Die Opfertrance und Wege aus ihr heraus

Dass ich lange Jahre meines Lebens in der Opferrolle verbracht habe, habe ich ja schon an mehreren Stellen gebloggt. Nun habe ich in der Facebook-Gruppe Kriegsenkel Berlin einen Artikel von Alexandra Schumacher über die Opfer-Trance entdeckt & im Zuge dessen einen weiteren Raus aus der Opfertrance - rein ins wirkliche Leben (von Lars Basczok). Was das überhaupt ist, beschreibt Alexandra Schumacher so:

Wenn wir die beiden Worte „Opfer“ und „Trance“ unter die Lupe nehmen, dann bezieht sich der Begriff „Opfer“ auf die Schuldlosigkeit eines Einzelnen in Bezug auf das ihm widerfahrende Leid. Die Trance – abgeleitet aus dem Lateinischen „transire“ = hinübergehen – bezeichnet einen Bewusstseinszustand, in dem sich eine Person intensiv und ausschließlich auf eine Thematik – wie in diesem Fall das Opferdasein – konzentriert.

Je nach Tiefe der Opfertrance bewirkt diese eine schwach oder stark herabgesetzte Wachheit, auch gegenüber jenen Aspekten der Wirklichkeit, die der Realität des Opferdaseins widersprechen. Der Bewusstseinsforscher Charles Tart beschreibt den Zustand der durchschnittlichen oder normalen Aufmerksamkeit als Alltagstrance (siehe Trance, Wikipedia). Im Gegensatz zur weiten und panoramaartigen Achtsamkeit fokussieren und verengen wir uns in der Opfer-Trance – manchmal sogar, ohne unser Opfer-Sein zu bemerken.

Lars Basczok beschreibt die Opfertrance folgendermaßen:

Dass dich deine Gedanken in eine Trance und damit schachmatt setzen, ist kein Wunder, denn eine Trance ist so etwas wie ein Traum. Das heißt, sie kann dir vollkommen beängstigend und real erscheinen, während du bloß schläfst. Ähnlich wie in einem Traum nehmen wir in der Trance imaginäre Hürden und unlösbare Probleme wahr. In Wirklichkeit sind diese Probleme allein mentaler Natur. Bist du also überzeugt, dass du nicht kannst und dein Projekt zu schwer ist, dann kannst du auch nicht und es ist einfach zu schwer. In eine Trance denkst du dich hinein wie in einen Tunnel. In diesem Tunnel scheint es nur ein mögliches Ende zu geben, nämlich das von dir selbstprophezeite. Alle weiteren, besseren Möglichkeiten sind innerhalb dieser Opfertrance nicht wahrnehmbar. Am Ende erscheinen dir die Barrieren so echt und unüberwindbar, dass es dich schier verzweifeln lässt. Manchmal fühlt sich selbst dein Körper wie gelähmt an, Starre und Unbeweglichkeit treten auf. Alles deutet darauf hin, dass es keinen Weg da heraus mehr für dich gibt.

Es handelt sich also um eine paradoxen Zustand. Ich habe mich selbst zum Opfer gemacht. Und letzteres aber (absichtlich!) vergessen. Erinnert übrigens sehr an den Urknall. ;-)

Basczok schreibt weiter:

Seine Kraft schöpft dieser Virus aus der Macht alter Gewohnheiten. Denn unser Gehirn möchte auf vertraute Muster zurückgreifen, weil das Energie spart. Mit dem Verharren im altbekannten „Ich kann nicht“ nähren wir also unbewusst auch noch die Kraft der Trance – für das Gehirn ist es ein entspannter Routinejob. Jedes Wiederholen der zerstörerischen Grundüberzeugungen und Gewohnheiten macht die Trance mächtiger, weil das Gehirn auf immer besser eingefahrene Muster zurückgreifen kann, deren Wiederholung es fast automatisch erledigt – ein Teufelskreis.

Mithin eine fiese Angelegenheit. Und doch – all is not lost! – es besteht Hoffnung, da wieder raus zu kommen. Makelloses Handeln ist jederzeit möglich, auch in der tiefsten Opfertrance. Die fünf Schritte, die Lars Basczok empfiehlt, sind eine gute Richtlinie. Du kannst auch mit der Frage anfangen:

Wer hat sich in die Opfertrance begeben?

Denn das Sich-in-die-Opfertrance-begeben war ein aktiver Schritt, den eben gerade kein Opfer getan hat, sondern etwas oder jemand anderes als das Opfer. Und auf der körperlichen Ebene kannst du einfach den Atem beobachten. Der ist immer da, solange wir leben, & zwar egal ob wir Opfer, Täter oder Schöpfer sind. Also weist der Atem auf jeden Fall über die Opferrolle hinaus.

Die gedankliche Voraussetzung, um aus der Opfertrance rauszukommen, ist, es für möglich zu halten, dass du selbst etwas tun kannst. Auch wenn du das in der Opfertrance natürlich erst mal nicht glaubst, kannst du ein Experiment daraus machen & es einfach mal ausprobieren. Verlieren kannst du dabei nichts, denn schlimmer kann es eh nicht mehr werden. ;-)

Mir hat seinerzeit auch Arno Gruens Buch Der Verrat am Selbst geholfen, wo er beschreibt, dass der Schritt zur Befreiung ist, überhaupt erst einmal anzuerkennen, dass ich mich selbst entschieden habe, mich zu unterwerfen. Diese Erkenntnis tut sehr, sehr weh. Wie es in der Rezension heisst, “findet der zur Autonomie Ermutigte Freiheit im Akzeptieren seiner Verwundbarkeit.”

Update: Zum Thema Trance gibt es beim Auditorium Netzwerk eine ganze Reihe von Mitschnitten von der Jahrestagung der Milton Erickson-Gesellschaft: Trancephänomene in Therapie und Gesellschaft.

Update vom 12.06.: Gerade habe ich einen tollen Text von Lydia Hantke gefunden, Zur Überwindung der Hilflosigkeit.

Update vom 24.06.: In diesem Artikel darf das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung nicht fehlen. In der Opfertrance erwartet man eben gerade, dass man nichts bewirken kann, um die eigene Situation zu verändern. Und heute habe ich im Artikel Trauma, Tod und Freiheit II beschrieben, wie schwer es unter manchen Umständen sein kann, aus der Opfertrance herauszufinden.