Herrschaftszeiten

Ihr wart lange genug Figuren in einem Uhrwerk, das ihr nicht gebaut habt. Hört auf damit.

Ihr lebt in einer Welt, in der es keinen erhöhten Punkt gibt, von dem aus man besser sehen könnte als durch eure Augen. Ihr seid die einzigen: es wird niemand anders kommen, der für euch sorgt. Ihr seid so gut wie jeder andere; also könnt ihr so gut wie jeder andere Einfluss auf die Regeln nehmen.
Hört auf, euch auf das zu verlassen, was euch weder frei noch gleich machen wird.
Seid unzufrieden mit euch und mit anderen. Verliert den Respekt.

Nehmt euch die Regeln vor.

Rüstet ab: euch und andere. Verhandelt; respektiert euch und alle anderen als Menschen, die verhandeln. Lernt das, was notwendig ist, um Vorschläge zu machen. Begreift, dass ihr Privilegien habt und akzeptiert, dass es notwendige Kompensationen gibt. Organisiert euch. Wo immer ihr geht und steht und was immer es heißt: organisiert euch! Wenn eine Kooperation euch nicht zusagt, verhandelt. Wenn die Verhandlung nicht zu einem Ergebnis führt, mit dem ihr zufrieden seid, trennt euch. Wenn ihr euch nicht trennen könnt, trennt euch so weit als möglich. Wenn das Ergebnis euch nicht zusagt, verhandelt neu.
Wenn man euch nicht verhandeln lässt, übt Druck aus: schränkt eure Kooperation ein, oder stellt sie unter Bedingungen. Wenn man euch zwingt, wendet Gewalt an. Wendet so wenig und so reversible Gewalt an wie möglich, aber so viel wie nötig. Denkt daran, dass Gewalt vielerlei bedeuten kann, und dass sie nur dazu dient, dem Zwang zu begegnen, mittels dessen man euch weder verhandeln noch fair gehen lässt.
Achtet keinen Besitz, keine Verfügung, keine Regeln, nur weil sie bestehen. Verlangt das auch nicht von anderen. Respektiert den Fakt, dass ihr immer irgendeine Struktur vorfinden werdet, aber nicht das Recht, das darin angeblich liegt.
Ordnet alle eure Beziehungen – alle privaten, politischen, gesellschaftlichen, die zu Einzelnen, zu Gruppen, zum Ganzen – nach dem Bild von Beziehungen zwischen Menschen, die sich als frei und gleich betrachten. Menschen, die gehen können; die verhandeln; die sich weigern, aufkündigen, zurückziehen, einschränken, Bedingungen stellen. Die das nicht immer erklären können müssen. Menschen, die das auch wirklich tun, immer wieder.
Lernt das zu schätzen, auch wenn es nicht bequem ist. Es ist das Tor zur Welt, zu einer Welt, die mehr ist als ihr selbst. Ändert Besitz, Verfügung, Regeln so, dass der Preis für alle vergleichbar und vertretbar ist, die Kooperation zu verlassen oder einzuschränken. Erwartet nicht, dass das über Nacht geht. Wartet nicht darauf, dass es irgendwann geht. Lasst euch nicht abspeisen damit, es werde von allein geschehen.
Organisiert euch. Übt Druck aus. Und immer wieder: verhandelt.

Es gibt nichts anderes. Glaubt niemand, der euch Regeln aufschwatzen will, die das überflüssig machen sollen.

Räumt alles weg, was zwischen euch und der Möglichkeit steht, so zu leben. Tut es nicht blindlings. Aber tut es gründlich. Tut es nicht allein. Wenn ihr es allein tut, seid vorsichtig.
Seid radikal: Spart keine eurer Beziehungen aus. Lasst euch nicht frustrieren. Geht den Weg bis zum Ende.

Seid die Letzten. Verneigt euch nicht.

