Ein Anarchist wird zum Ritter geschlagen

Mein geistiger Spagat geht in die nächste Runde: Nachdem ich 2019 als Anarchist 70 Jahre Grundgesetz gefeiert habe und dann 2 Jahre später zudem als Anarchist Mitglied einer Partei geworden bin (was ich allerdings nur 2 1/2 Jahre blieb), wurde ich vor knapp 2 Jahren auch noch im Rahmen eines Seminars meines Prozessarbeits-Lehrers Sebastian Elsaesser in einer Arbeit zum Ritter geschlagen.

Das muss ich näher erläutern, denn ihr fragt euch jetzt bestimmt “zum Ritter geschlagen, WTF!?”. Es kam so: Ausgangspunkt war, dass ich Anfang des Jahres 2023 eine Nebenhöhlenentzündung bekam, was ich zuletzt in meiner Jugend hatte. Die Schmerzen waren echt heftig. Und als ich so mit den Schmerzen im Bett lag, erschien mir eine Figur in einer metallenen Rüstung. Ich habe sie sowohl als beschützend empfunden als auch mit einer großen Macht, mich am Weinen zu hindern. Später habe ich sie dann als Ritter identifiziert.

Dieses Erlebnis hat so stark auf mich gewirkt, dass mir schnell klar war, dass ich das auf prozessorientierte Weise entfalten will bzw. muss – es hat mich gerufen. Und mir war auch klar, dass es dafür den Rahmen einer ganzen Gruppe braucht, eine Einzelarbeit nur mit Sebastian schien mir nicht ausreichend. Daher meldete ich mich zum Seminar im Schlossgut Obbach an. Ein solches Seminar findet übrigens im kommenden Juli wieder statt.

Dort habe ich Sebastian dann erst mal mein Erlebnis geschildert, und sehr bald in der Arbeit hat er mich damit überrascht, dass er in meine Rolle gegangen ist und mich in die Rolle des Ritters gebracht hat. In dieser Rolle habe ich dann quasi mich selber zum Ritter geschlagen, allerdings erst nachdem Sebastian in meiner Rolle sich auf folgende ritterlichen Tugenden verpflichtet hat:

  1. Wahrhaftigkeit
  2. Mut
  3. Demut
  4. Den Schwachen beistehen

Diese Tugenden kamen mir spontan in meiner Rolle als Ritter, nichts davon hatte ich mir vorher ausgedacht.

Seither begleiten sie mich in meinem Leben, und ich erforsche die Ritterschaft. Mit einem Begleiter wurde schnell deutlich, dass ich vom eigentlichen Ritter noch sehr weit entfernt bin und mich erst mal als Knappe zu bewähren habe.

Als Anarchist erzeugt das natürlich ein Spannungsfeld, auch wenn ich als innerer Anarchist offener für solche Experimente bin. Denn Ritter gehören historisch gesehen zum Erzwingungsstab von Herrschaftssystemen. Das geht also eigentlich gar nicht für einen Anarchisten.

Ein Anknüpfungspunkt findet sich jedoch schon in meinem Beitrag über inneren Anarchismus:

Solche Gewohnheiten lassen sich nun nicht einfach durch ein Fingerschnippen auflösen, sondern auch zur Selbstbefreiung braucht es Disziplin. Nur sollten wir es damit nicht übertreiben, denn andernfalls schleifen sich nur wieder neue Gewohnheiten ein.

In der Disziplin üben sich Ritter auf jeden Fall. Das unterscheidet sie von gewöhnlichen Söldnern und Marodeuren – jedenfalls in meinem Bild, das ich von Rittern habe. Zu diesem Bild gehört auch, dass Ritter klare Werte und Tugenden vertreten, was sich wiederum mit dem inneren Anarchismus beißt:

Das heißt im übrigen, dass Werte, Überzeugungen, Ideale und Moral der Freiheit entgegenstehen. Denn sobald es einen absoluten Wert für mich gibt, lasse ich mich von diesem beherrschen. Ich kann dann eben nicht mehr tun, was ich will, weil ich mich selbst davon abhalte.

Und doch, wie ich damals schon schrieb:

So ist der Weg zu wahrer Freiheit, der innere Anarchismus, wie ich ihn hier nenne, immer ein Spiel mit den Gegensätzen von Zwang und Freiwilligkeit. In diesem Wort steckt der Wille drin, den ich an anderer Stelle schon als die schöpferische Kraft bezeichnet habe.

