Die Theorie von Vipassana braucht ein Update für das 21. Jahrhundert

Bei diesem provizierenden Titel stelle ich gleich zu Beginn klar, dass es mir dabei ausschliesslich um die Theorie von Vipassana geht. Die Praxis, die Methode ist super, sie braucht & sollte nicht verändert zu werden. Immerhin bin ich durch sie so tief angekommen wie nie zuvor in meinem Leben. Auch der äußere Rahmen eines Kurses, die Abgeschiedenheit & die Regeln, halte ich für sehr sinnvoll & der Methode sehr angemessen. Für die Deutung dessen, was da bei einem Vipassana-Kurs geschieht, haben sich in den letzten 2.500 Jahren jedoch einfach etliche neue Perspektiven ergeben. Um die soll es hier gehen.

Zu Beginn skizziere ich grob, wie Satya Narayan Goenka in seinen abendlichen Vorträgen die Wirkung des Kurses beschreibt. Er vertritt eine von vielen Strömungen des Buddhismus, im Folgenden schreibe ich verkürzend “der Buddhismus” und meine damit den von Goenka vertretenen Buddhismus (er steht dem Theravada nahe, unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten).

Die Grundlage der Vipassana-Meditation ist sīla, das Einhalten sittlicher bzw. moralischer Regeln. Dabei geht es nicht um die Sittlichkeit an sich, sondern diese ist erforderlich, damit sich der Geist überhaupt konzentrieren kann. Denn, so der Buddhismus, wer sich unsittlich bzw. unmoralisch verhält, schadet zuallererst sich selbst, weil dadurch innerer Aufruhr entsteht, in Form von Schuldgefühlen u.ä.

Panyasara schreibt:

Zusammenfassend lässt sich sagen: Nur durch die Basis eines ethischen Verhaltens ist auch die Sammlung des Geistes möglich. Und nur durch diese wird es möglich, alle Unreinheiten auszulöschen.

Goenka betont dabei sogar die Auswirkungen unethischen Verhaltens auf einen selbst mehr, als die Auswirkungen auf andere. Diese Form von Ethik & Sittlichkeit ist daher extrem individualistisch, fast schon egozentrisch.

Die Sammlung des Geistes, die Konzentration, heißt im Edlen Achtfachen Pfad des Buddhismus samādhi. Im ersten, vorbereitenden Teil eines Kurses übt man mit Anapanasati, dem Beobachten der Atmung, allein die Konzentration.

Um den Geist zu konzentrieren, kann man prinzipiell jedes beliebige Objekt wählen. Dass man sich bei Vipassana gerade auf den Atem konzentriert, hat mehrere Gründe. Zum einen ist der Atem universell: jeder Mensch atmet. Damit ist Anapanasati für jeden Menschen, egal welcher Glaubensrichtung, geeignet. Das ist ein Grundsatz im Vipassana: dass die Methode und auch die Deutung derselben universell ist, also jenseits bestimmter Religionen und Überzeugungen für alle anwendbar und gültig. Der zweite Grund liegt darin, dass der Atem sowohl bewusst gesteuert werden kann als auch unbewusst, ohne Kontrolle, weitergeht. Vipassana dient dazu, normalerweise unbewusste Bereiche des Geistes zu erforschen. Daher eignet sich der Atem ganz besonders, weil er beide Bereiche berührt, die bewusste & die unbewusste Wahrnehmung.

Die ersten drei Tage sind nicht bloss reine Konzentration, sondern auch dabei gibt es schon etwas über sich selbst zu erfahren: nämlich dass der Geist einen unheimlichen Drang hat, von einem Objekt der Konzentration abzuschweifen & umherzuspringen. Das Ganze wird deshalb wie eine wissenschaftliche experimentelle Methode beschrieben. Unter dem Motto Komm und sieh! fordert der Buddhismus dazu auf, nichts unhinterfragt zu glauben, sondern alle Aussagen selbst zu überprüfen. Im Kern ist er deshalb keine Religion, sondern eine Wissenschaft.

Während der Dauer des Kurses muss man zwingend auf andere religiöse Praktiken verzichten, und zwar nicht um diese schlecht zu machen, sondern einzig & allein damit man die Vipassana-Methode in ihrer reinen Form durchführen kann. Man stellt sozusagen möglichst gleiche Anfangsbedingungen für den (Selbst-) Versuch her.