Aus: Christoph Spehr: Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation

Was ich in diesem Blog bisher über Bücher & andere Texte geschrieben habe als Empfehlung, diese zu lesen, waren einfache Empfehlungen. Heute nun flehe ich Dich von ganzem Herzen an, diesen Text zu lesen!!! Er ist verdammt wichtig, gerade für Menschen, die in Gemeinschaft leben oder sich dafür interessieren – aber auch für alle anderen! Es geht um die Frage, was ist unter emanzipatorischer Politik heute zu verstehen & wie setzen wir das um. Spehr führt viele meiner Gedanken konsequent weiter, die ich in meinem Beitrag zum KommuneBuch sowie über das Spannungsfeld von linker Politik & Spiritualität geschrieben hatte. Ich habe den Text auch zum Anlass genommen, noch einige meiner älteren Texte zu veröffentlichen. Das Buch hab ich mir bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung gerade in Papierform bestellt; so einen Text muss ich vor mir liegen haben, damit ich darin herumschmieren, damit arbeiten kann.

Ich kapituliere vor dem Versuch, die mir am wichtigsten erscheinenden Passagen des Textes zu zitieren. Es wären immer noch zig Seiten. Deshalb bringe ich nur einige Häppchen als Appetitanreger.

Mir ging beim Lesen des Textes immer wieder eine Strophe aus dem Arbeitereinheitsfrontlied (in der Version von Ton Steine Scherben) im Kopf herum:

Und weil der Mensch ein Mensch ist,
d’rum hat er Stiefel im Gesicht nicht gern.
Er will unter sich keine Sklaven sehen
und über sich keine Herren.

Zukünftige ArchäologInnen, die unsere Zivilisation ausgraben, wären erstaunt über die unglaubliche Menge an Artefakten, die diese Zivilisation des demokratischen Zeitalters hervorgebracht hat: Raumfahrtzentren und Endlagerstätten, Kraftwerke und Fabrikhallen, Börsen und Konzertsäle, Business-Center und Paläste des privaten Luxus. Die ArchäologInnen der Zukunft würden dieselbe Schlussfolgerung ziehen wie wir, wenn wir die Pyramiden von Gizeh, die Tempel von Angkor Wat oder die Große Chinesische Mauer betrachten: dass diese Artefakte das Werk von Sklavenarbeit gewesen sein müssen, sehr wahrscheinlich Kriegsgefangene oder gewaltsam Verschleppte, und deren Kinder und Kindeskinder. Damit wären sie nicht weit weg von der Wahrheit.
Die Artefakte des demokratischen Zeitalters sind in der Tat Sklavenarbeit. Sie sind die Arbeit von Sklaven und Sklavinnen der heutigen Weltordnung; von Kriegsgefangenen in einem allgemeinen Wirtschaftskrieg der Reichen gegen die Armen; von Verschleppten durch die Gewalt der Not oder fehlender Alternativen. Man drehe die Gegenstände auf dem Tisch um, sehe nach, wo sie gemacht werden, frage, warum sie dort gemacht werden: Weil Arbeit dort billig und verfügbar ist. Man gehe der Frage nach, bei welchen Arbeiten in letzter Instanz alles endet oder anfängt, frage nach ihrer Stellung, Wertschätzung, ihren Bedingungen: Man findet preiswerte Hausarbeit und Kinderbetreuung durch Frauen; Billigstarbeit von MigrantInnen und WanderarbeiterInnen auf Baustellen und beim Müllsortieren; häufig illegale, ungeschützte Arbeit derer, die ohne dieses Zubrot nicht existieren können, bei allen Arten von Bedienen, Saubermachen, Transport; Billigstarbeit in Ländern des Südens beim Rohstoffabbau, beim Nahrungsmittelanbau, bei der Fertigung in Freien Produktionszonen, in der Sexarbeit.
Man stelle die Frage, was von den Artefakten zustandekommen würde, wenn diejenigen, deren Arbeit darin gerinnt, aus freien Stücken übereinkommen müssten, sie zu bauen oder zu ihnen beizutragen. Wenn sie aus eigener Motivation dafür Zeit und Kraft bereitstellen müssten, und nicht aus dem Zwang heraus, sich in der einen oder anderen Form dafür zu verdingen. Es wären wenige der Artefakte, die übrig blieben.

In dieser Richtung habe ich mir vor fünf Jahren schon Gedanken gemacht: KapitaStalinismus Was ich damals über Marx & Lenin schrieb, stimmt für mich heute nicht mehr, ändert aber nichts an der Grundidee.

