Aufmerksamkeit und Hierarchien

Mir ist kürzlich ein neuer Aspekt des großen Themas Aufmerksamkeit(sökonomie) aufgegangen, das mich bekanntlich schon lange beschäftigt. Und zwar ist durch das Internet ja tatsächlich das erste Mal in der Menschheitsgeschichte ein globaler Aufmerksamkeitsraum entstanden, eine echte Weltöffentlichkeit. Vorher gab es zwar schon Massenmedien, die theoretisch in der Lage waren, jeden einzelnen Menschen auf der Erde zu erreichen – aber diese Kommunikation geht nur in eine Richtung, die Massen sind nur passive Empfänger. Im Internet kann nun theoretisch jeder einzelne Mensch zum Sender werden, und zwar theoretisch an alle anderen Menschen.

So weit so bekannt. Wie funktioniert das nun praktisch? Die zentrale Aussage der Aufmerksamkeitsökonomie ist, dass in dieser Konstellation die Aufmerksamkeit der Menschen zum knappen Gut geworden ist. Ich kann einfach schon prinzipiell nicht allen acht Milliarden anderen Menschen gleichzeitig zuhören oder -schauen.

An dieser Stelle kommt jetzt die Hierarchie als Filtermechanismus ins Spiel: Stars und Prominente aller Art bekommen den Großteil der Aufmerksamkeit aller Menschen ab, während die große Masse nur von ganz wenigen anderen überhaupt wahrgenommen wird. Diese Aufmerksamkeits-Stars wiederum bilden um sich herum einen Kreis von Auserwählten, denen wiederum sie einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit widmen, denn sie können gar nicht die ganze Fan- & Haterpost selber lesen. Die Auserwählten filtern also das, was die Weltöffentlichkeit den Stars mitteilen will.

Ich sehe auch gar keinen anderen Weg, den Fluss der Aufmerksamkeit zu organisieren. Nehmen wir Linus Torvalds als Beispiel: Der hat um sich die Kernel-Subsystem-Maintainer geschart als Filter für die unzähligen Patch-Einsendungen von Kernelentwicklern. Er würde verrückt werden, wenn er die alle selber sichten müsste. Das geht gar nicht.

Aus diesem Grund gibt es da diese Hierarchie, und zwar bei allen großen Softwareprojekten. Und aus dem gleichen Grund hat die Bundeskanzlerin ihre Minister usw. usf.

Mir scheint also, dass wir um Hierarchien genau deshalb nicht herumkommen, weil die Aufmerksamkeit der einzelnen Menschen bei weitem nicht ausreicht, um alle anderen Menschen zu erfassen.

Da hilft auch kein Achtsamkeitstraining.

Was meint ihr dazu?

Über den Artikel The Dark Forest Theory of the Internet bin ich darauf aufmerksam (sic!) geworden, dass das Thema sogar eine kosmische Dimension hat. Denn diese Dunkler-Wald-Theorie entstammt einem Science Fiction-Roman, wo sie die Frage beantwortet, warum sich eigentlich noch keine andere außerirdische Zivilisation bei uns gemeldet hat: Dort beschreibt der Autor das Universum als einen dunklen Wald, der eigentlich voller Leben ist, aber alle Lebewesen verhalten sich still, um nicht von den Raubtieren gefressen zu werden.

Nachtrag vom 26.05.: Ein sehr beeindruckendes Beispiel für das ganze Dilemma ist, dass mir die Kandidatur von Yanis Varoufakis für die Europawahl erst einen Tag vor der Wahl bewusst wurde. Natürlich hätte ich schon längst mir die Mühe machen können, die Liste der zur Wahl stehenden Parteien durchzugehen, dann wäre mir das viel früher aufgefallen. Allerdings habe ich, wie vermutlich die meisten Menschen, die Strategie verfolgt, dass ich mich nur für die Parteien überhaupt interessiere, die mir in irgendwelchen Medien begegnen, ohne dass ich selber gezielt danach suche. Die Website Demokratie in Europa habe ich tatsächlich erst jetzt nach der Wahl entdeckt.

Nachtrag vom 18.06.: c’t-Redakteur Hartmut Gieselmann fordert eine Abkehr von der Aufmerksamkeitsökonomie:

In Zusammenarbeit mit Soziologen müsste an Stelle der Likes und Follower ein neues Bewertungssystem entstehen, das nicht auf Aufmerksamkeits- und Profitmaximierung ausgerichtet ist, sondern konstruktive Beiträge nach oben spült und Teilnehmer belohnt, die respektvoll mit ihrem Gegenüber umgehen.