Gehorchen: Herrschaft aus der Sicht der Beherrschten

Wie hinlänglich bekannt ist, bin ich Anarchist, was heißt, dass ich mich für eine Gesellschaft ohne Herrschaft und Zwang einsetze und dabei auf das Prinzip der Selbstorganisation und Selbstverantwortung in überschaubaren sozialen Einheiten setze. Trotzdem habe ich lange Zeit das Kunststück hinbekommen, mich mit dieser intellektuellen Einstellung gleichzeitig in meinem Leben als Opfer zu empfinden.

Ein Stück von dem langen Weg dahin, dass ich das heute nicht mehr tue, beleuchten die Artikel Vertrauen riskieren sowie der Fight Club-Artikel Mit Tyler Durden zum Nullpunkt.

Inzwischen lebe ich in dem Bewusstsein, dass Leben immer ein Risiko ist und übernehme die wahre Verantwortung dafür.

Und damit sind wir beim Thema dieses Beitrags: Herrschaft ist das Verhältnis von einem oder mehreren Herrschern und einem oder mehreren Beherrschten. Es braucht das Handeln beider Seiten, um ein Herrschaftsverhältnis zu etablieren. Auch Anarchisten richten ihren Blick zu oft nur auf die bösen Herrscher, die es zu stürzen und damit die Herrschaft abzuschaffen gilt.

Dabei sind die Beherrschten mit ihrem (größtenteils unbewussten) Einverständnis mit dem Beherrschtwerden, ihrer Einwilligung in das Herrschaftsverhältnis, ihrem Gehorchen doch zahlenmäßig die große Mehrheit! Sie tragen mindestens genau so viel dazu bei, dass Herrschaft sich fortsetzt, wie die Beherrscher.

Diese Überlegungen schließen nahtlos an den Beitrag zu Grundeinkommen, Erpressbarkeit und Freiheit an. Dort hatte ich schon geschrieben, dass das einzig Sichere in unserem Leben die Tatsache ist, dass wir alle sterben werden.

Wenn nun jemand einwendet, “aber es gibt doch Gewalt und Zwang, also die Androhung von Gewalt!”, dann sage ich platt: Na und? Sterben wirst du sowieso.

Auch Zwang ist nur relativ, und es gehören immer zwei dazu: einer der zwingt und einer, der sich zwingen lässt.

Du hast immer die Möglichkeit, nicht zu gehorchen und dich dafür einsperren, foltern oder töten zu lassen.

Das ist hart, aber es ist so.

Und ich verurteile niemand, die oder der sich bei Androhung von Gewalt bewusst entscheidet, lieber zu gehorchen als sich Gewalt antun zu lassen.

Das ist mir sehr wichtig. Aber es kommt darauf an, dass dir deine Freiheit, deine Wahlmöglichkeit bewusst ist. Was ich sehr wohl anprangere ist, wenn jemand glaubt “Ich musste gehorchen, ich wurde gezwungen, es ging doch gar nicht anders”. Doch. Es geht immer auch anders, auch wenn das manchmal sehr weh tut.

Es ist das, was Krishnamurti mit “jede Autorität ablehnen” meint, siehe Bedürfnisse/Bedürftigkeit, brauchen und frei sein.

Und falls du nun einwendest, damit könne man doch im Großen nichts bewirken: Indien ist 1947 vom britischen Empire unabhängig geworden, weil ein kleiner Mann sich hat schlagen und einsperren lassen. Natürlich nicht er allein, sondern viele andere mit ihm. Aber er ging mit seiner Haltung von Satyagraha voran. Diese deckt sich übrigens weitgehend mit meinen Überlegungen hier. Darauf aufbauend hat in Deutschland Martin Arnold das Konzept der Gütekraft entwickelt. Zitat aus Wikipedia:

Gütekraft beinhaltet sowohl Entwicklung und Anwendung gewaltfreier Aktionen im politischen Raum als auch immer eine Entscheidung für einen Wert (Gerechtigkeit, Freiheit usw.) sowie die Verantwortung des Einzelnen, wertbegründete Entscheidungen zu treffen und die Folgen dieser Entscheidungen zu tragen. Das erfordert Mut, “soul force”, das Wirken einer Kraft.

(Das Konzept von Gerechtigkeit lehne ich allerdings ab, dazu später mehr)

Nachtrag vom 05.03.2017: Sehr erhellend bezüglich des Gehorchens sind auch diese beiden Vorträge von Rainer Mausfeld „Warum schweigen die Lämmer?“ - Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements sowie Die Angst der Machteliten vor dem Volk.

Nachtrag vom 18.04.2019: Ich stelle gerade fest, dass es einen berühmten Vordenker gibt, nämlich Étienne de La Boétie. Im Wikipedia-Artikel über ihn steht

Vermutlich während seiner Studienzeit verfasste La Boétie, sichtlich unter dem Eindruck der genannten Revolten und der Diskussionen im Umfeld Du Bourgs, seinen flammenden Discours de la servitude volontaire (= Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft), worin er die These vertritt, dass die Unterdrückung vieler Menschen durch einen einzigen nur solange möglich sei, wie die vielen sich unterwerfen, statt sich kollektiv zu widersetzen.