Der folgende Absatz verdeutlicht, wie umfassend im “demokratischen Zeitalter”, wie Spehr es nennt, Herrschaft in alle menschlichen Beziehungen & sogar in das Denken eingedrungen ist:

Herrschaft richtet die Welt so und so ein.
Sie schafft eine Welt, wie sie der Herrschende sich erträumt, indem er über den Beherrschten verfügt.
Die Rede ist hier also von einem verallgemeinerten Begriff von Herrschaft, der aus der Konfrontation konkreter Erfahrungen gewonnen wird, nicht von einem allgemeinen, abstrakt hergeleiteten. Wir kommen auch bei der Suche nach einem verallgemeinerten Begriff nicht ohne Urbilder aus, ob wir sie beschreiben oder nur mitklingen lassen, weil allgemeine Begriffe von Herrschaft immer eine Abstraktion bleiben, die ihren Nutzen für konkrete Unterdrükungsverhältnisse beweisen müssen.
Wenn wir uns also auf dem dünnen Eis eines verallgemeinerten Begriffs von Herrschaft bewegen wollen, dann können wir sagen: Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat.
Die zeitgenössische Sklavenhaltergesellschaft versucht, Herrschaft die Nähe zu den erwähnten Urbildern zu nehmen. Matrix stellt ein anderes Urbild vor, um die postmoderne Realität von Herrschaft sichtbar zu machen. Wir bekommen eine Gesellschaft gezeigt, in der all die hässlichen klassischen Urbilder an den Rand gedrängt sind und wir uns augenscheinlich frei und gleich bewegen. Nur ist das nicht die Wirklichkeit, sondern eine virtuelle Inszenierung. In Wahrheit ist die Struktur der Verfügung und erzwungenen Kooperation total. Wir sehen das aber normalerweise nicht, obwohl es Hinweise gibt und ein unbestimmtes Gefühl. Wir sind Opfer der »Matrix«, der Welt, die uns über die Augen gezogen wird: der Selbstinszenierung einer demokratischen Gesellschaft, die von sich behauptet, dass sie gegen die klassischen Urbilder kämpft und dass sie selbst nicht herrschaftsförmig ist. Dieses virtuelle Welt macht uns blind gegenüber der Realität: dass wir Sklaven sind. Verfügbar. Regeln und Kontrollen unterworfen, denen wir uns nicht entziehen und über die wir nicht bestimmen können. Den ganzen Tag, mit all unseren Empfindungen und Fähigkeiten; bis ans Ende unserer Tage und bis in die siebte Generation. Sehen können wir das, wenn wir die oben genannte Definition von Herrschaft anwenden. Fast alles ist erzwungene Kooperation. Auf die Frage »Was ist die Matrix?« lautet die Antwort: Die Matrix ist die Inszenierung des Sozialen, aus der die Idee der freien Kooperation vollständig ausgetrieben ist. Dadurch bewirkt sie, dass wir die Stäbe unseres Gefängnisses weder riechen, noch schmecken, noch berühren können. Wir nehmen unser Gefängnis überall hin mit, wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das Ausmaß, in dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das jeder antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns.

In meinem Artikel “Wir” FÜR uns Selbst statt “Ich” GEGEN den rest der welt von 2002 habe ich die Matrix als “FSK” bezeichnet – Freiwillige Selbstkontrolle.

Das Thema des Textes ist Freie Kooperation, die Spehr so bestimmt:

Wir kennen nur eine Wirklichkeit, die des Sozialen. Aus ihr beziehen wir all unsere Maßstäbe, sie macht unser Leben aus. Alles menschliche Leben ist Interaktion, Beziehung, Kooperation. Dies ist auch der Ort, wo Freiheit und Gleichheit stattfinden. Sie finden nicht später statt, sondern hier und jetzt.
Jede menschliche Tätigkeit beruht auf der Kollektivität und Historizität von Arbeit und Natur. Was immer wir tun, wir nutzen dabei die Arbeit und Natur anderer. Wenn Freiheit bedeuten sollte, dass wir das möglichst ungehemmt und ohne Beschränkungen tun sollten, dann wäre Freiheit immer nur auf Kosten der Unfreiheit anderer möglich. Eine Freiheit aber, deren Grenzen von einer übergeordneten Instanz »erkannt« und gesetzt würden, wäre totale Unfreiheit dieser Instanz gegenüber. Beides wären überdies blinde, monadische Begriffe von Freiheit, die der lebendigen Auseinandersetzung mit anderen keinen Platz und keinen Wert zuweisen; ich bliebe auf mich zurückgeworfen, die Grenzen meiner Sichtweise wären auch die Grenzen meiner Welt, was auch nichts anderes als eine Form der Gefangenschaft ist.
Ein radikaler Begriff von Freiheit kann daher nur einer sein, der von Freiheit in der Kooperation handelt: frei bin ich, wenn ich in meiner Verhandlung mit anderen frei bin, d. h. von keiner Instanz behindert und von niemand durch Zwang beschränkt. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass ich anderen in der Kooperation gleich bin: dass meine Kooperation keine erzwungene ist, sondern dass ich darüber mit anderen auf gleicher Ebene verhandeln kann, und dass dabei auch niemand über mir ist, dessen Regeln und Kontrolle ich unterworfen bin. Ein radikaler Begriff von Freiheit und von Gleichheit fallen zusammen.
Freie Kooperation, wie sie hier definiert wird, hat drei Bestimmungen. Freie Kooperation liegt vor, wenn