Weiterhin sagt zumindest diese Richtung des Buddhismus, dass sich aus dem Leiden nur jeder Mensch selbst, durch eigene Anstrengung, befreien kann. Ein Buddha kann nur den Weg weisen, gehen musst du ihn selbst.

Auf diesem Weg ist samādhi eine notwendige Zwischenstation, führt aber für sich noch nicht zum Ziel. Erst mit paññā, der Weisheit, lässt sich die vollständige Befreiung erreichen. Und auch hier ist die einzig wahre Weisheit diejenige, die auf eigener Erfahrung gründet (bhāvanā-mayā paññā).

Die Weisheit besteht im Erkennen “der Wahrheit”, genauer der Vier Edlen Wahrheiten. Diese sind, wie sollte es anders sein, universell und darüber hinaus sogar ewig gültig. Goenka spricht immer wieder gerne von “Naturgesetzen”.

Die eigentliche Vipassana-Meditation, also das Beobachten der Empfindungen im Körper, dient dem Herausbilden von paññā. Dabei ist die wichtigste Erkenntnis, dass alles entsteht und wieder vergeht, sich ständig wandelt, nichts dauerhaft von Bestand ist (anicca). Die Gewohnheit des Geistes, sich an Erscheinungen wie Empfindungen oder auch Gedanken festzuhalten (upādāna, Anhaftung), in Form von Verlangen oder Abneigung, kann dadurch stückweise als unsinnig erkannt werden. Wenn sich das, was ich festhalte oder wegstoße, eh wandelt, warum dann noch festhalten oder es wegstoßen? Gleichmut, das Nicht-Reagieren auf die Empfindungen, ist dabei der Schlüssel zur Weisheit.

Die grundlegendste Ursache des Leidens, das tiefste der drei Geistesgifte, ist dabei neben Verlangen und Abneigung die Unwissenheit. Diese besteht darin, den Objekten der Wahrnehmung Substanz und Wesenhaftigkeit zuzuschreiben, obwohl sie doch tatsächlich anatta sind. Genauer gesagt erkennt man nicht die drei Daseinsmerkmale.

Ist alles erst mal als substanzlos erkannt, ergibt Anhaftung keinen Sinn mehr. Das ist dann auch die vollständige Befreiung.

So weit in knapper Form die Theorie von Vipassana nach S. N. Goenka.

Wenn wir uns das durch die Spiral Dynamics-Brille anschauen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass diese Theorie auf Blau/ORANGE angesiedelt ist, also starke Blaue Wurzeln hat, aber im Kern doch eine Orange Sichtweise ist. Die blauen Grundlagen sind:

  • Sittlichkeit/Moral als Grundlage
  • Selbstdisziplin als Voraussetzung der Methode
  • universelle “Wahrheiten”, “Naturgesetze”
  • blau ist ausserdem das Rezitieren von Pali-Texten, was Goenka zwischen seinen Meditationsanweisungen immer wieder tut

Den orangen Kern macht aus:

  • Vipassana als experimentelle Methode
  • eigenes, kritisches Überprüfen von Aussagen
  • Befreiung ausschliesslich durch eigene Leistungen
  • Ethik als Mittel zum Zweck der Beruhigung des eigenen Geistes
  • Verzicht auf religiöse Riten während des Kurses

Vor 2.500 Jahren war das eine sehr fortschrittliche Sichtweise, die ihre Vorgängerstufe elegant mit einbezieht: Blaue Disziplin als Unterordnung unter andere wird zu Selbstdisziplin verinnerlicht. Dass die Moral nur Mittel zum Zweck ist, übersieht jemand mit Schwerpunkt auf Blau im Zweifelsfall einfach. Diese Person wird durch die klaren Regeln auf jeden Fall angesprochen & ins Boot geholt. Auch das ständige Reden von “Wahrheit” und universellen Gesetzen erfüllt das wichtigste Blaue Bedürfnis. Und selbst Blaue Riten werden nicht verteufelt, sondern nur für die Dauer des Kurses draußen gehalten, ja, sie bekommen in Form des Rezitierens sogar ihren Platz im Kurs. Gleichzeitig weist Vipassana in dieser Form klar über Blau hinaus mit dem Orangen Motto “Komm und sieh”.

In den vergangenen 2.500 Jahren hat sich allerdings einiges getan. So geht dem Buddhismus die systemische Sichtweise vollkommen ab, wie auch jegliches Feldbewusstsein. Das ist auf Orange einfach noch nicht entwickelt, da geht es um das Individuum. Und an dieser Stelle tun sich einige Widersprüche bzw. Paradoxien in der Theorie auf.

