Deutschland und Griechenland als Zeitgeister

Der Begriff “Zeitgeist”, wie ich ihn hier verwende, stammt von Arnold Mindell. Petra Mecklenburg charakterisiert Zeitgeister in ihrem Artikel Der Weg durch den Sturm nach einem gleichnamigen Buch von Mindell so:

Spirits of the time – ich würde das mit (wandelbare) kollektive Geister übersetzen, in der deutschen Übersetzung des Buches heißen sie „Zeitgeister“ – sind Archetypen, die sich zu bestimmten Zeiten durch bestimmte Menschen ausdrücken. Diese Archetypen kommen aus dem Unbewussten ans Licht, wenn wir ihnen erlauben, durch uns zu sprechen, oder wenn sie von uns Besitz ergreifen; und sie sind wandelbar, wenn wir ihnen Raum geben, sich zu entfalten und sich zu zeigen. Diese Geister sind Teil des Feldes, das die ganze Gruppe bildet und treten zunächst in sich streibar gegenüberstehenden Kontrahentenpaaren auf: Kommunisten und Kapitalisten, Realos und Fundis, Arbeiterinnen und Manager, arme Länder und reiche Länder, Täter und Opfer, Heldinnen und Schurken und so weiter.

Meine Diskussionen mit unterschiedlichsten Leuten über die derzeitige Griechenland-Krise haben mir klargemacht, dass wir auf der Sachebene offensichtlich nicht weiterkommen, weil hier tiefere Zeitgeister am Werk sind und miteinander ringen.

Deshalb lade ich mit diesem Beitrag ein, die Zeitgeister, die unter der Überschrift “Deutschland vs. Griechenland” aufeinandertreffen, genauer zu erforschen. Beide wollen gewürdigt werden, beide haben ihren Platz in dieser Welt. Und beide haben auch jeweils blinde Flecken, durch die sie die Gesamtsituation unvollständig wahrnehmen.

Um diese Arbeit noch zu verstärken, suche dir jeweils einen Platz im Raum für den Zeitgeist “Deutschland” und einen anderen für den Zeitgeist “Griechenland”. Stell dich körperlich an diesen Platz, während du dich mit dem jeweiligen Zeitgeist verbindest.

Fangen wir, da ich mich auch als Deutscher verstehe und in Deutschland lebe, mit dem Zeitgeist “Deutschland” an (das sind meine subjektiven Gedanken, die zu weiteren Assoziationen anregen sollen):

  • Deutsche sind fleißig und sparsam (“schwäbische Hausfrau”, “schaffe, schaffe, Häusle baue”)
  • Volk der Dichter und Denker
  • gründlich
  • ordentlich
  • korrekt
  • usw. (was dir spontan noch dazu einfällt)

Lass das mal ne Weile sacken & wirken. Was stößt dich daran ab, was gefällt dir daran?

Kommen wir nun zur Frage, was will dieser Zeitgeist nicht sehen, wo will er nicht hinschauen? Mir scheint, er will seine eigene Macht nicht sehen, siehe Deutschland führt einen Export-Weltkrieg. Vielleicht fällt dir ein ganz anderer blinder Fleck auf.

Nachdem du diesen Platz mit diesem Zeitgeist ausgelotet hast, geh auf den anderen Platz zum Zeitgeist “Griechenland”. Was ist da? Hier wieder meine Assoziationen:

  • Griechischer Wein
  • Sirtaki tanzen
  • das Leben genießen
  • antike Philosophie
  • Wiege Europas und der Demokratie
  • Vetternwirtschaft
  • usw. (wieder Platz für deine eigenen Gedanken)

Fühl dich auch in diesen Platz, diesen Zeitgeist ein. Was stößt dich an ihm ab, was gefällt dir daran?

Was will nun dieser Zeitgeist nicht sehen, wo hat er seinen blinden Fleck? Mir fällt als erstes das Wort “Klientelismus” ein, von dem der Artikel Gut genährt dank Rousfetia berichtet. Was fällt dir auf bzw. ein, was der Zeitgeist “Griechenland” nicht sehen will?

Nun könntest du weitermachen und vom einen Platz auf den anderen Zeitgeist blicken, dich hin- und herbewegen. In einer Gruppe lässt sich natürlich viel mehr machen, siehe Worldwork.

Und neben die Zeitgeister “Griechenland” und “Deutschland” gehören als nächstes dann “Europa”, “der Euro” und “die EU”.

Diese Zeitgeister sich entfalten zu lassen, kann die gesellschaftliche und globale Dissoziation Stück für Stück abbauen und die abgetrennten Teile wieder zusammenbringen. Passenderweise findet das nächste Worldwork 2017 in Athen Porto Heli statt.

Und im Sinne des kosmischen Witzes ende ich mit diesem Postillon-Artikel: 9 von 10 Deutschen finden Sparpolitik absolut notwendig, solange sie nicht selbst betroffen sind. ;-)

Über Rückmeldungen zu dem, was sich euch im Prozess gezeigt hat, freue ich mich sehr!

Nachtrag: Das entwickelt sich immer mehr zu einer systemischen Aufstellung. Zwei Zeitgeister gehören unbedingt mit dazu, nämlich “Schuldner” und “Gläubiger”. Allein nur die beiden birgt schon mehr als genug Zündstoff.

