Die Menschheit steckt mitten in den Wehen

Während ich mich Anfang des Jahres noch davor gefürchtet hatte, dass die Konsensrealität zerbricht, habe ich das inzwischen akzeptiert (eine Erläuterung, was mit Konsensrealität gemeint ist, findest du im Beitrag Konflikte entstehen an der Grenze zwischen Konsensrealität und Traumland). Wie ich in meinem Telegram-Kanal schrieb

die Konsensrealität hat sich aufgelöst, wir leben längst im Traumland.

Es fiel mir am Montag Abend erstaunlich leicht, das so anzunehmen. Dazu beigetragen hat sicherlich das Buch Also sprach Corona. Die Psychologie einer geistigen Pandemie von Wilfried Nelles. Den kannte ich bisher noch gar nicht, das Buch wurde mir geschenkt & hat sich als ein Volltreffer erwiesen.

Da schreibt echt ein weiser alter Mann. Es ist sehr dicht gepackt und dabei gut zu lesen. Seine Kernbotschaft ist, dass die Geisteshaltung unserer (“westlichen”) Kultur die eigentliche Pandemie ist – der Anspruch, das Leben kontrollieren zu wollen. Mit dieser Geisteshaltung setze ich mich schon lange auseinander, was u.a. zu Beiträgen geführt hat wie Haben wir uns zu viel vorgenommen? oder Sterben lassen.

Jochen Kirchhoff arbeitet sich an dieser Geisteshaltung schon seit Jahrzehnten ab, ganz aktuelles Video von ihm:

Auch Charles Eisenstein schreibt in seinem Essay Die Krönung in eine ähnliche Richtung. Und ganz wie Eisenstein kommt Wilfried Nelles zu dem Schluss, dass das Chaos, welches wir gerade erleben, wohl so etwas wie die Geburtswehen der Menschheit sind – mit ungewissem Ausgang.

Wenn du also manchmal dieses Gefühl hast:

… dann bist du in guter Gesellschaft.

Einen guten Vorgeschmack auf das Buch gibt der Artikel Corona und der Tod von Mai 2020. Darin bestreitet er auch ausdrücklich, dass eventuelle Dunkelmächte menschlicher Natur sind:

Regierungen können letztendlich nur das vollziehen, was das jeweilige Bewusstsein der Bevölkerung zulässt. Sie können dieses Bewusstsein ein wenig und für eine kurze Zeit in diese oder jene Richtung manipulieren und geben sich sehr viel Mühe, dies zu tun, aber am Ende spiegeln sie es nur – auch in den jeweiligen Spielarten von links-rechts oder liberal-autoritär. Das gilt besonders für Demokratien, aber selbst ein Land wie China kann nicht dauerhaft gegen das Bewusstsein der Bevölkerung regiert werden (und wird es faktisch auch nicht, wie ich nach 15 Jahren psychologischer Arbeit in China und der sehr nahen Begegnung mit einigen tausend Menschen dort aus eigener Erfahrung sagen kann). In einer auch nur halbwegs funktionierenden Demokratie besteht zwischen dem Regierungshandeln und dem mehrheitlichen Bewusstsein der Bevölkerung immer eine tragfähige Resonanz. Im Falle der Maßnahmen gegen Corona ist diese Resonanz sogar überwältigend. Das ist kein Resultat politischer Manipulation – auch wenn die Art, wie in den Medien über Corona berichtet wird, welche „Experten“ wie zu Wort kommen und welche nicht zu Wort kommen oder gar niedergemacht werden, sehr manipulativ sein mag -, sondern ein Spiegel dessen, was die Menschen wollen. Sie wollen lieber ein totes Leben, als lebendig sterben.

Im Buch verwendet er selbst das Wort Zeitgeist – Zeitgeister sind ja auch ein Phänomen, mit dem die von Arnold Mindell inspirierte Weltarbeit arbeitet.

Und es ist sehr interessant & herausfordernd, gegen den Zeitgeist zu leben. Immer wieder macht mich das einfach fertig. Damit erinnert es mich jedes Mal an das, was Don Juan Matus sagt:

Wir sind Staub in den Händen dieser Kräfte.

Nachtrag vom 30.08.: Willkommen in der Kapelle der Gefahren!

Nachtrag vom 16.09.: Fabian Scheidler, der hier im Blog schon durch sein Buch Das Ende der Megamaschine bekannt sein dürfte, hat ein neues Buch geschrieben, Der Stoff, aus dem wir sind. Infosperber hat ein Kapitel daraus veröffentlicht, in dem er auf seine Art über die Geburtswehen der Menschheit spricht:

