt, on a global scale. This pandemic is inviting us to abandon the disastrous path of scarcity, separation, and powerlessness focused on controlling life and death. We have an unprecedented opportunity to reconnect with life as we celebrate its messy preciousness and surrender in full to death as part of life. We can find, again, flow, togetherness, and choice as we accept our interconnectedness with each other and with all that lives. Just as the anonymous biblical author reminds us: We have been given the choice between life and death, and we can choose life.

Nachtrag vom 18.04.: Schon am 24. März hat jemand Ayahuasca zum Coronavirus befragt und faszinierende Antworten bekommen.