Die Megamaschine als der große Traumatisierer

Am Freitag war ich ja bei der Lesung aus Das Ende der Megamaschine & habe mir das Buch dort auch gekauft. Heute bin ich bis zum vierten Kapitel gekommen, & schon in diesen ersten vier Kapiteln steckt so viel drin, dass das mehrere Blogartikel wert wäre. Die Lesung hat wirklich nur die wichtigsten Eckpunkte dieses hoch komprimierten & dabei gut zu lesenden Buches genannt. In diesem vierten Kapitel bestätigt Fabian Scheidler, was ich schon vor zwei Jahren im Beitag Trauma: Der Motor des Kapitalismus? gemutmasst hatte: dass der Kapitalismus eine gewisse Grundtraumatisierung der Massen für sein Funktionieren braucht.

Dabei geht er genau wie David Graeber auf den Zeitraum der letzten 5.000 Jahre ein, und erklärt die nach der Epoche Alexanders des Großen weit verbreiteten apokalyptischen Vorstellungen damit, dass die Herrschaft damals schon so absolut geworden war, dass die unterworfenen Menschen sich ihre Befreiung nur noch durch einen Untergang der bestehenden Welt und anschließender Neuschöpfung vorstellen konnten:

Für den Apokalyptiker ist die Gegenwart unerträglich und unrettbar. Den Zumutungen der Macht kann er hier und jetzt nichts entgegensetzen. Anstelle der Erfahrung von Selbstwirksamkeit tritt der Glaube an eine höhere Macht, die in der Zukunft stellvertretend für die Ohnmächtigen handeln wird. Daraus ergibt sich eine vollkommen neue Vorstellung von der Zeit. Ist das Leben in einer intakten (nicht traumatisierten) Gemeinschaft bestimmt von wiederkehrenden Rhythmen und dem Wechsel der Generationen, in dem sich das Leben stets erneuert, so wird dieser Kreis durch traumatische Erfahrungen zerbrochen: Die Menschen sind nicht mehr in der Lage, sich als Teil eines sinnvollen und im Prinzip gutartigen überindividuellen Zusammenhangs zu sehen, sie sind dissoziiert, herausgerissen aus den Kreisläufen der Natur, der Gemeinschaft und des Kosmos. Alles, was ihnen bleibt, um der Verwüstung der Gegenwart etwas entgegenzusetzen, ist die Vision von einer Zukunft, in der alles anders wird, in der die gegenwärtige kaputte Welt durch eine ganz neue Welt ersetzt wird. Die Fixierung der westlichen Zivilisation auf die Zukunft, sei sie im Himmel oder auf Erden, hat ihren Ursprung in einer umfassenden kollektiven Traumatisierung, in der die Menschen aus allen Sinnzusammenhängen der Gegenwart herausgerissen wurden. Diese Traumatisierung hat sich nicht nur einmal ereignet, sondern sich an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten mehrfach wiederholt, und zwar bis in die jüngste Vergangenheit. Der moderne Fortschrittskult ist eine Variante der daraus folgenden apokalyptischen Grundverfassung. Wem ständig der Boden unter den Füßen weggezogen wird, der kann nur rennen, um neuen festen Grund zu erreichen. In der Flucht aus der Gegenwart setzt das ein, was wir Geschichte nennen: die Herrschaft eines unentrinnbaren eindimensionalen Zeitpfeils, der uns vorantreibt, weg von den schlimmen Vergangenheiten, hinein in eine Zukunft, in der wir dem eigenen Sturz zuvorkommen wollen durch permanente Überholung, Modernisierung, Spurenvertilgung, durch einen Krieg gegen die Zeit, der nie zu gewinnen ist, weil das, was wir als einen äußeren Feind bekämpfen, durch unsere eigene Bewegung – die Bewegung des Kampfes – überhaupt erst erzeugt wird.

Uff. Lasst euch das mal auf der Zunge zergehen.

Nachtrag vom 20.04.: TraumatherapeutInnen müssten also alle AnarchistInnen sein, denn Herrschaft traumatisiert.

Nachtrag vom 03.05.: Inzwischen bin ich beim 10. Kapitel des Buches angekommen, das sich mit der Nachkriegszeit nach 1945 beschäftigt. Darin schreibt Scheidler:

Doch während die Wirtschaft boomte, sah die menschliche WIrklichkeit darunter nicht immer so glorreich aus. 60 Millionen Menschen waren im Krieg getötet worden, mindestens noch einmal so viele schwer verletzt. Unzählige hatten um sich herum über Jahre massenhaften Tod, extreme Gewalt und Angst erlebt. […] Auf eine perfide Weise kam die Orientierungslosigkeit und psychische Desorganisation der Menschen den Erfordernissen des Wirtschaftssystems entgegen. […] Einer zu großen Teilen traumatisierten und orientierungslosen Gesellschaft wurde ein gigantisches Sedierungs- und Ablenkungsprogramm geboten, in dem winkende Mickymäuse in Cadillacs und die Rama-Frühstücksfrau eine Welt von betäubender Gedächtnislosigkeit schufen.