Individuelle Freiheit in der Wirtschaft

Zwischen Rhetorik und Theorie der (neoklassischen) Wirtschaftswissenschaft klaffen Welten: Die “freie” Marktwirtschaft wird immer gern beschworen. Das Modell, das in der Neoklassik uns Menschen beschreibt, der homo oeconomicus, verfügt allerdings über gar keine Freiheit. Er ist ein Roboter ohne Bewusstsein, gezwungen, seinen ökonomischen Nutzen rational zu optimieren. Dabei unterschlagen die Ökonomen, dass dieses Modell aus zwei Teilen besteht:

  • dem freien Individuum, das willkürlich festlegt, worin sein konkreter Nutzen überhaupt bestehen soll, sowie
  • dem Roboter, der diesen Nutzen dann rational verfolgt und optimiert Ähnlich wird in christlichen Kreisen gern der zweite Teil des Satzes “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” unterschlagen.

Die neoklassische Theorie befasst sich komplett nur mit dem zweiten Teil, dem nutzenoptimierenden Roboter. Kein Wunder, dass unsere Gesellschaft immer stärker einer Robotergesellschaft voller Sachzwänge ähnelt.

Anders formuliert: Die Wirtschaft, die ein Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke sein sollte, wird immer mehr zum Selbst-Zweck. Das hatte ich ja auch schon in Traumaufgaben und Beziehungsarbeit angeschnitten. Den Satz “Der Sinn meines Lebens kann es nicht sein, meinen Nutzen zu optimieren” habe ich jetzt zu Ende gedacht:

Der Sinn ist der Nutzen selbst, und nicht dessen Optimierung.

Wenn jemand z.B. als seinen Nutzen festlegt, möglichst viel “Freizeit” zu haben, dann ist es hirnrissig, zur Optimierung dieses Nutzens möglichst viel (fremdbestimmt!) zu arbeiten, damit man von dem dadurch verdienten Geld dann die verbliebene knappe “Freizeit” genießen kann. Genau so verhält sich aber die Mehrheit unserer Gesellschaft.

Ökonomen greifen für den zu optimierenden Nutzen gerne auf menschliche Bedürfnisse zurück & illustrieren diese mit der Maslowschen Bedürfnispyramide, die besagt, dass es eine Hierarchie von Bedürfnissen gebe, die der Reihe nach befriedigt werden müssen. Sich allzusehr auf Bedürfnisse zu berufen, verneint allerdings wieder die individuelle Freiheit, zu entscheiden und zu handeln.

Warum ich übrigens das Wort “Freizeit” in Anführung setze: Was heißt denn Freizeit? Freie Zeit, also Zeit, in der ich frei bin, zu tun & zu lassen, was ich will. Wenn ich mir also eine Arbeit suche, die ich gern mache, die mich erfüllt, und in der ich über meine Tätigkeit mitbestimmen kann, dann habe ich auf einen Schlag 40 Stunden Freizeit mehr pro Woche. Und ich werde sogar noch dafür bezahlt! Das ist doch wesentlich rationaler als immer nur nach dem Geld zu schielen.

Wähle ich nun Bewusstsein als zu optimierenden Nutzen, dann wird schnell klar, dass hier Zweck und Mittel zusammenfallen. Ich kann mein Bewusstsein nur dadurch erweitern, dass ich bei allem, was ich tue und erlebe, möglichst bewusst bin. Irgendwelche Techniken, das Bewusstsein zu optimieren, ohne dass ich dabei bewusst bin, können nicht funktionieren. Es gibt keine Abkürzung zum Bewusstsein – die ist aber auch gar nicht notwendig, weil es immer & überall schon vorhanden ist. Tätigkeiten Maschinen oder Billigarbeitern zu überlassen, nützt daher nichts für die Erweiterung des Bewusstseins, es schadet aber an sich auch erst mal nicht. Das Kriterium ist schlicht, wie bewusst ich & alle anderen Menschen sind.

Damit kommen wir zu den alten Ägyptern. Vor vielen Jahren hatte ich mir das Buch Die Schlange am Firmament von John Anthony West gekauft, ein Teil davon gelesen & es dann verliehen. Jetzt habe ich es wieder & endlich durchgelesen. Es hat mein Bild der altägyptischen Kultur völlig umgekrempelt:

Die altägyptische Kultur muß in ihrer Gesamtheit als eine einzige, viertausend Jahre währende rituelle Handlung betrachtet werden, als ein Akt der Ehrerbietung gegenüber dem göttlichen Mysterium der Schöpfung. Einheit, die sich ihrer selbst bewußt wird, entfaltet sich zur Vielfalt und zum Universum.

Zu unserem Thema schreibt er:

Ziel des menschlichen Daseins ist die Rückkehr zu seinem Ursprung. Das ist die Botschaft des Alten Ägyptens und aller anderen Initiationslehren, denen zufolge wir auf der Welt sind, um daran zu arbeiten, den höheren Bewußstseinsgrad wiederzuerlangen, der unser Geburtsrecht ist. Wenn wir dieser Verpflichtung nicht nachkommen, hat unser biologisches Überleben keine besondere Bedeutung, und unser Nützlichkeitsstreben ist sinnlos. Alles, was zur Bewußtseinsbildung beiträgt, ist nützlich.

Die Frage nach dem Nutzen ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche & kulturelle. Daher frage ich:

Welchen Nutzen wollen wir als Kultur anstreben? Wo soll die Reise hingehen?

Update vom 24.04.: Eine sowohl zutiefst befriedigende als auch aufregende Antwort auf diese Frage gibt Charles Eisenstein in seinem Buch Sacred Economics.

Update vom 08.03.2016: Shoshana Zuboff zitiert in ihrem Artikel The Secrets of Surveillance Capitalism den Chief Data Scientist eines Silicon Valley-Unternehmens:

The goal of everything we do is to change people’s actual behavior at scale. When people use our app, we can capture their behaviors, identify good and bad behaviors, and develop ways to reward the good and punish the bad. We can test how actionable our cues are for them and how profitable for us.

Mit anderen Worten: Der Kapitalismus will uns auf Pawlowsche Hunde reduzieren. Den homo oeconomicus eben.