Hermann Hesse als Wegweiser meines Lebens

Soeben habe ich, mit 37 Jahren, das zweite Mal den Steppenwolf von Hermann Hesse gelesen. Beim ersten Mal war ich 14. Alle meine Freunde und anderen Leute aus meinem Jahrgang waren damals mit völlig anderen Dingen beschäftigt.

Im Rückblick stelle ich fest, dass dieses Buch alle wesentlichen Motive meines bisherigen Lebens enthält. Es hat mich damals beim ersten Lesen tief beeindruckt, und das aus guten Gründen.

Angefangen mit der christlichen Erziehung des Harry Haller:

Was die anderen, was die Umwelt betraf, so machte er beständig die heldenhaftesten und ernstesten Versuche, sie zu lieben, ihnen gerecht zu werden, ihnen nicht weh zu tun, denn das “Liebe deinen Nächsten” war ihm ebenso tief eingebläut wie das Hassen seiner selbst, und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus.

Diese Isoliertheit nannte ich in einem Text, den ich in der Schulzeit schrieb, meinen “Ich-Modus”. Während meiner Zeit in Bielefeld setzte ich mich ausgiebig mit dieser christlichen Erziehung auseinander. Dabei exorzierte ich mir z.B. einmal Jesus als Träger dieses “Liebe deinen Nächsten und ignoriere dabei dich selbst”.

Damals und noch etliche Jahre länger teilte ich die Verachtung des Bürgerlichen, wo ich selber in einem bürgerlichen Haushalt aufwuchs.

Nie wird er [der Bürger] sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen – im Gegenteil, sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs.

Tatsächlich bin ich sogar im Steppenwolf das erste Mal dem Anarchismus begegnet, ohne ihn damals bewusst wahrzunehmen:

Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er “Persönlichkeit” nennt, liefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch “Staat” aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürger heute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.

Das zentrale Thema des Buches ist auch eines meiner zentralen Lebensthemen:

Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. […] Denn es ist ein, wie es scheint, eingeborenes und völlig zwanghaft wirkendes Bedürfnis aller Menschen, daß jeder sein Ich als eine Einheit sich vorstelle. […] In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.

Da fällt mir spontan der Selbst-Metaprogrammierer von John Lilly ein, und natürlich Käptn Peng.

Anders als für Harry Haller war für mich Selbstmord nie eine Option, in meiner “dunklen Phase” in Bielefeld war es mir höchstens egal, ob ich lebe oder tot bin. In dem Punkt war ich offenbar schon immer etwas offener und bereiter, mich zu verändern, als Harry:

Obwohl ihm vom Ziel der Menschwerdung mehr bewußt ist als den Bürgern, macht er doch die Augen zu und will nicht wissen, daß das verzweifelte Nichtsterbenwollen der sicherste Weg zum ewigen Tode ist, während Sterbenkönnen, Hüllenabstreifen, ewige Hingabe des Ichs an die Wandlung zur Unsterblichkeit führt.

Folgerichtig bin ich bei der Prozessorientierten Psychologie gelandet, die sich sozusagen die “ewige Hingabe des Ichs an die Wandlung” auf die Fahnen geschrieben hat. Wie Arnold Mindell so schön sagt: Das Leben ist zu kurz, um nur eine Identität zu haben.

Im “Tractat vom Steppenwolf” konnte ich schon damals mit 14 Jahren lesen, dass ich hier in einer dualen Welt lebe:

Zurück führt überhaupt kein Weg, nicht zum Wolf, noch zum Kinde. Am Anfang der Dinge ist nicht Unschuld und Einfalt; alles Erschaffene, auch das scheinbar Einfachste, ist schon schuldig, ist schon vielspältig, ist in den schmutzigen Strom des Werdens geworfen und kann nie mehr, nie mehr stromaufwärts schwimmen.

Wiederum in meiner dunklen Phase sagte ich mir eine Zeitlang immer wieder Keine Erlösung! Wovon auch? Hier spielt sich das Leben ab.

Die Richtung ist für mich heute so klar, wie sie im Steppenwolf beschrieben ist: Bewusstseinserweiterung.

