Heimat

Am Wochenende gehe ich zur Strategiewerkstatt der Bewegungsstiftung, & einem spontanen Impuls folgend habe ich deshalb eben das Buch Webs of Power von Starhawk noch mal in die Hand genommen, das seit Jahren zur Hälfte gelesen in meinem Regal steht. Darin hat mich das Kapitel Our Place in Nature kalt erwischt (zu deutsch “Unser Platz in der Natur”). Schlagartig kam das Gefühl wieder, das ich schon im Beitrag Wir ziehen uns buchstäblich selbst den Boden unter den Füßen weg beschrieben hatte. Und mir fiel auch gleich dazu ein, wie Fabian Scheidler im 4. Kapitel von Das Ende der Megamaschine die aus traumatischem Erleben entspringenden apokalyptischen Vorstellungen beschreibt:

Ist das Leben in einer intakten (nicht traumatisierten) Gemeinschaft bestimmt von wiederkehrenden Rhythmen und dem Wechsel der Generationen, in dem sich das Leben stets erneuert, so wird dieser Kreis durch traumatische Erfahrungen zerbrochen: Die Menschen sind nicht mehr in der Lage, sich als Teil eines sinnvollen und im Prinzip gutartigen überindividuellen Zusammenhangs zu sehen, sie sind dissoziiert, herausgerissen aus den Kreisläufen der Natur, der Gemeinschaft und des Kosmos. Alles, was ihnen bleibt, um der Verwüstung der Gegenwart etwas entgegenzusetzen, ist die Vision von einer Zukunft, in der alles anders wird, in der die gegenwärtige kaputte Welt durch eine ganz neue Welt ersetzt wird. Die Fixierung der westlichen Zivilisation auf die Zukunft, sei sie im Himmel oder auf Erden, hat ihren Ursprung in einer umfassenden kollektiven Traumatisierung, in der die Menschen aus allen Sinnzusammenhängen der Gegenwart herausgerissen wurden. […]

Der moderne Fortschrittskult ist eine Variante der daraus folgenden apokalyptischen Grundverfassung. Wem ständig der Boden unter den Füßen weggezogen wird, der kann nur rennen, um neuen festen Grund zu erreichen.

Die folgenden Sätze von Starhawk haben mich so angerührt, dass ich nun diesen Beitrag schreibe:

If we are going to create a new political/economic/social system, one that truly cares for the environment and for human beings, we may need to become indigenous again, to find at least one spot on the earth we can know intimately.

Ich übersetze mal: “Wenn wir ein neues politisches/wirtschaftliches/soziales System schaffen wollen, eines, das wahrhaftig für die Umwelt und für menschliche Wesen sorgt, braucht es dafür vielleicht, dass wir wieder eingeboren werden, dass wir mindestens einen Flecken auf der Erde finden, den wir intim kennen”.

Aus diesem Grund habe ich das deutsche Wort Heimat als Überschrift gewählt, denn für mich verkörpert es genau das.

Jetzt habe ich gerade wieder die Musik aus dem Beitrag Meine Wurzeln im Osten angemacht.

Starhawk schreibt, dass die Wilderness Awareness School empfiehlt, sich einen Platz in der Natur zu suchen, den man jeden Tag für eine Weile aufsucht.

When we begin this practice, we can begin to understand something of what it means to be bonded to a place. The dominant culture has no word for true understanding of this bond. It stresses attachment to people, to family, lovers, and mates as well as attachment to things, to property and commodities and the money that allows us to buy them. Connection to place is seen as unimportant, a sort of aesthetic thing, but really, one place is as good as another.

“Wenn wir mit dieser Praxis anfangen, können wir beginnen etwas davon zu verstehen, was es heißt, an einen Platz gebunden zu sein. Die vorherrschende Kultur hat kein Wort für ein wirkliches Verständnis dieser Anbindung. Sie betont die Bindung an Menschen, an die Familie, Geliebte und Partner sowie das Anhaften an Dinge, an Eigentum und Waren und an das Geld, das uns erlebt, diese zu kaufen. Verbindung zu einem Ort wird als unwichtig angesehen, eine Art ästhetisches Ding, aber in Wirklichkeit ist ein Ort so gut wie jeder andere.”

Nebenbei wird mir jetzt erst klar, wie hohl Nationalismus und Patriotismus sind. Sie haben nichts mit tatsächlichen Flecken Erde zu tun, sind rein gedankliche Konstruktionen. Hier geht es um das ganze Gegenteil von “völkischem” Gedankengut; genau genommen gar nicht um _Gedanken_gut.

Starhawk zitiert eine Frau der Okanagan:

We also refer to the land and our bodies with the same root syllable. This means that the flesh wich is our body is pieces of the land come to us through the things which the land is … We are our land/place. Not to know and to celebrate this is to be without language and without land. It is to be dis-placed.

“Wir bezeichnen das Land und unseren Körper mit der gleichen Wurzelsilbe. Das bedeutet, dass das Fleisch, das unser Körper ist, Teile des Landes ist, die zu uns gekommen sind durch die Dinge, die das Land ist … Wir sind unser Land/Ort. Das nicht zu wissen und zu feiern bedeutet, ohne Sprache und ohne Land zu sein. Es bedeutet, entwurzelt [wörtlich ent-ortet] zu sein.”

Und auf dem ersten Weltsozialforum in Porto Alegre erklärte ein Eingeborener, was es bedeutet, eingeboren (indigenous) zu sein:

It’s not the color of your skin. It’s not even about being raised in a traditional way. It’s about being a guardian of the common treasure of the land.

