Bedürfnisse/Bedürftigkeit, brauchen und frei sein

Der heutige Beitrag ist mehr eine ausführliche Fragestellung, weil es um einen scheinbaren Widerspruch geht, den ich bisher noch nicht auflösen konnte. Es geht um Bedürfnisse bzw. Bedürftigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite darum, wirklich frei zu sein. Irgendwie gelingt es mir praktisch, mir sowohl meiner völligen Abhängigkeit und Bedürftigkeit bewusst zu sein und dabei gleichzeitig (innerlich) frei. Gedanklich sind das jedoch noch immer totale Gegensätze. Daher werde ich nun die ganze Thematik auseinander klamüsern & ausbreiten.

Fangen wir an mit Zitaten aus dem Artikel Geburtlich zusammen leben von Ina Praetorius. Was sie darin schreibt, lässt sich kaum bestreiten:

Nur ein paar Jahrzehnte, höchstens, sind wir, die Geborenen, fähig zu handeln, also ein Stück Welt zu gestalten, immer bezogen auf bedürftige Mithandelnde. Gleichzeitig bleiben wir eingebunden in die Matrix Welt. In fast jeder Hinsicht sind wir abhängig vom und von anderen. Keiner und keine von uns kann auch nur fünf Minuten ohne Luft überleben, oder eine Woche ohne Wasser. Von Luft und Liebe, Gemüse und Moral, von Geschichten, Traditionen und der Arbeit anderer leben wir, und schon bald werden wir eingehen in die Erde. Weit entfernt sind wir von der Fiktion, die Johann Gottlob Fichte die Selbstsetzung des Subjekts und Immanuel Kant Autonomie nannte.

Zugleich existiert auch in jedem Menschen ein Autonomiebedürfnis, der Drang, Dinge selbst(bestimmt) zu tun. Und wie Marshall Rosenberg richtig erkannt hat, geht dieses Autonomiebedürfnis dem Bedürfnis, mit anderen zu kooperieren, sogar voraus. Das lässt sich an Kindern wunderbar beobachten, die vielleicht sehr gerne vom Computer weg raus auf den Hof zum Spielen gegangen wären, aber wenn ein Erwachsener sie auffordert, “geht doch mal raus an die frische Luft”, dann “müssen” sie schon aus Prinzip noch eine Weile länger am Rechner hocken bleiben, um ihr Autonomiebedürfnis zu befriedigen.

Vielleicht habe ich in meinem Artikel Eine neue Kultur schon die Antwort gegeben, die in der Freiwilligkeit liegt. Denn auch wenn Bedürfnisse eine Grundlage der Gewaltfreien Kommunikation sind, ist Freiwilligkeit eben die zweite Grundlage. Ein Bedürfnis ist kein Grund, sich selbst oder jemand anderen zu etwas zu zwingen. Ich kann nur bitten, und mein Gegenüber (oder auch ich selbst) kann mit Ja oder Nein antworten & beides ist in Ordnung.

Gerald Hüther formuliert die beiden Grundbedürfnisse bzw. -erfahrungen etwas anders, aber inhaltlich gleich: die Erfahrung, immer wieder über sich hinauszuwachsen und die Erfahrung, verbunden zu sein.

Im Zusammenhang ist mir kürzlich aufgefallen, dass unsere Sprache mal wieder sehr aufschlussreich ist: Ohne die Entbindung von unserer Mutter wären wir gar nicht hier. Ohne die enge Bindung an sie und andere Menschen aber auch nicht.

Aktueller Anlass für diesen Artikel, den ich wie manch anderen schon länger im Hinterkopf hatte, ist das Buch Einbruch in die Freiheit von Krishnamurti, von dem ich ja schon mal einen Vortrag über Beziehung hier eingestellt hatte. Wie der Titel schon andeutet, geht es ihm radikal um die Freiheit des Einzelnen. Auch in dem Vortrag über Beziehungen sagte er:

Eine Beziehung, die auf gegenseitigem Bedürfnis basiert, bringt nichts als Konflikt. Wie abhängig wir auch voneinander sind, wir benutzen einander für einen Zweck, für ein Ziel. Doch mit einem Ziel vor Augen ist keine Beziehung möglich. Sie benutzen mich und ich benutze Sie. In diesem Benutzen verlieren wir den Kontakt. Eine Gesellschaft, die auf gegenseitiger Benutzung aufgebaut ist, ist der Nährboden für Gewalt.

Das ist also die Art und Weise, wie wir mit unserer Bedürftigkeit nicht umgehen sollten.

Einen wichtigen Hinweis gibt Don Juan Matus, wenn er sagt:

Der Tod ist der einzige weise Ratgeber, den wir haben.

Denn vor dem Hintergrund des einzig sicheren im Leben, nämlich dass wir eines Tages sterben werden, verlieren sämtliche Bedürfnisse ihre Absolutheit.

Dein Tod wird dir sagen, dass du unrecht hast, dass nichts wirklich wichtig ist, außer seiner Berührung.