Jede Geburt bedeutet Trennung vom All, bedeutet Umgrenzung, Absonderung von Gott, leidvolle Neuwerdung. Rückkehr ins All, Aufhebung der leidvollen Individuation, Gottwerden bedeutet: seine Seele so erweitert haben, daß sie das All wieder zu umfassen vermag.

Harrys Widerstände, sich erneut mit sich selbst zu konfrontieren, habe ich besonders in meiner dunklen Phase nachempfinden können:

Nein, bei allen Teufeln, es gab keine Macht in der Welt, die von mir verlangen konnte, nochmals eine Selbstbegegnung mit ihren Todesschauern und nochmals eine Neugestaltung, eine neue Inkarnation durchzumachen, deren Ziel und Ende ja nicht Friede und Ruhe war, sondern nur immer neue Selbstvernichtung, immer neue Selbstgestaltung!

Hier beschreibt er, wie es mir erging, als ich meinen Lebensweg bis zum Informatik-Vordiplom Revue passieren ließ und zu dem Schluss kam, dass ich gar nicht selbst gelebt habe, sondern gelebt worden sei:

Zugleich dachte ich: So wie ich jetzt mich anziehe und ausgehe, den Professor besuche und mehr oder weniger erlogene Artigkeiten mit ihm austausche, alles ohne es eigentlich zu wollen, so tun und leben und handeln die meisten Menschen Tag für Tag, Stunde um Stunde zwanghaft und ohne es eigentlich zu wollen, machen Besuche, führen Unterhaltungen, sitzen Amts- und Bureaustunden ab, alles zwanghaft, mechanisch, ungewollt, alles könnte ebensogut von Maschinen gemacht werden oder unterbleiben; und diese ewig fortlaufende Mechanik ist es, die sie hindert, gleich mir, Kritik am eigenen Leben zu üben, seine Dummheit und Seichtheit, seine scheußlich grinsende Fragwürdigkeit, seine hoffnungslose Trauer und Öde zu erkennen und zu fühlen.

Ein weiteres Grundthema des Romans habe ich erst in den letzten Jahren wirklich begriffen, nämlich den kosmischen Witz. Den drückt besonders schön Goethe in einem Traum des Steppenwolfs aus:

Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spaß. Der Ernst, mein Junge, ist eine Angelegenheit der Zeit; er entsteht, soviel will ich dir verraten, aus einer Überschätzung der Zeit.

Später im Buch heisst es:

Nun erst verstand ich Goethes Lachen, das Lachen der Unsterblichen. Es war ohne Gegenstand, dies Lachen, es war nur Licht, nur Helligkeit, es war das was übrigbleibt, wenn ein echter Mensch durch die Leiden, Laster, Irrtümer, Leidenschaften und Mißverständnisse der Menschen hindurchgegangen und ins Ewige, in den Weltraum durchgestoßen ist.

Mit dem Theoretisieren hatte ich mich, ähnlich wie Harry Haller, bis vor ein paar Jahren herumgequält und war nicht aus dem Knick gekommen, blieb in der Opferrolle stecken:

An keinem Wissen, an keiner Einsicht war mir mehr das mindeste gelegen, eben damit war ich ja überfüttert, eben darin lag die schärfste und höhnendste Qual für mich, daß ich meinen eigenen Zustand so deutlich sah, seiner so sehr bewußt war. […] Aber nicht Wissen und Verstehen war es, was not tat, wonach ich mich so verzweifelt sehnte, sondern Erleben, Entscheidung, Stoß und Sprung.

Ebenfalls ähnlich wie Harry konnte ich lange Zeit meines Lebens mit “Kleinigkeiten”, Smalltalk, Schmuck nichts anfangen und verschloss mir damit den Zugang zur Liebe, den mir dann Sabine offenbarte:

Ich lernte vor allem, daß diese kleinen Spielzeuge, Mode- und Luxussachen nicht bloß Tand und Kitsch sind und eine Erfindung geldgieriger Fabrikanten und Händler, sondern berechtigt, schön, mannigfaltig, eine kleine oder vielmehr große Welt von Dingen, welche alle den einzigen Zweck haben, der Liebe zu dienen, die Sinne zu verfeinern, die tote Umwelt zu beleben und zauberhaft mit neuen Liebesorganen zu begaben, vom Puder und Parfüm bis zum Tanzschuh, vom Fingerring bis zur Zigarettendose, von der Gürtelschnalle bis zur Handtasche. Diese Tasche war keine Tasche, der Geldbeutel kein Geldbeutel, Blumen keine Blumen, der Fächer kein Fächer, alles war plastisches Material der Liebe, der Magie, der Reizung, war Bote, Schleichhändler, Waffe, Schlachtruf.