Schon der Satz “Ich bin erleuchtet” geht so gar nicht, denn Erleuchtung besteht gerade darin, dass sich das Ich vollständig auflöst. Es lässt sich daher maximal sagen “Erleuchtung erscheint”. Schon auf dem Weg dort hin finden sich solche Paradoxien. Solange “ich” “meine” Körperempfindungen beobachte, hafte “ich” an der Illusion eines Ego an und verhindere damit gerade “meine” Befreiung.

Es scheint, dass auch der Buddhismus selbst (jedenfalls in dieser Ausprägung) noch einer Illusion, einer Verblendung unterliegt, nämlich der in diesem Blog altbekannten Illusion der Getrenntheit. Ich kann nur noch mal Shpongle zitieren (übrigens eine wunderschöne Beschreibung der Erleuchtung):

When shall I be free? When I shall cease to be. No more I, but we In perfect harmony

Damit hängt eng zusammen, dass Goenka immer wieder davon spricht, man würde beim Vipassana “die Wirklichkeit, wie sie ist” beobachten. Auch hier setzt er wieder ein Ich voraus, das da beobachtet, welches er auf der anderen Seite aber unbedingt loswerden will. Statt “Ich” beobachte “meine” Körperempfindungen lässt sich berechtigterweise nur sagen “es erscheinen Empfindungen”. Die erste Frage darf daher nur sein wer oder was beobachtet da eigentlich? Erst danach können wir im zweiten Schritt überlegen, welcher Art die Inhalte der Beobachtungen sind. Und beim heutigen Stand der Forschung können wir Frage 1 (natürlich unter Vorbehalt) beantworten: Das jeweilige Nervensystem nimmt die Empfindungen wahr. Daraus folgt, dass das, was da wahrgenommen wird, nur Nervenimpulse sein können. Wahlweise solche von Rezeptoren am Rande des Nervensystems oder Impulse von innerhalb des Nervensystems selbst. Sollte ausserhalb des Nervensystems etwas existieren, beispielsweise Muskeln oder Faszien, dann können “wir” (will sagen, das jeweilige Nervensystem) diese eben gerade nicht “wie sie sind” wahrnehmen, sondern nur die Signale, die die entsprechenden Rezeptoren liefern. Man landet also unweigerlich beim Radikalen Konstruktivismus.

Das Sprechen über “Wahrheit” ist deshalb im heutigen Stadium der menschlichen Gesellschaft, jedenfalls hier in Mitteleuropa, ebenfalls veraltet & kontraproduktiv. Denn von Heinz von Foerster wissen wir, dass Wahrheit die Erfindung eines Lügners ist.

Eine weitere Paradoxie: Wenn alles vergänglich ist, warum ist dann nicht auch das “Naturgesetz” der Vergänglichkeit selbst vergänglich? Der Buddhismus postuliert einfach, dass auf immer und ewig nie auch nur irgendetwas dauerhaft gleich bleibt. Dabei bleibt doch gerade etwas gleich: Der Zeuge, das kausale Bewusstsein. Ist ja auch logisch, irgendwer oder irgendwas muss schliesslich dafür sorgen, dass ewig gültige Gesetze auch wirklich ewig gelten. ;-)

Zu guter Letzt finde ich den Buddhismus, auch wenn Goenka das in einem Vortrag explizit von sich weist, recht pessimistisch mit seiner Betonung des Leidens. Das letztendliche Ziel ist eben, aus dem Kreislauf der Wiedergeburten und damit aus dieser Welt der Erscheinungen komplett auszusteigen. An einer Stelle heisst es sogar, dass man im Verlauf des Übens von Vipassana zu einem Zustand kommt, in dem man diese Existenz widerlich findet (Nibbida). Wulf Mirko Weinreich versucht das in seinem Anderen Totenbuch so zu erklären:

