Dem Staat vertrauen?

Die Verschnaufpause nutze ich u.a. dazu, Die Mühlen der Zivilisation von James C. Scott weiter zu lesen.

Dabei ging mir nun mitten in der Nacht auf, dass wir in der Coronakrise von (fast) allen Seiten gebetsmühlenartig immer wieder das Mantra zugerufen bekommen Vertraue dem Staat! Vertraue dem Staat! Das kann ich als innerer Anarchist natürlich nicht so stehen lassen.

Exemplarisch zeigt das die viel gelobte Ansprache von Angela Merkel, in der sie u.a. sagt

Deswegen bitte ich Sie: Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen, die wir immer auch in viele Sprachen übersetzen lassen.

Im Umkehrschluss sagt sie damit, alles was keine offiziellen Mitteilungen des Staates sind, sind Gerüchte.

Ähnlich sieht es in den beiden unkritisch von Fefe verlinkten Verlautbarungen zum einen des österreichischen Bundesheers und zum anderen des deutschen Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe aus:

Eine regelmäßige Information aus verlässlichen Quellen (z.B. ORF, Websites der Bundesministerien) hilft, dass sich Gedanken nicht verselbstständigen können. Somit stellt man Sicherheit in einer Situation her, wo Ängste und Sorgen “vollkommen normal und nachvollziehbar” sind.

In anderen Worten, sicher und verlässlich sind nur die Regierung und die Staatsmedien.

Seien Sie kritisch: Es sind viele Falschinformationen im Umlauf. Informieren Sie sich bei vertrauenswür-digen Quellen, z.B. auf der Webseite des Robert-Koch-Instituts (www.rki.de). Auch das Bundesgesundheitministerium, die Landesministerien und die Gesundheitsämter stellen gesicherte Informationen bereit.

Kritisch bin ich also, wenn ich blind dem Staat vertraue. Interessante Definition.

Bei James C. Scott habe ich übrigens folgendes sumerisches (!) Sprichwort gelernt:

“Man kann einen König haben und einen Herrn, aber fürchten muss man den Steuereintreiber.”

Die wussten damals schon, wem sie vertrauen können und wem nicht. ;-) Und dieses Sprichwort macht deutlich, dass Steuerhinterziehung so alt ist wie die Steuer selbst. Bekanntlich teilt auch Bundesrichter Thomas Fischer diese Sichtweise:

So lange nur “Raubritter” auf ihren Burgen saßen und ihre Söldnerhaufen gegeneinander sandten, war jeder der “Terrorist” des anderen. Wenn einer gewonnen hatte, war er mit einem Mal der Staat und die anderen die Verbrecher.

Der Staat beruht ja gerade darauf, dass er seinen Untertanen misstraut und diese ihm spiegelbildlich auch. Jeder Staat ist ein Gewaltverhältnis; das werden dir die meisten Juristen bestätigen.

Echtes Vertrauen spielt sich jenseits von Staat und Markt ab, nämlich beim Gemeinschaffen:

Vertrauensbeziehungen sind Beispiele gelingender sozialer Praxis, die gesellschaftliche, gemeinwohlorientierte Koordination jenseits von Tauschlogik und Berechnung möglich machen. Was macht diese Beziehungen so unvergleichlich stabil und zugleich lebendig? Warum fühlen sie sich so leicht, fraglos und in existenzieller Weise mit dem eigenen Selbstverständnis verwoben an?
In Vertrauensbeziehungen zeigt sich auf eine beispielhafte Weise, dass wir keine isolierten Atome sind. Wir sind vielmehr Inter-Subjekte – erst durch den anderen gewinnen wir in einem Prozess gegenseitiger Anerkennung ein Verständnis unserer selbst im Verhältnis zur Welt. Vertrauen vollzieht sich im Rahmen eines intersubjektiven, höchst freiwilligen Prozesses. Im Vertrauen erkennen wir einander in unserem spezifischen, unverwechselbaren Sein an; es kann nicht einseitig hergestellt, erzwungen oder eingefordert werden – im Gegenteil: Vertrauen ist tiefste Anerkennung spezifischen, unverwechselbaren Seins.
Diesem Sein, das stets schöpferisch ist, sind im Vertrauen keine Grenzen gesetzt. Insofern ist Vertrauen eine Gabe, die sich die Vertrauenden einander erweisen – jenseits der Berechnung und Kontrolle von Leistung und Gegenleistung, Geben und Nehmen, Kredit und Schuld. Vertrauen ermöglicht Hingabe – das Sich-selbst-Hingeben an das schöpferische Sein, das immer dasjenige des anderen und das schöpferische Sein-in-der-Welt einschließt. Solche Gegenseitigkeit würdigt, fördert, nährt und erhält unser Sein.
In der Logik von Tausch, Berechnung und Egoismus sowie den zugehörigen Prozessen von Kommerzialisierung und Ökonomisierung werden diese lebenswichtigen Erfahrungen strukturell unterbunden und grundsätzlich missverstanden. Im Unterschied zur rein marktlichen Koordination sind es aber jene gelingenden kooperativen Beziehungsformen, die verlässliche, selbstverständliche, am Gemeinwohl orientierte gesellschaftliche Koordination ermöglichen. Wenn wir Beispiele gelingender sozialer Praxis verstehen und kultivieren wollen, müssen wir auch die Dogmen und Strukturen des liberalistischen und physikalistischen Denkens zur Sprache und ins Bewusstsein bringen.