  • die überkommene Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und die überkommenen Regeln nicht sakrosankt sind, ihnen also kein »höheres Recht« zukommt, sondern sie vollständig zur Disposition stehen, d. h. von den Beteiligten der Kooperation jederzeit neu ausgehandelt werden können;
  • alle Beteiligten frei sind, die Kooperation zu verlassen, ihre Kooperationsleistung einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, und dadurch Einfluss auf die Regeln der Kooperation zu nehmen;
  • alle Beteiligten insofern gleich sind, als sie dies zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis tun können; d. h. dass der Preis dafür, die Kooperation zu verlassen bzw. die eigenen Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, für alle Beteiligten ähnlich hoch (oder niedrig), aber auf jeden Fall zumutbar sein muss.

Vereinfacht gesagt: In einer freien Kooperation kann über alles verhandelt werden; es dürfen alle verhandeln; und es können auch alle verhandeln, weil sie es sich in ähnlicher Weise leisten können, ihren Einsatz in Frage zu stellen.
Die Freiheit zu verhandeln schließt die Freiheit ein, Verhandlungen scheitern zu lassen und zu gehen – »den Baum zu wechseln«, um es mit Rousseau zu sagen. Die Gleichheit der Beteiligten schließt dabei ein, dass sie nicht mit leeren Händen gehen, sondern einen Anteil an den bisherigen Früchten der Kooperation aus dieser herauslösen und in ihre eigene Verfügung zurückführen können. Auch dieser Anteil bemisst sich nicht mathematisch, sondern nach dem Prinzip der Gleichheit: Es soll für die einen nicht wesentlich schlimmer sein, die Kooperation zu verlassen oder sie scheitern zu lassen, als für die anderen.
Die Definition gibt keine formalisierten Verfahren des Verhandelns oder der Entscheidungsfindung vor. Für solche Verfahren gilt dasselbe wie für alle anderen Regeln auch: Sie genießen kein höheres Recht, sie sind der Verhandlung nicht entzogen. Verhandeln meint hier den realen Prozess, auf den alles immer wieder zurückgeht: »Nein, wenn nicht …«

Dass ich eine Kooperation auch aufkündigen kann, ist das entscheidende Merkmal von freier Kooperation. Meine Mitgliedschaft in der Kooperation “Deutschland” zu kündigen, also meinen Pass zurückgeben (wie es die Schenker getan haben), ist in einem Staat nicht vorgesehen. Damit gibt sich der Staat als Form von erzwungener Kooperation = Herrschaft zu erkennen. Gut, in diesem Fall ist das eine Binsenweisheit. Das Prinzip gilt überall, wo Menschen kooperieren. Tun sie das wirklich freiwillig? heisst im Extremfall nichts anderes als können sie gehen, wenn sie nicht mehr kooperieren wollen? Sofern ihnen etwas an dieser besonderen Kooperation gelegen ist heisst die Frage dann können sie die Regeln der Kooperation ändern, wenn ihnen diese nicht passen? Das alles unter zumutbaren Kosten, wobei das nicht notwendig Geld sein muss. Beispiel: Eine Gemeinschaft, die ohne Geld lebt, sich aber stark von der umgebenden Gesellschaft abkapselt, macht es auf diese Weise ihren Mitgliedern schwer, die Gemeinschaft nach längerer Zeit wieder zu verlassen. Die Kosten bestehen dann darin, seine wichtigsten sozialen Kontakte abzubrechen.