Der Buddhismus ist in einer Zeit entstanden, in der die Entwicklung der äußeren Welt so langsam vonstatten ging, dass sie kaum wahrnehmbar war, so dass das Leben als die Wiederkehr des Immergleichen gesehen wurde. Deshalb erschien es kaum sinnvoll, mehrfach zu inkarnieren, außer aus Mitgefühl. Inzwischen hat die Evolution ziemlich an Fahrt gewonnen, so dass Wilber neben der “Entwicklung zu mehr Wachheit”, wie sie durch die Erforschung der Innenwelt erreicht werden kann, eine zweite, gleichberechtigte Richtung der kosmischen Entwicklung postuliert, die “Entwicklung zu mehr Fülle”. Das heisst, dass die relative Welt der Erscheinungen (Samsara) sich zunehmend schneller zu immer neuen, komplexeren Formen differenziert und sich ihrer selbst immer bewusster wird. Das geschieht zum Beispiel, indem wir Menschen Wissen sammeln und unsere Umwelt gestalten. Selbst wenn die gesamte manifeste Welt nur ein “Traum” des reinen GEISTes sein sollte, scheint es darin so etwas wie eine gerichtete Entwicklung zu geben. Das ist in meinen Augen ein derart spannender Prozess, der Grund genug sein kann, freiwillig neu zu inkarnieren. Es ist sogar möglich, dass Reinkarnation ein wichtiger Mechanismus im Spiel der Evolution ist, um Wissen und Erfahrungen anzusammeln.

Nachdem allerdings auch Tantra schon ein sehr alter Weg ist, greift für mich diese Erklärung nicht mehr. Denn die Tantriker haben ebenfalls in alten Zeiten eine ganz andere Sichtweise entwickelt, wie sie sich beispielhaft im Kashmir Shivaismus findet:

Mit dem Buddhismus teilt Krama die Vorstellung, dass alles “Leere” (sunyata) ist, jedoch deutet es diese Erfahrung als durchweg positiv und nährend.

Weiterhin betrachtet der Kashmir Shivaismus auch die Unwissenheit neutral:

Kula bedeutet auch “Totalität”. Diese Totalität ist unbedingt. In ihr existieren Erkenntnis und Unwissenheit nebeneinander und bedingen einander.

Und das, was dort Spanda genannt wird, ist die Erfahrung, die man im fortgeschrittenen Stadium von Vipassana am eigenen Leib macht:

Das Spanda-System des Kashmir Shivaismus befasst sich mit dem dynamischen Aspekt alles Seienden. Spanda meint wörtlich klopfen, pochen und lehrt, dass alles, was existiert, in Bewegung ist. Wo Bewegung ist, ist Leben. Wo keine Bewegung ist, da ist kein Leben. Alles Seiende geht letztlich aus der dynamischen Schwingung des Göttlichen hervor.

Während der Buddhismus eine extrem dualistische Sicht vertritt, “Unreinheiten” auflösen will und die höchstmögliche “Reinheit” anstrebt (sowie streng zwischen heilsamen und unheilsamen Taten unterscheidet), zielt die tantrische Sicht auf ein Sein jenseits von Gut und Böse ab:

Da alle Dinge und Wesen Formen manifestierten unlimitierten Bewusstseins sind, ist jeder Aspekt des Lebens, jede Erfahrung, die wir machen können, gleichermaßen “rein”, bzw. jenseits von “Reinheit” und “Unreinheit”.

Das formuliert dieser tantrische Grundsatz sehr schön:

Du steigst, wodurch du fällst.

Bei aller Kritik an den Unzulänglichkeiten der buddhistischen Theorie betone ich zum Schluss noch ein weiteres Mal, dass ich die Methode Vipassana ein äusserst hilfreiches Werkzeug zur Bewusstseinserweiterung und zum Erlangen von Makellosigkeit finde. Und auch im 21. Jahrhundert sind die Erklärungen von Goenka für viele viele Menschen genau passend & richtig. Daher will ich keinesfalls die bestehenden Vipassana-Zentren reformieren oder gar missionieren, die sind schon genau richtig, so wie sie sind.

Zugleich gibt es eben zunehmend auch Menschen, die ihren Schwerpunkt (wiederum in der Sprache von Spiral Dynamics) auf der GRÜNEN, GELBEN oder sogar der TÜRKISEN Bewusstseinsstufe haben. Diese müssen anders zu Vipassana abgeholt werden als mit der Theorie von Goenka. Wenn von euch LeserInnen jemand ein Vipassana-Zentrum kennt, wo die Theorie entsprechend upgedatet wurde (z.B. im Sinne eines integralen Vipassana), dann wäre ich daran brennend interessiert.

Ach, eins noch: Bei den Buddhisten ist offensichtlich noch nicht angekommen, dass das Karmagesetz inzwischen aufgehoben ist! :-D

**Mögen alle Wesen bewusst

am kosmischen Witz teilhaben!**