Der Übergang von einem System zu etwas Neuem ist notwendigerweise ein chaotischer Prozess, der sich nicht vollständig planen und steuern lässt. Je instabiler und chaotischer ein System wird, desto grösseren Einfluss können selbst kleine Bewegungen und Turbulenzen auf die folgende Entwicklung haben. Der Prozess des Zerfalls und der Neuorganisation durchläuft dabei verschiedene Phasen: zum einen relativ lange Zeiträume, in denen das System anscheinend unverändert operiert; zum anderen plötzliche Brüche, heftige Krisen, in denen sich in sehr kurzer Zeit die Weichen für den weiteren Verlauf der Geschichte stellen, zum Beispiel Finanzkrisen, ökologische Katastrophen, Kriege oder Pandemien. Ein systemischer Übergang besteht in der Regel aus einer Kaskade von solchen Kipppunkten, die sich über Jahrzehnte, bisweilen auch Jahrhunderte erstrecken kann.
Was aber an einem solchen Kipppunkt geschieht, hängt entscheidend davon ab, was die Menschen in der Zeit davor, also in den scheinbar unbewegten Phasen, getan und gedacht haben, wie sie sich organisiert haben, wie sich Machtverhältnisse, Denkmuster, Debatten und kulturelle Hegemonien verschoben haben. Denn in der Krise, wenn die Uhren plötzlich sehr schnell gehen, zeigt sich, welche Teile der Bevölkerung rasch, entschlossen und koordiniert handlungsfähig sind, wer in der Lage ist, das politische und weltanschauliche Vakuum, das in solchen Situationen oft entsteht, zu füllen, und wer ein Verständnis dafür besitzt, welche Weichen gestellt werden müssen, um sich in die eine oder die andere Richtung zu bewegen.

Das finde ich so auf den Punkt gebracht, dass ich eine PDF-Druckversion davon gebastelt habe.

Nachtrag vom 16.10.: Charles Eisenstein, der sich schon lange mit dem Erwachsenwerden der Menschheit befasst, hat nun ebenfalls die Metapher der Geburt für sich entdeckt:

The “new breeze” stirring has blown in a storm. The clouds are no longer just on the horizon. We hear the rumble of thunder before the deluge: supply chain disruptions, forest fires, floods, and droughts, civil disturbances, transportation system breakdown, internet and power outages, political extremism, accelerating inflation, and so on.
[…]
In other words, we are entering a period of struggle where it is obvious that something important is at stake and our actions matter. We are moving down the birth canal. Immense pressures will bear down on us, pause for a while, then bear down again.
[…]
We are going somewhere. I can’t offer proof of that, only metaphor, faith, and an appeal to your intuition. But here is one sign: The stasis that rendered us hopeless and cynical is over. That does not mean it is time to sit back and await our deliverance. It is just the opposite; now is the time when we get serious and act as if life depended on it.
[…]
Imagine what it is like to be a baby in the birth canal. You are subject to what are from your perspective titanic pressures. The whole world bears down on you. You have no idea what lies ahead; nothing in your life so far could predict the new experiences that await you: to breathe, to poop, to nurse, to see, to smell. Nonetheless, on some level even in the midst of the intensity, you know that something awaits. So it is with the human collective.

Außerdem habe ich mir heute noch mal Johannes Heimraths Artikel Auf in die Post-Kollaps-Gesellschaft vorgenommen, den er in Ausgabe 2 der Oya veröffentlicht hatte. Darin schreibt er

Die Her­ausforderung, vor der wir stehen, ist um Potenzen komplexer. So sehr wie noch nie in der Menschheitsgeschichte geht es darum, den Kairos, die sich anbahnende richtige Zeitqualität zu erfassen und perfekt vorbereitet zu sein, wenn die Phase kommt, in der das System mit geringster Kraft am leichtesten in die neue Richtung bewegt werden kann. Diese (R)Evolution wäre der Quan­tensprung, nach dem sich viele sehnen.
Ein solcher Sprung lässt sich nicht durch Umbesetzen von Posten nach einer wie auch immer gearteten »Machtübernahme« erreichen. Für solch eine kraftvolle Vision braucht es ein grundsätzliches Vertrauen in den Gesamtorganismus Menschheit. Das habe ich. Die Natur kennt unendlich lernfähige komplexe Systeme – und die Menschheit ist äußerst komplex. Systeme mit hoher Diversität sind höchst anpassungsfähig – und die Menschheit ist wahrlich bunt. Nicanor Perlas hat den kulturkreativen Metaphernschatz mit dem Bild von der Metamorphose des Schmetterlings bereichert: Schon im Ei sind die Imagozellen angelegt, die später das erwachsene Tier ausprägen. Während in der Puppe der alte Organismus sich selbst verdaut, vernetzen sich die Imagozellen zur Struktur, entlang der sich die aus dem Proteinsaft neu bildenden Zellen organisieren. Sie »wissen« oder »visualisieren« von Anfang an unbeirrt das Wesen, dem sie zur Geburt verhelfen – selbst über die Katastrophe der scheinbar totalen Auflösung hinweg.

Das war immerhin schon im Jahr 2010.

Nachtrag vom 17.10.: Ein Teil dieser Wehen ist auf jeden Fall Peak Kapitalismus. Und ich hatte vor 8 Jahren schon über den Komposthaufen der Geschichte geschrieben, auf dem sich inzwischen so einiges aufgehäuft hat.