Mit Demokratie hat freie Kooperation gerade nichts zu tun:

Wenn fünf Leute einen sechsten verprügeln, wird die Sache dadurch nicht besser, dass sie vorher mit 5:1 eine demokratische Abstimmung durchgeführt haben. Demokratisierung bedeutet meistens, dass die soziale Eingriffstiefe herrschender Strategien vorangetrieben wird – Partizipation begrenzt hier nicht Macht, sondern wird ihr Transmissionsriemen nach unten, zu den einzelnen Menschen, zum Alltag, zur konkreten »Mikropolitik«. Demokratie verbürgt also keineswegs Emanzipation, und Emanzipation im demokratischen Zeitalter bedeutet immer auch Schutz vor »Demokratisierung«, d. h. vor dem Anspruch anderer, im eigenen Leben herumzupfuschen.

In meinem Text Was ist eigentlich “Politik”? habe ich mich mit diesem Thema auch schon beschäftigt.

Emanzipation bedeutet, sich aus erzwungenen Kooperationen zu befreien und freie Kooperationen aufzubauen. Beides ist notwendig. Der Wegfall des Alten verbürgt nicht automatisch das Neue. Emanzipationskämpfe finden in der Situation statt, wo der Preis nicht vergleichbar ist. Sie verlaufen darüber, dass man es hart auf hart kommen lässt: Kooperationen verlässt oder Kooperationsleistungen einschränkt, obwohl der Preis dafür unter Umständen höher ist als für die Gegenseite – weil man entschlossen ist, genau diese Situation zu verändern. Linke Politik bedeutet, andere Emanzipationskämpfe zu erkennen und anzuerkennen und sich dabei gegenseitig zu unterstützen, um das Prinzip der freien Kooperation zu stärken und seinen Einfluss zu vergrößern.
Das Umgekehrte ist ebenfalls möglich. Auch aus der Situation einer freien Kooperation heraus sind Herrschaftsstrategien möglich; umso leichter, als freie Kooperation immer ein Näherungswert ist, ein dynamischer Prozess, kein für alle Zeiten konservierbares Gleichgewicht. Deshalb wird es immer Emanzipationskämpfe geben, und deshalb wird nie der Zustand erreicht, wo eine linke Politik nicht mehr nötig wäre.

Die Theorie der freien Kooperation stellt keine fixen Modelle auf, wie die »gute Gesellschaft«, das »richtige Leben«, die »korrekte Beziehung«, die »gesunde Lebensführung« etc. auszusehen hat. Sie versucht nicht, die Welt zu verbessern, sondern nur, den Menschen den Rücken zu stärken.

Diese Definition von linker Politik ist die erste, hinter der ich voll stehen kann. Von heute an bezeichne ich mich offen als linksradikal & kann auch genau erklären was ich damit meine. Dafür geht mein herzlicher Dank an Christoph Spehr!

Freie Kooperation heißt, diese Logik des Sozialen auf alle Arten und Bereiche von Kooperation anzuwenden und das zu verändern, was ihr entgegensteht. Es ist eine Utopie in Echtzeit. Sie dehnt sich aus und radikalisiert sich – in dem Sinne, dass sie breiter, umfassender und gründlicher wird. Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu können. In einem gewissen Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist nur, wie weit wir gehen.

In anarchistischer Terminologie geht es hier um direkte aktion!

Spehr kommt auf anderem Wege als Götz Werner darauf, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Menschen zu fordern. Damit wäre die wesentliche ökonomische Basis geschaffen dafür, dass die Menschen einander tatsächlich als Freie & Gleiche begegnen können.

Spehr hat allerdings einen blinden Fleck: Das Geldsystem. Solange das nicht in freier Kooperation organisiert ist, spielt in jede ansonsten “freie” Kooperation ganz massiv die Herrschaftsstruktur der Verfügung über Geld & erst recht der Verfügung über den Geldschöpfungsprozess hinein. Mehr dazu im Beitrag über Eine Billion Dollar.

Auch für die ökonomische Kreativität der real life economics oder einer Wirtschaft von unten findet sich hier das zentrale Kriterium, ob eine andere Logik von Arbeit als Kooperation entsteht oder lediglich selbstorganisierte Verfügbarkeit. Dieses Kriterium lautet: die Verfügbarkeit in der Arbeit abzubauen; allen Strukturen gegenzusteuern, wo die einen »liefern« und die anderen bestimmen; ökonomische Einheiten jeder Art grundsätzlich als Kooperationen aufzufassen und nach dem Leitbild freier Kooperation einzurichten. Wenn es irgendetwas gibt, was wir uns unter »wirtschaftlicher Freiheit« vorstellen können, dann ist es das.