Diese Auseinandersetzung mit der Ritterschaft ist viel persönlicher als mein Feiern des Grundgesetzes und das Mitglied einer Partei sein. Sie wirkt sich auch auf mein Leben in der Gemeinschaft aus, denn sie ist eng verbunden mit dem Thema des Führens und Folgens. Ein gutes halbes Jahr vor meinem Beitrag zum inneren Anarchismus hatte ich über das Prinzip Führung geschrieben. In der Gemeinschaft und unserem Institut ist mir einerseits wichtig, dass wir ohne Herrschaft auskommen, andererseits finde ich offene Hierarchien entschieden besser als verborgene. Dazu hat Jo Freeman schon 1972 den Grundlagentext Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen geschrieben, letztes Jahr hat Eva Stützel das Thema in ihrem Buch Macht voll verändern – Rang und Privilegien in »hierarchiefreien« Projekten ausgeführt. Sie geht dabei vom Konzept des Rangs aus der Prozessorientierten Psychologie aus, das ich bekanntlich auch sehr wertvoll finde. Daher habe ich auch schon über eine fünfte ritterliche Tugend nachgedacht:

Ein Ritter nimmt seinen Rang bewusst ein.

Zugleich steht ein Ritter nicht ganz oben in der Hierarchie, sondern er dient immer noch einem Herrn. Im Zusammenhang mit der Ritterschaft habe ich im vorletzten Jahr das hier geschrieben:

Aus konfuzianischer Sicht gilt: als Ritter diene ich einem Herrn, und über diesem steht immer noch der Himmel. Nur wenn der Herr im Einklang mit den Gesetzen des Himmels steht, ist er ein guter Herr.

Da sind wir jetzt schon in Ostasien, wo noch ein Stück weiter die Samurai zuhause waren. Die Samurai sind mir tatsächlich näher als die europäischen Ritter. Auf Empfehlung eines Freundes habe ich mir den Film Last Samurai angesehen, und bei den Extras der DVD fand ich diesen Ehrenkodex der Samurai:

Ehre und Gerechtigkeit
Verhalte dich ehrenhaft bei all deinen Begegnungen mit anderen Menschen. Glaube an die Gerechtigkeit, nicht an die von anderen, aber an deine eigene. Für den Samurai gibt es keinerlei Graustufen in Fragen der Ehre und Gerechtigkeit. Es gibt lediglich richtig oder falsch.
Zuvorkommende Höflichkeit
Die Samurai haben keinen Grund, grausam zu sein. Sie müssen ihre Stärke nicht beweisen. Ein Samurai ist höflich, selbst zu seinen Feinden. Ohne diese äußerliche Respekterweisung sind wir nicht mehr als Tiere. Ein Samurai wird nicht nur für seine Kampfkraft respektiert, sondern auch für seinen Umgang mit anderen Menschen. Die wahre Stärke eines Samurai offenbart sich in schwierigen Zeiten.
Heldenhafte Tapferkeit
Erhebe dich aus der Masse der Leute, die Angst davor haben, Handlungen auszuführen. Sich wie eine Schildkröte in seinem Panzer zu verstecken, heißt, überhaupt nicht zu leben. Ein Samurai muss heldenhafte Tapferkeit besitzen. Dieses Dasein ist äußerst riskant. Es ist gefährlich. Es beinhaltet, das Leben voll und ganz, ja wundervoll zu leben. Heldenhafte Tapferkeit ist nicht blind. Sie ist intelligent und stark.
Ehre
Ein Samurai besitzt nur einen Richter über seine Ehre und das ist er selbst. Die Entscheidungen, die du triffst, und wie diese Entscheidungen durchgesetzt werden, spiegeln dein wahres Ich wieder. Du kannst dich nicht vor dir selbst verstecken.
Mitgefühl
Durch intensives Training wird der Samurai schnell und stark. Er ist nicht wie andere Männer. Er entwickelt eine Kraft, die für das Wohl aller eingesetzt werden muss. Er besitzt Mitgefühl. Er hilft seinen Mitmenschen bei jeder Gelegenheit. Wenn sich keine Gelegenheit dazu ergibt, tut er alles, um eine zu finden.
Völlige Aufrichtigkeit
Wenn ein Samurai gesagt hat, er werde eine Handlung ausführen, kann man sie als erledigt betrachten. Nichts wird ihn davon abhalten das Gesagte zu vollenden. Er muss dazu nicht “sein Wort geben”. Er muss nichts “versprechen”. Sagen und Ausführen sind dieselbe Handlung.
Pflicht und Loyalität
Für den Samurai bedeutet, wenn er “etwas” gemacht oder “etwas” gesagt hat, dass er dieses “Etwas” besitzt. Er ist dafür verantwortlich, sowie für alle daraus folgenden Konsequenzen. Ein Samurai ist loyal zu denen, um die er sich sorgt. Er bleibt denen, für die er verantwortlich ist, absolut treu.