Im “Ring der Kraft” äußert er sich direkt zu Bedürfnissen:

Ich habe nie daran gedacht, dass du Hilfe benötigst. Du musst das Gefühl entwickeln, dass ein Krieger nichts benötigt. Du sagst, du brauchst Hilfe. Hilfe wofür? Du hast alles, was du für diese großartige Reise brauchst, die dein Leben ist. Ich habe versucht, dich zu lehren, dass die wirkliche Erfahrung darin besteht, ein Mensch zu sein, und dass es nur darauf ankommt zu leben; das Leben ist der kleine Umweg, den wir heute machen. Das Leben ist ein zureichender Grund, es erklärt sich aus sich selbst und ist vollkommen.

Nun aber noch mal zu Krishnamurti und der Freiheit:

Vor allen Dingen: Können Sie jede Autorität ablehnen? Wenn Sie es können, bedeutet es, dass Sie sich nicht länger fürchten. […] In der Freiheit gibt es kein rechtes oder unrechtes Tun mehr. Sie sind frei, und von diesem Zentrum aus handeln Sie, daher gibt es keine Furcht mehr, und ein Mensch, der keine Furcht hat, ist großer Liebe fähig. Und der wahrhaft Liebende kann tun, was er will.[…] Frei zu sein von aller Autorität, von der eigenen und der eines anderen, bedeutet, sich von allem, was gestern war, loszusagen, sodass der Geist immer frisch, immer jung, unschuldig, voller Kraft und Leidenschaft ist. Nur in diesem Zustand kann man lernen und beobachten, und das bedarf einer umfassenden Bewusstheit, eines unmittelbaren Gewahrseins des inneren Lebensprozesses, ohne ihn zu korrigieren, ohne vorzuschreiben, was er sein sollte oder nicht sein sollte.

Freiheit ist also eine Frage des Bewusstseins und der Achtsamkeit, die Bedürftigkeit und Abhängigkeit ist eine “äußere”, wie ich sie in Ermangelung besserer Worte nennen möchte. Es gilt zu erkennen, die Tür deiner Zelle geht nur von innen auf. Und solche Freiheit ist durchaus nicht schön oder angenehm:

Wenn Sie hingegen keinen Rückhalt haben, wenn keine Sicherheit da ist, keine Zweckerfüllung, dann haben Sie die Ungebundenheit zu schauen und zu schaffen. In dieser Freiheit ist alles neu. Ein selbstsicherer Mensch ist ein totes Wesen.

Und weiter:

Solche Freiheit bedeutet, völlig allein zu sein.[…] Um allein zu sein, müssen Sie sich von der Vergangenheit lossagen. Wenn Sie allein sind, vollkommen allein, innerlich zu keiner Familie, keiner Nation, keiner Kultur, keinem bestimmten Kontinent gehören, entsteht das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Der Mensch, der in dieser Art vollkommen allein ist, ist unschuldig, und diese Unschuld ist es, die den Menschen vom Leid befreit.

Dieses allein sein ist auch ein All-Ein-Sein, das Erkennen dass jegliche Getrenntheit von anderen und anderem eine Illusion ist.

Vielleicht gibt es gar keine Auflösung von These und Antithese. Vielleicht leben wir schlicht und ergreifend in einer paradoxen Welt.

Denn auch Freiheit und Verantwortung gehören untrennbar zusammen, wie z.B. der sehr radikale Artikel Wahre Verantwortung ausführt.

Update vom 11.09.2013: Ich hätte nicht vermutet, dass Paul Watzlawicks Vortrag zum gleichnamigen Buch Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, der mir aus ganz anderen Gründen über den Weg lief, zur aktuellen Fragestellung beitragen könnte, aber hört selbst:

  1. wäre ein solcher Mensch frei, denn es stünde ihm ja frei, seine Wirklichkeit immer wieder anders, neu zu schaffen. 2. wäre ein solcher Mensch im tiefsten ethischen Sinne verantwortlich. Denn wer weiß, dass er der Architekt seiner eigenen Wirklichkeit ist, dem steht die bequeme Ausrede, der Hinweis auf “Sachzwänge” oder die Schuld anderer Menschen, nicht mehr offen. Und 3. wäre dieser Mensch im tiefsten Sinne tolerant. Denn wer weiß, dass er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, muss diese Möglichkeit auch dem anderen zubilligen.

Update II immer noch vom 11.09.2013: Da gibt es ja noch ein Video von Michaela Moser über Bedürftigkeit, das noch etwas mehr Licht auf die Sache wirft:

Darin greift sie einen bisher noch nicht erwähnten (vermeintlichen) Gegensatz zur Bedürftigkeit auf, nämlich die _Macht._ Die ist immer begrenzt, wozu ich noch mal Don Juan Matus zitieren kann:

Wir sind Staub in den Händen dieser Kräfte.

Soviel also zur (persönlichen) Macht, die als Illusion eng mit der Getrenntheit verwandt ist bzw. aus dieser hervorgeht.

Obwohl also meine Macht notwendigerweise begrenzt ist, kann ich trotzdem absolut frei sein. Der Spruch “Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit” fällt mir dazu ein - wieder ein Paradoxon…

Bei diesem Beitrag freue ich mich ganz besonders über Kommentare! Lasst euch nicht vom Captcha abschrecken!

Update vom 31.08.2016: Gerade habe ich in der Oya ein passendes Zitat von Wendell Berry gefunden:

In der Praxis gibt es keine Auto­nomie. In der Praxis gibt es nur die Unterscheidung zwischen verantwortungsvoller und verantwortungsloser Abhängigkeit.