Nachtrag vom 10.05.2016: Beim Zeitgeist Griechenland gibt es noch einen Subtext, der sich mir bei David Graeber das erste Mal andeutete, dann bei Charles Eisenstein deutlicher wurde und in der Megamaschine nun ganz klar zu Tage tritt. Das antike Griechenland war nämlich die erste voll entwickelte Geld- und Marktwirtschaft. Eisenstein schreibt dazu im 3. Kapitel:

Es ist kein Zufall, dass dort, wo das symbolische Geld entstand, im antiken Griechenland, auch die anderen weltanschaulichen und philosophischen Grundsteine gelegt wurden, die noch heute unser Denken prägen, zum Beispiel die Idee vom Individuum oder Konzepte wie Logik und Verstand. In seinem wissenschaftlichen Meisterwerk “Money and the Early Greek Mind” hat Richard Seaford den Einfluss des Geldes auf die griechische Gesellschaft und das griechische Gedankengut untersucht und daraus Eigenschaften hergeleitet, die das Geld einzigartig machen: Geld ist beides, konkret und abstrakt, es ist einheitlich, unpersönlich, ein universelles Ziel und ein universelles Mittel, und es kennt keine Grenzen. Die Etablierung dieser neuen Macht in unserer Welt hatte weitreichende Auswirkungen, von denen viele so tief in unserer Kultur und unserem Denken, der Psyche und der Gesellschaft verwurzelt sind, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen, geschweige denn in Frage stellen. […] In der Warenwelt entsprechen Dinge dem Geld, das sie ersetzen kann. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihr “Wert” – ein abstrakter Begriff. Ich spüre eine Distanzierung, eine Herabwürdigung in dem Satz: “Du kannst immer ein anderes davon kaufen”. Das fördert einen Anti-Materialismus, eine Distanzierung von der materiellen Welt, in der jede Person, jeder Ort und jedes Ding besonders und einzigartig ist. Kein Wunder, dass die griechischen Philosophen in der Antike begannen, das Abstrakte über das Reale zu erheben. Den Höhepunkt stellt die Ideenlehre von Platon dar, wonach das Urbild der perfekten Form wirklicher ist, als die mit den Sinnen erfahrbaren Abbilder. […] In der Einleitung schrieb ich von der Vorstellung, dass wir einen Gott nach dem Ebenbild unseres Geldes geschaffen hätten: eine unsichtbare Kraft, die alle Dinge bewegt, die Welt belebt, eine “unsichtbare Hand”, die das menschliche Handeln ordnet, immateriell, aber allgegenwärtig. Viele dieser Eigenschaften von Gott oder Geist gehen auf die vor-sokratischen griechischen Philosophen zurück, die ihre Ideen genau zu der Zeit formulierten, als sich das Geld in ihrer Gesellschaft etablierte. Seaford zufolge waren sie die ersten, die überhaupt zwischen dem Wesen und der Erscheinung, dem Konkreten und dem Abstrakten unterschieden – diese Unterscheidung fehlte (auch implizit) noch bei Homer völlig. Die frühen griechischen Denker legten großen Wert auf das Abstrakte. Sie sahen darin ein verborgenes Prinzip, das die Welt ordnet: Anaximander sprach vom Urstoff, aus dem alles besteht als “Apeiron” (das Unendliche, das Unbegrenzte); Heraklit nannte das Prinzip der Weltordnung “Logos” (Sinn, Vernunft); Pythagoras wollte die Grundprinzipien der Welt mit Hilfe von Zahlen und mathematischen Verhältnissen verstehen.

In Das Ende der Megamaschine erfahren wir nun, dass diese Ausbreitung des Geldes mit einer massiven Militarisierung einherging:

Mit der Ausbreitung des Münz- und Marktwesens explodierte der Umfang der Athener Flotte geradezu. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts unterhielt Athen 200 große Kriegsschiffe (Triremes) mit einer Besatzung von jeweils 200 Mann. Das kleine Athen (einschließlich Attika) mit 500.000 Einwohnern unterhielt also eine Flotte von 40.000 Mann. Auf die deutsche Einwohnerzahl hochgerechnet entspräche das acht Millionen, auf US-amerikanische Verhältnisse übertragen 24 Millionen Marinesoldaten. Die “Wiege der Demokratie” war eine hochmilitarisierte Gesellschaft.

Vor diesem Hintergrund erscheint es als eine bittere Ironie des Schicksals, dass das heutige Griechenland so brutal und konkret durch die Macht des abstrakten Geldes ausgeplündert wird. Und vielleicht hat deshalb gerade Griechenland die Aufgabe, die ausbeuterische Geld- und Marktwirtschaft bewusst zu beenden, die es vor 2.500 Jahren etabliert hat.

Nachtrag vom 22.05.2017: Die aktuelle Anstalts-Folge erklärt extrem anschaulich das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Deutschland und Griechenland:

Nachtrag vom 26.05.2019: Im Interview mit Telepolis sagt Yanis (auf dem Wahlzettel stand Ioannis) Varoufakis:

Der wirklich schädlichste Mythos dabei ist einer, der in ganz Europa gerne wiederholt wird, nämlich dass die Arbeiter und Angestellten in Deutschland ihren Profit machen würden durch die große Armut in Griechenland. Aber was ist die Wirklichkeit? Das genaue Gegenteil ist der Fall. In Deutschland ist die Armut in den letzten fünfzehn Jahren gewachsen. Und Millionen von Deutschen und Menschen in Deutschland - auch in den Familien, deren Erwachsene Arbeit haben - geht es wirtschaftlich schlechter als vor der gesamten Euro-Krise und Griechenland-Debatte.