Bei der Ehre zeigt sich für mich am deutlichsten der Unterschied zu den europäischen Rittern. Ich habe inzwischen nämlich den Parzival von Wolfram von Eschenbach gelesen, und dort kommt immer wieder zum Tragen, dass ein Ritter den anderen Rittern seine Ehre beweisen muss. Wikipedia schreibt zu Richard Löwenherz:

Bei Richards Einzug in die eroberte Stadt machte er sich jedoch aufgrund einer Ehrverletzung den österreichischen Herzog dauerhaft zum Feind. Die Ehre war im Umgang der Protagonisten von größter Bedeutung; Ehre und Ehrgefühl spielten für Ethos und Mentalität des Adels eine zentrale Rolle, auf sie musste zwingend Rücksicht genommen werden. Dabei wurde Ehre nicht als moralische Kategorie verstanden; gemeint war der Respekt, den eine Person aufgrund ihres Ranges und ihrer sozialen Stellung erwarten konnte.

Da lobe ich mir doch den Ehrbegriff der Samurai, mit dem kann ich entschieden mehr anfangen.

Übrigens fühle ich mich als werdender Ritter recht einsam, obwohl ich ja in einer Gemeinschaft lebe und auch beim Anarchismus die kollektivistische oder auch die kommunistische Ausprägung gegenüber dem Individualanarchismus bevorzuge.

Tatsächlich sehne ich mich nach einer Tafelrunde, aber wie und wo soll ich die im 21. Jahrhundert finden?

Wie ihr merkt, umkreise ich das Thema beim Schreiben. Ich bin ja auch noch mitten im Prozess. Voraussichtlich wird es also weitere Beiträge oder mindestens Nachträge zu diesem hier geben.

Nachtrag vom 05.06.: Geht schon los mit den Nachträgen – wenn man Ritterschaft aus der Perspektive der Bewusstseinsentwicklung betrachtet, geht es da ja um den Übergang von Rot zu Blau (in der Sprache von Spiral Dynamics). Rot ist das Recht des Stärkeren, Blau ordnet die Gewalt einer höheren Ordnung unter. Das hat Bundesrichter Thomas Fischer sehr lapidar auf den Punkt gebracht, was ich auch schon hier im Blog zitiert habe:

So lange nur “Raubritter” auf ihren Burgen saßen und ihre Söldnerhaufen gegeneinander sandten, war jeder der “Terrorist” des anderen. Wenn einer gewonnen hatte, war er mit einem Mal der Staat und die anderen die Verbrecher.

Die rote Gewalt und das Aufbegehren gegen die purpurne Stammesgemeinschaft ist aus integraler Sicht ein notwendiger Entwicklungsschritt, womit ich mich immer noch schwer tue. Interessanterweise hat unser Organisationsentwickler Martin Dehnke vor ein paar Wochen bei einem Treffen der Diamond Lotus Zauberlehrlinge mit der Gemeinschaft Spiral Dynamics vorgestellt. Dabei haben wir auch einen Test gemacht, bei dem sich zeigte, dass ich und 2 von 3 Sinnhütern eine ausgeprägte Schwäche bei Rot haben. In meinem Fall hatte ich das bei der Selbstbeschreibung meines Wegs durch die Entwicklungsebenen auch schon angedeutet:

Die rote Phase habe ich in Teilen erst sehr spät nachgeholt, als Kleinkind habe ich mich eher brav als trotzig verhalten. Erst als Erwachsener habe ich gegen meine Eltern rebelliert & dabei sogar ein Jahr lang mit ihnen “Schluss gemacht”. In dieser Zeit habe ich z.B. auch im Wald Äste zerkloppt & mich dabei abreagiert. Und sogar erst in den letzten Jahren ist mir klar geworden, welche wichtige Rolle der Willen spielt, ganz unabhängig von rationalen Überlegungen wie auch Konventionen, sondern als eine vitale Kraft.

In dem Zusammenhang ist mir eingefallen, dass ich in meiner Leipziger Zeit schon mal bei 2 Arten von Kampfsport reingeschnuppert hatte: zuerst beim Aikido, wo es darum geht, so biegsam und durchlässig zu werden, dass die Energie des Angreifers durch einen hindurchgeht. Später habe ich dann mit Krav Maga das andere Ende des Spektrums erkundet, denn da geht es darum, den Gegner mit allen Mitteln so schnell wie möglich kampfunfähig zu machen. Es blieb in beiden Fällen beim Reinschnuppern, ich bin nicht tiefer eingestiegen. Bei Krav Maga habe ich noch eine interessante Erfahrung gemacht, nämlich dass ich das Schlagen sehr anstrengend finde und kraftvolle Schläge jeweils nur kurze Zeit durchgehalten habe.

Nachtrag vom 06.06.: Dass mir jetzt erst einfällt, hier auch auf die Makellosigkeit des Kriegers im Sinne der Tolteken hinzuweisen…