“Es geht nicht um deine Hautfarbe. Es geht noch nicht mal darum, auf eine traditionelle Art aufgewachsen zu sein. Es geht darum, ein Hüter des gemeinsamen Schatzes des Landes zu sein.”

In meiner Familie ist das durch die Flucht bzw. Vertreibung aus Ostpreußen noch greifbar. Wer mitten in einer Stadt geboren und aufgewachsen ist, hat gar nicht erst solche Wurzeln, hat nie eine solche Bindung an das Land empfinden können.

Starhawk betont auch, dass die (typisch europäische) Idealvorstellung von der “unberührten Natur” uns genauso von der Natur abtrennt: Sie bedeutet nämlich im Umkehrschluss, dass wir Menschen die Natur verderben, sobald wir sie berühren. Dabei sind wir doch ein Teil davon, untrennbar mit ihr verbunden. An dieser Stelle fiel mir auch Andreas Weber wieder ein, der in seinem Essay Wild und gefährlich? schreibt:

Sich auf die Wildnis einzulassen bedeutet, unsere Rolle im Ganzen der Dinge zu akzeptieren. Unsere Zivilisation folgt dem Gegenteil: Der Mensch ist die Art, die sich nicht an die Regeln der Biosphäre – eines Kosmos, der Leben hervorbringt – zu halten braucht.

Als Kind habe ich mal einen Film gesehen, wo es um einen Trapper ging, der durch eine winterliche Landschaft in Nordamerika zog. Da kam auch ein Indianer vor, über den an einer Stelle jemand sagte “Er spricht mit dem Land”. Das hat mich so tief beeindruckt, dass ich es bis heute präsent habe.

Eine solche Verbindung reicht weit über die menschliche Welt hinaus. In diesem Sinne brauchen wir nicht nur eine Re_kultivierung_ unseres Lebens, sondern auch eine Renaturierung unseres Lebens.

Zum Schluss noch mal Starhawk:

The whole system we call “globalization” is predicated on the destruction of this bond. The global corporate economic system has displaced millions of people. A capitalist economic system needs a workforce of mobile and expendable people, who can be brought to work when the need for production is high, laid off or transferred when it is low. […] Corporations and enterprises are displaced as well – they are no longer tied or responsible to any local community.

“Das ganze System, das wir Globalisierung nennen, basiert auf der Zerstörung dieser Anbindung. Das globale Konzern-wirtschaftliche System hat Millionen Menschen entwurzelt. Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem braucht ein Arbeitskräftepotential von mobilen und entbehrlichen Menschen, die in Arbeit gebracht werden können, wenn der Bedarf der Produktion hoch ist, und entlassen oder versetzt werden können, wenn er niedrig ist. […] Konzerne und Unternehmen sind auch entwurzelt – sie sind nicht länger an irgendeine örtliche Gemeinschaft gebunden oder verantwortlich.”

Nachtrag vom 13.03.: Meine Großeltern haben in ihren Dörfern in Ostpreußen noch ihr Land gehütet. Auch als sie dann in Ostwestfalen angekommen waren, haben sie das mit ihren großen Gärten gemacht, Hühner haben sie beide gehalten, der Opi außerdem Bienen und der Opa Hasen. Dazu vieles verschiedenes Gemüse angebaut & Obst von Sträuchern & Bäumen. Auch meine Eltern haben noch einen großen Garten bewirtschaftet, wie ich schon in “Wir ziehen uns selbst den Boden unter den Füßen weg” geschrieben hatte. Meine Schwester hat zwar noch einen Garten, der ist aber bis auf ein paar Beerensträucher ein reiner Ziergarten. Und ich sitze hier mitten in der Großstadt.

Nachtrag vom 10.04.: In seinem Blogartikel Das Verschwinden der ANDEREN spricht mir der “Materiemönch” Marian E. Finger aus der Seele und erweitert damit meinen Begriff von Heimat noch:

Ich sehe, wie auf der Welt nach und nach alles verschwindet, was nicht menschlich ist. Es gibt keine Gebiete mehr, die unerschlossen sind und sich dem Menschen und seinem unersättlichen Besitz- und Erkenntnisdrang entziehen. Es gibt keine „dunklen Flecke“ mehr, wo geheimnisvolle Dinge stattfinden, von denen wir Menschen nichts wissen. Es gibt nichts Unbekanntes und damit kein Geheimnis mehr. Wir wissen alles, sogar, dass im Regenwald auf Sumatra noch 14.000 Orang-Utans leben.

Ich merke zunehmend, dass mir etwas fehlt, wenn wir Menschen alles wissen. Sogar etwas Wichtiges. Ich frage mich, ob ich tatsächlich alles über die Welt wissen will. Müssen wir den Wissenschaftlern und Forschern wirklich dankbar sein, wenn sie der Natur jedes Geheimnis entreißen? […]

In einer Welt, in der nach und nach alles verschwindet, was nicht-menschlich ist, verschwindet nicht nur das Fremde und Geheimnisvolle, das unserem Leben Würze und Spannung gibt. Es geht ein Gegenpart, ein Sparringpartner, ein Widerstand verloren, der unser Menschsein begrenzt und ihm dadurch Form und Kontur verleiht. Wir brauchen das ANDERE und die ANDEREN, um zu erfahren, wer wir als Menschen sind. Definitionen geschehen in Abgrenzung zueinander. Wir erfahren nicht mehr, wer wir Menschen sind, wenn wir uns nur noch mit Menschen und Menschlichem umgeben. Aber das scheint unser Weg zu sein.