Hier klingt auch schon die Welt des Tantra an, in die ich mit Sabine zusammen eingetaucht bin. Dieser Einstieg war für mich mit den gleichen Hindernissen verbunden wie für den Steppenwolf,

denn Sinnenleben und Geschlecht hatten für mich fast immer den bittern Beigeschmack von Schuld gehabt, den süßen, aber bangen Geschmack der verbotenen Frucht, vor der ein geistiger Mensch auf der Hut sein muß.

Harrys Ekstase beim Maskenball in der Hölle gleicht wunderbar der tantrischen Vereinigung:

Ich war nicht mehr ich, meine Persönlichkeit war aufgelöst im Festrausch wie Salz im Wasser. Ich tanzte mit dieser oder jener Frau, aber nicht nur sie war es, die ich im Arm hatte, deren Haar mich streifte, deren Duft ich einsog, sondern alle, alle die andern Frauen mit, die im selben Saal, im selben Tanz, in derselben Musik wie ich schwammen und deren strahlende Gesichter wie große phantastische Blumen mir vorüberschwebten, alle gehörten mir, allen gehörte ich, alle hatten wir aneinander teil. Und auch die Männer gehörten dazu, auch in ihnen war ich, auch sie waren mir nicht fremd, ihr Lächeln das meine, ihr Werben das meine, meines das ihre.

Und als er dann mit Hermine tanzt:

Alle Frauen dieser fiebernden Nacht, alle, mit denen ich getanzt hatte, alle, die ich entzündet, alle, die mich entzündet hatten, alle, um die ich geworben, alle, an die ich mich verlangend geschmiegt, alle, denen ich mit Liebessehnsucht nachgeblickt hatte, waren zusammengeschmolzen und eine einzige geworden, die in meinen Armen blühte.

Pablos Rolle im Magischen Theater liegt mir sehr:

Sie sehnen sich danach, diese Zeit, diese Welt, diese Wirklichkeit zu verlassen und in eine andre, Ihnen gemäßere Wirklichkeit einzugehen, in eine Welt ohne Zeit. Tun Sie das, lieber Freund, ich lade Sie dazu ein. Sie wissen ja, wo diese andre Welt verborgen liegt, daß es die Welt Ihrer eigenen Seele ist, die Sie suchen. Nur in Ihrem eigenen Innern lebt jene andre Wirklichkeit, nach der Sie sich sehnen. Ich kann Ihnen nichts geben, was nicht in Ihnen selbst schon existiert, ich kann Ihnen keinen andern Bildersaal öffnen als den Ihrer Seele. Ich kann Ihnen nichts geben, nur die Gelegenheit, den Anstoß, den Schlüssel. Ich helfe Ihnen Ihre eigene Welt sichtbar machen, das ist alles.

Um ins Magische Theater eingelassen zu werden, entledigt sich Harry seiner Persönlichkeit:

Dieses entbehrlich gewordene Spiegelbild werden Sie jetzt auslöschen, lieber Freund, mehr ist nicht vonnöten. Es genügt, daß Sie, wenn Ihre Laune es zuläßt, dieses Bild mit einem aufrichtigen Lachen betrachten. Sie sind hier in einer Schule des Humors, Sie sollen lachen lernen. Nun, aller höhere Humor fängt damit an, daß man die eigene Person nicht mehr ernst nimmt.

Don Juan und Käptn Peng lassen grüßen.

Das Bild von der Persönlichkeit als Schachspiel mit beliebig vielen Figuren ist mir beim ersten Lesen mit 14 am deutlichsten in Erinnerung geblieben.

Letzten Endes handelt der Steppenwolf von nichts anderem als vom Erwachsenwerden in dieser dualen Welt der Erscheinungen.

Dafür sage ich nun auch Hermann Hesse von ganzem Herzen Danke!

Nachtrag vom 31.01.2017: Der Steppenwolf hatte mich seinerzeit auch zu dem Gedicht Scherben inspiriert.