Nachtrag vom 22.03.: Die Coronakrise ist die ideale Gelegenheit, sich mit Michel Foucault zu beschäftigen. Republik-Redakteur Daniel Binswanger schreibt darüber, wie sich Foucaults Konzept von Biomacht bzw. Biopolitik bewahrheitet:

Moderne Politik dreht sich im Grunde nicht um «Staatsräson», das heisst um die Kontrolle der Untertanen im Innern und um das Gleichgewicht im Verhältnis zu anderen Mächten gegen aussen. Noch viel weniger interessiert die Weisheit des jeweiligen Herrschers. Moderne Politik dreht sich um die Bevölkerung, den Volkskörper, die «Biomasse» der Bewohner – und darum, die Hygiene, Reproduktion und Produktivität dieses Volkskörpers zu garantieren.

Biopolitik kontrolliert die Bevölkerung auf einem bestimmten Territorium, um ihr Humankapital freizusetzen. Der Souverän ist nicht mehr Herrscher über Leben und Tod. Er ist der Optimierer des biologischen Lebens. Im Normalfall ist die politische Ökonomie die Leitwissenschaft der Biopolitik. Im Ausnahme­zustand ist es die Epidemiologie.

Die aktuelle Krise ist eine fulminante Bestätigung von Foucaults Theorie: Sonst hätte es so schnell nicht gehen können. Sonst hätten nicht praktisch alle Länder dieses Globus in kürzester Zeit den Ausnahme­zustand erklären, die Wirtschaft lahmlegen, das öffentliche Leben stoppen können. Ohne dass es zu grossen Widerständen gekommen wäre, ohne dass jemand das ernsthaft infrage stellen würde.

Nachtrag vom 24.03.: Auch Renate Dillmann findet speziell den deutschen Staat alles andere als vertrauenswürdig.

Nachtrag vom 25.03.: Franz Ruppert stellt die Frage noch umfassender: Wem vertraue ich jetzt?

Und auch Yuval Noah Harari geht in seinem ausführlichen Artikel In der Corona-Krise stellen wir die Weichen für die Zukunft: Wir müssen den Totalitarismus bekämpfen und den Bürgersinn stärken auf das Vertrauen ein:

Zentralisiertes Monitoring und drakonische Strafen sind nicht das einzige Mittel, das dazu führt, dass sich die Leute an Regeln halten, die ihr eigenes Wohl schützen. Wenn die Bürger die wissenschaftlichen Fakten kennen und wenn sie den Regierungen glauben, dass sie ihnen diese Fakten offenlegen, dann tun sie das Richtige, ohne dass ihnen Big Brother über die Schulter schauen müsste. Eine eigenverantwortliche, aufgeklärte Bevölkerung bringt gewöhnlich viel mehr zustande als eine unwissende und gegängelte.[…]

Um eine solche Kooperation zu erreichen, braucht es Vertrauen. Die Menschen müssen der Wissenschaft, den Behörden und den Medien vertrauen. In den letzten Jahren haben unverantwortliche Politiker dieses Vertrauen in die Wissenschaft, in die Behörden und in die Medien aber bewusst untergraben. Jetzt könnten dieselben Politiker in Versuchung geraten, die Schnellstrasse zum autoritären Staat zu nehmen, indem sie behaupten, wir könnten nicht darauf vertrauen, dass die Leute von sich aus das Richtige täten.

In normalen Zeiten lässt sich Vertrauen, das über Jahre untergraben worden ist, nicht über Nacht wieder aufbauen. Aber in einer Krise kann sich auch das Denken schnell ändern. Wir können uns mit unseren Geschwistern über Jahre bitter streiten, aber wenn es zu irgendeiner Notlage kommt, finden wir ein verstecktes Reservoir von Vertrauen und Zuneigung und eilen einander zu Hilfe. Wir müssen kein Überwachungsregime einführen, stattdessen können wir das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft, die Behörden und die Medien wieder aufbauen; dafür ist es nicht zu spät.

Nachtrag vom 29.03.: Ich habe jetzt gesammelt, warum ich in der Corona-Krise den staatlichen Behörden und Medien nicht vertraue. Die haben sich kurz gesagt selbst als verlässliche Quelle disqualifiziert.

Nachtrag vom 02.04.: Wer kurz & knackig wissen will, was Gouvernementalität ist, braucht dazu aktuell nur das Strategiepapier des Innenministeriums zu lesen.

Nachtrag vom 13.05.: Ich hab zur Gouvernementalität noch mal nachgelegt.

Nachtrag vom 28.07.: Der Hamburger Rechtsanwalt Rolf Karpenstein sagt im Deutschlandfunk:

In Sachen Corona schrillten meine Alarmglocken schon am 18. März, als die Kanzlerin die Republik beschwor: “Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen.”

Danke, nein danke. Staatlich betreutes Denken lehne ich ab. Ich denke und ich recherchiere selbst.

Nachtrag vom 29.07.: Ein Artikel in der Graswurzelrevolution hebt hervor, was mir beim Anhören der Merkel-Rede auch gleich aufgefallen war:

Dabei werden auf der propagandistischen Ebene, wie die Reden von Bundeskanzlerin und Bundespräsident verdeutlichen, alle im großen „Wir“ mitgenommen.

Und im Verfassungsblog habe ich einen passenden Artikel gefunden: Staatswohl vor Menschenwohl. Der Titel sagt eigentlich schon alles.

Nachtrag vom 18.11.: Sehr wichtiger Vortrag von Daniele Ganser über die verschiedenen Arten von Corona-Angst; bei mir überwiegt bisher die Diktatur-Angst. Besser ist es in jedem Fall, sich nicht von Angst welcher Art auch immer leiten zu lassen.