Unsere eingebaute rosa Brille

Empfohlener Soundtrack zu diesem Beitrag: 4Hero – Wishful Thinking ;-)

Vor kurzem habe ich endlich Die Post-Kollaps-Gesellschaft von Johannes Heimrath angefangen, um das ich mich schon seit Jahren gedrückt hatte. Bekannt ist es mir schon lange, weil es so was wie der rote Faden der Oya ist; einen Vorgeschmack gibt der Artikel in Oya Nr. 2 Auf in die Post-Kollaps-Gesellschaft.

Darin erwähnt Johannes die Studie How unrealistic optimism is maintained in the face of reality aus dem Jahr 2011, von der es in der gleichen Zeitschrift eine Zusammenfassung gibt, die zur Überschrift meines Beitrags passt: The brain’s rose-colored glasses.

Johannes fasst das Ergebnis so zusammen:

Die Zeitschrift “Nature Neuroscience” des amerikanischen Kollegiums für medizinische Genetik veröffentlichte jüngst eine Studie, nach der bei 80 Prozent der Menschen die vorderen Stirnlappen im Neokortex, dem Teil des Gehirns, der unsere kognitiven Prozesse steuert, kurz: mit dem wir logisch denken und urteilen, ihre Arbeit einstellen, sobald sie problematische oder unangehme Eindrücke empfangen. Die schlechte Nachricht wird schlichtweg nicht verarbeitet. Die Fakten werden nicht so wahrgenommen, wie sie sind. Stattdessen erhält das Gehirn die Illusion einer warmen, wohligen, wattigen Welt aufrecht, in der am Ende alles gutgeht, das Unmögliche möglich wird und sich Probleme in Luft auflösen. Diese fatale Eigenschaft des dominanten Teils unserer Spezies wird “unrealistischer Optimismus” genannt. Er führt beispielsweise dazu, dass die meisten Befragten der Untersuchung es eher für möglich halten, den Jackpot im Lotto zu gewinnen, als an Krebs zu erkranken. Sowohl die Statistik wie der gesunde Verstand der restlichen 20 Prozent Nicht-Optimisten sprechen massiv dagegen.

Konkret wurden die Studienteilnehmerinnen gefragt, wie hoch sie das Risiko verschiedener negativer Ereignisse für sich selbst einschätzen. Anschließend wurde ihnen das durchschnittliche statistische Risiko mitgeteilt, woraufhin die besagten 80 Prozent zwar ihre Einschätzung angepasst haben, wenn sie vorher das Risiko überschätzt hatten, aber nicht, wenn sie das Risiko vorher unterschätzt hatten. Deshalb passt die rosa Brille als Metapher. “Wir schaffen das”…

Johannes schreibt weiter

Nach alledem dürfte der “unrealistische Optimismus” die Ursache für das blinde Weiterwursteln der Menschheit im Allgemeinen und ihrer Entscheider im Besonderen sein. Vor allem der Stand der Berufspolitiker aller Schattierungen scheint in hervorragendem Maß von dieser Wahrnehmungsblockade betroffen zu sein. Wie sonst wäre zu erklären, dass wider alle wissenschaftliche Erkenntnis, nach der das Weiterwursteln die Grundlagen unseres Überlebens zerstört, mit roten Backen eifrig weitergewurstelt wird? Zu einem Innehalten scheinen eben 80 Prozent der Menschen nicht imstande zu sein, und womöglich sind gerade mit Entscheidungsmacht ausgestattete Berufe, wie Konzernführer und Bürokrat, Politiker, Investmentbanker und Despot, so attraktiv für “unrealistische Optimisten”, dass sie die verfügbaren Plätze zu 100 Prozent einnehmen.

In diese Richtung spekuliert die Zusammenfassung in Nature Neuroscience auch:

it is also interesting to speculate that being optimistic might be correlated with social effects, such as leadership and social dominance, an effect perhaps at work in politics, as in religion. These two possible accounts may of course interact: ­people’s need for a rosier view of the future may be satisfied by subscribing to religious or political groups that provide reasons to believe in such a view.

In einer Folgestudie haben Tali Sharot et al. gezeigt, dass dieser unrealistische Optimismus von erhöhtem Dopamin-Ausstoß befeuert wird.

Die englische Wikipedia hat einen umfangreichen Artikel über den Optimism bias, auf Deutsch habe ich auf die Schnelle nur den Artikel über Optimismus im Online-Lexikon der Psychologie bei Spektrum der Wissenschaft gefunden. Der Artikel in der deutschen Wikipedia glänzt mal wieder durch Abwesenheit…

Tali Sharot hat 2014 ein ganzes Buch dazu geschrieben, Das optimistische Gehirn. Im Sinne der Selbsterkenntnis scheint mir das ein Must-Read zu sein.

Das wirft natürlich auch ein Licht auf die Strategie der Klimaschutzbewegung (vgl. Warum unser Gehirn darauf programmiert ist, die Klimakrise zu ignorieren): Bei der Rebellion Wave von Extinction Rebellion letzten Herbst habe ich intuitiv schon vermieden, die Sticker mit “Wir sind am Arsch!” zu verkleben, weil diese Botschaft eben bei 80% der Bevölkerung gar nicht ankommt. Und es verwundert also auch nicht, warum beinahe 50 Jahre nach der Veröffentlichung von Die Grenzen des Wachstums der Naturverbrauch immer noch weiter zunimmt.

Mich lässt dieses Phänomen erst mal ratlos zurück (zumal man den Effekt auch kaum wegkriegt). Ob wir als Menschheit die nächsten Jahrzehnte überleben, ist für mich sehr ungewiss.

Nachtrag: Scheisse, wenn ich so was sehe, muss ich weinen:

Nachtrag vom 27.07.: Heute habe ich mir die Kali-Figur an meinen Arbeitsplatz gestellt. Kali-Figur

Die können wir gut gebrauchen, wie sie mit ihrer Sichel die Köpfe der Illusionen abschlägt.

Nachtrag vom 13.08.: Die eingebaute rosa Brille könnte durchaus der Grund sein, warum wir uns immer wieder zu viel vornehmen in dem Irrglauben, das schon irgendwie zu schaffen.