Trauma, Tod und Freiheit II

Nachdem ich das Buch Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt von Gaby Breitenbach gelesen habe, relativiere ich meine Aussagen zu Trauma, Tod und Freiheit, zur Opfertrance und zum Gehorchen.

Ich habe die Möglichkeiten und die Entschlossenheit der Menschen, einander zu Opfern zu machen, um sich die eigene Macht zu beweisen, unterschätzt.

Gaby Breitenbachs Buch beschreibt eine Parallelwelt organisierter Gewalt, deren Existenz mir bisher so noch nicht klar war:

Dennoch, diese parallele Schattenwelt ist keine Erfindung schreckensgeiler Therapeuten und nicht die Ausgeburt eines perversen Verfolgungswahns. Sie ist Folge eines immer größer werdenden Marktes für sadistische Gewalt, die durch spezifische Medien oft bagatellisiert und schließlich dadurch hoffähig gemacht wird. Sie ist auch die Folge der immer weiter klaffenden Schere in einer Gesellschaft zwischen Menschen, die mit ihren fehlenden sozialen Möglichkeiten nach unten aus der Gesellschaft herausfallen und solchen, deren Profit an der Gesellschaft weit überdurchschnittlich ausgeprägt ist. Extreme Gewalt ist auf beiden Enden der sozialen Skala zu finden. Lässt sich am “unteren sozialen Rand” eine Erklärung der öffentlich sichtbaren, oft eruptiven und unorganisierten Gewalt in fehlender Teilhabe an der Gesellschaft, Frustabbau usw. finden, so existiert sie als organisierte Gewalt auf der anderen Seite der Skala, der “oberen sozialen Schicht”. Hier ist die Gewalt nicht-öffentlich, geleugnet, versteckt hinter gut verschlossenen Türen. Sie ist oft viel systematischer und lang anhaltender. Während jemand, der “unten” aus der Gesellschaft fällt, sich nicht mehr verpflichtet sieht, sich an Normen zu halten, scheint “oben” bisweilen die Idee vorzuherrschen, sich quasi als Übermensch ebenfalls nicht mehr verpflichtet zu sehen und zu glauben, “sich alles erlauben zu können”.

Exemplarisch zeigt das die Figur des Christian Grey aus den Shades of Grey-Romanen, der auf die Frage, warum er etwas bestimmtes tut, regelmäßig antwortet “weil ich es kann”.

In dieser Parallelwelt extremer Gewalt werden die Überlebensmechanismen des Körpers gezielt verwendet, um Menschen zu konditionieren bis hin zu programmieren. Die Opfer werden gezielt traumatisiert und dadurch immer weiter entmenschlicht. Der schon früher erwähnte Artikel Was passiert bei einem Trauma? erklärt gut die Mechanismen, die im Gehirn bei Traumatisierung ablaufen. Diese Mechanismen werden gezielt benutzt, um Menschen, vor allem Frauen, regelrecht zu Robotern zu formen. Dabei bleibt diesen oft nicht mal der Tod als Ausweg:

Hat zunächst der Organismus mit seinem “Überleben um jeden Preis” dafür gesorgt, dass man überhaupt so viel ertragen musste, ohne wählen zu können, einfach zu sterben – so haben im weiteren Verlauf die Täter entschieden, dass das Leben und das Sterben des Opfers von ihrem Gutdünken abhängt. Nicht selten begegnen wir Opfern, die die Vielzahl der Reanimationen nicht mehr zu zählen vermögen und uns berührende Geschichten erzählen, welche Angebote sie ihren Peinigern gemacht haben, einfach nur um sterben zu dürfen.

Ein weiterer Grund, warum ich meine Aussagen speziell zum Opferdasein relativiere, ist, dass viele dieser Opfer schon von der Geburt an gequält, konditioniert und trainiert wurden. So weit kann das gehen:

Viele von ihnen sind an kultischen und Gruppenfeiertagen geboren worden (und viele unter “Nachhilfe” medizinischer Art).

Als Neugeborene sind wir zunächst noch vollkommen abhängig von den Menschen um uns herum. Um zu überleben, passen wir unser Verhalten ihnen an und übernehmen später auch deren Deutungen. Da solche Menschen nie etwas anderes kennen gelernt haben, wäre es vermessen, ihnen im Erwachsenalter eine Opferhaltung vorzuwerfen. In der Welt gesunder Bindung sind diese Menschen wie Neugeborene oder wie Kleinkinder, die diese Welt erst noch entdecken und sich darin zurechtfinden müssen, so schrecklich wie sich das anhört. Jeder kleinste Schritt heraus aus ihrem Opfersein verlangt von ihnen wahnsinnig viel Mut und Vertrauen, das gewürdigt werden will. Dagegen erscheint das, was ich erlebt habe & was mich seinerzeit in meine Opferrolle gebracht hat, wirklich harmlos.

Diese Form der Folter geht noch weit über das “normale” Grauen des Krieges hinaus.

Nachtrag vom 25.06.: Den Glaubenssatz aus meinem ersten “Trauma, Tod und Freiheit”-Beitrag, dass jeder Mensch alles aushalten kann, behalte ich allerdings bei. Das widerspricht nur scheinbar dem, was ich oben geschrieben habe. Denn mit dieser Haltung werte ich keineswegs das ab, was die Opfer der organisierten Gewalt erlebt haben. Ich würdige, dass sie damit leben und glaube daran, dass sie damit auch weiter leben können & mit der Zeit besser damit umgehen und sich in der Welt gesunder Bindung einleben können. Wie Gaby Breitenbach schreibt:

Es geht um die (Wieder-) Eroberung der Welt als Platz, an dem sich leben lässt, an dem man ein Lebensrecht besitzt und einen Anspruch auf Lebensqualität.

Mein Glaubenssatz besagt einfach, dass das geht, dass das möglich ist.