Damit ist die Leitlinie des geplanten Kongresses zur Solidarökonomie vorgegeben!

Gerade für Gemeinschaften schätze ich die Politik der Anerkennung als ein Bestandteil von Freier Kooperation als extrem wichtig ein:

Eine Politik der Anerkennung ist etwas anderes als die liberale Idee der Toleranz – wonach jeder nach seiner Fasson selig werden mag, solange er bestimmte Grenzen einhält, bezüglich derer es wiederum keine Toleranz gibt. Anerkennung braucht den Konflikt und die Auseinandersetzung. Wir können Anderssein akzeptieren und als eine produktive Praxis begreifen, wenn wir dieses Anderssein kennen gelernt und zumindest Umrisse davon begriffen haben.
Das ist keine selbstlose Haltung; wir tun es, weil wir kooperieren wollen. Und wir tun es, weil wir uns selbst damit verändern können. Das Problematische am Anderssein ist meist nicht, dass uns etwas fremd und unbekannt ist, sondern dass es unterschwellige Bezüge aufweist zu Teilen und Aspekten von uns selbst, die wir verdrängen, unterdrücken, kontrollieren, ablehnen. Vieles davon ist Projektion, einiges davon ist real. Und durch dieses wirre Gelände von Anderssein und versteckter Ähnlichkeit, Projektion und realem Unterschied, Abgestoßensein und Angezogensein müssen wir durch, wenn wir als Subjekte kooperieren wollen. Billiger geht es nicht, wenn unsere Kooperation nicht brüchig und oberflächlich sein soll.
Anerkennung beginnt damit, etwas/jemand als anders zuzulassen und nicht nur als Abweichung.

(Hervorhebung von mir)

Langfristig lebensfähige Gemeinschaften dürfen ihre Mitgliede nicht gleichschalten, sondern als Individuen anerkennen. Der Unterschied ist sehr subtil & lässt sich an den Formulierungen “Das sind die anderen” vs. “Das sind Menschen, die anders sind” erkennen. Menschen, die anders sind, das sind wir alle. JedeR ist anders als alle anderen. In diesem Zusammenhang fällt mir Emmanuel Lévinas ein, von dem ich zwar selbst noch nichts gelesen habe, der mir jedoch nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ich einen Artikel über ihn gelesen habe.

Zwei Lesetipps aus dem Text: Gayatri Spivak: The Post-Colonial Critic Octavia Butler: “Xenogenesis”-Trilogie

Das “Putzfrauen-Dilemma”, das vorgeschoben wird um das “Putzfrauen-Prinzip” durchzusetzen (“Du musst weniger kosten als ich. Und: Du musst akzeptieren, dass ich den Preis festsetze, so dass du weniger kostest als ich. Und zwar deutlich weniger.”), zeigt unsere persönliche Verstrickung in das allumfassende Herrschafts-System. Dazu hatte ich schon angesichts des GfK-Workshops beim Ökodorf-Festival Gedanken gemacht.
Analog zu dem Begriff der “Inneren Friedensarbeit”, wie er in Tamera & im ZEGG verwendet wird, um zu beschreiben, dass “äussere Friedensarbeit” allein nicht ausreicht, fiel mir der Begriff Innerer Anarchismus ein. Der meint, mich beständig damit auseinanderzusetzen, wo ich selber andere beherrsche & auch, wo ich mich selbst beherrsche. Solange ich das nämlich tue, kann ich noch so viel Anarchie im Aussen einfordern, die Herrrschaft bleibt – in mir – bestehen.
& analog zur Gewaltfreien Kommunikation übe ich mich fortan in Herrschaftsfreier Kommunikation (positiv formuliert Emanzipatorische Kommunikation).

Herrschaftsfreiheit ist mir wichtiger als Gewaltfreiheit!

Auf Burg Lutter begegnete mir auf einem Flyer ein Schamanisches Herrscherseminar. Mal sehen, ob ich das mal mitmache.

So, das waren die Appetitanreger. Deine Aufgabe ist nun: Den Text als PDF runterladen & in Ruhe durchlesen! Auf geht’s!