Die Rekultivierung unseres Lebens

Den letzten Absatz aus Das Ende der Megamaschine kann ich erst jetzt so richtig würdigen. Er handelt von der Rekultivierung unseres Lebens:

Die Frage nach der Technik führt in dieser Perspektive weit über technische Fragen hinaus. Es geht darum, unsere ökonomischen Praktiken und unsere sozialen Institutionen, die in den letzten Jahrhunderten aus ihren kulturellen Zusammenhängen herausgelöst wurden, zu rekultivieren. Das gesamte gesellschaftliche Leben als Kultur zu begreifen (und nicht nur den kleinen Bereich abendlicher Konzert- oder Theaterbesuche) bedeutet, Arbeit als eine kulturelle Handlung wiederzuentdecken, die nicht nur Dinge herstellt, sondern auch Beziehungen und Sinn stiftet; das heißt auch, Bildung als etwas zu begreifen, das die Entfaltung der ganzen Persönlichkeit zum Inhalt hat – und nicht die Reduktion des Menschen auf einen möglichst reibungslos funktionierenden Teil im Wirtschaftsgetriebe. Es gibt eigentlich keinen Bereich unseres Lebens, der eine Rekultivierung nicht bitter nötig hätte. Die Qualität der anderen Welten, die wir vielleicht schaffen können, wird sich nicht nur daran zeigen, ob sie ökologisch nachhaltig und sozial gerecht sind, sondern auch daran, welche Feste wir feiern und welche Lieder wir singen.

Spontan denke ich dabei an die altägyptische Kultur, wie sie John Anthony West darstellt:

Die altägyptische Kultur muß in ihrer Gesamtheit als eine einzige, viertausend Jahre währende rituelle Handlung betrachtet werden, als ein Akt der Ehrerbietung gegenüber dem göttlichen Mysterium der Schöpfung. Einheit, die sich ihrer selbst bewußt wird, entfaltet sich zur Vielfalt und zum Universum.

Unsere kapitalistisch-eindimensionale Konsumkultur ("Nutzen" über alles) erscheint als völliges Kontrastprogramm dazu.

Charles Eisenstein ist auch schon länger dabei, eine neue Geschichte von der schöneren Welt, die unser Herz kennt zu erzählen. Und ganz frisch ist bei mir das neue Buch How Soon Is Now? von Daniel Pichbeck (von dem ich das Buch “Den Kopf aufbrechen” verschenke) angekommen. Im Interview mit der Zeitschrift “Sein” sagt Pinchbeck:

Die ganze Zivilisation ist sehr schnell entstanden und wir haben keinen Abstand mehr zu ihr, wir behandeln unsere Errungenschaften als wären sie etwas beinahe Natürliches, Gegebenes. Wir müssen erkennen oder uns erinnern, dass alle Systeme, die unser Interaktionsfeld prägen, menschliche Konstrukte sind, und dass wir sie ändern können, wenn wir das wollen. Es braucht eine Menge Deprogrammierung, um zu begreifen, dass so etwas wie unser Geldsystem nur eine Verabredung ist, die wir getroffen haben, dass Eigentum nur ein Konzept ist und ein Staat nur eine Idee. Die Menschen glauben heute, dass das alles ‚eben so ist‘. Aber das sind nur Ideen und Konstrukte, wir können das alles jederzeit ändern. Wir brauchen eine massive Deprogrammierung und das ist der Grund, warum ich mich so für psychedelische Drogen einsetze, weil sie ein extrem nützliches Werkzeug dazu sind, diese ganze soziale Konstruktion zu durchschauen. Wir brauchen eine massive Dekonditionierung, um die Hypnose dieser Ideen zu brechen.

Mit anderen Worten: Wir brauchen eine Rekultivierung aller Lebensbereiche. Noch anders ausgedrückt geht es darum, den bisherigen Trend der menschlichen Bewusstseinsentwicklung, uns selbst immer mehr zu Maschinen(teilen) zu machen, umzudrehen, ganz im Sinne von The Police: Rehumanize yourself.

Auf jeden Fall aufhören mit dem Höher, schneller und weiter; uns wieder mehr auf innere Werte besinnen.

Den Glauben, dass alles ‚eben so ist‘, hat Christoph Spehr in seiner Abhandlung Gleicher als andere mit dem Film Matrix verglichen:

Wir sind Opfer der »Matrix«, der Welt, die uns über die Augen gezogen wird: der Selbstinszenierung einer demokratischen Gesellschaft, die von sich behauptet, dass sie gegen die klassischen Urbilder kämpft und dass sie selbst nicht herrschaftsförmig ist. Dieses virtuelle Welt macht uns blind gegenüber der Realität: dass wir Sklaven sind. Verfügbar. Regeln und Kontrollen unterworfen, denen wir uns nicht entziehen und über die wir nicht bestimmen können. Den ganzen Tag, mit all unseren Empfindungen und Fähigkeiten; bis ans Ende unserer Tage und bis in die siebte Generation. Sehen können wir das, wenn wir die oben genannte Definition von Herrschaft anwenden. Fast alles ist erzwungene Kooperation. Auf die Frage »Was ist die Matrix?« lautet die Antwort: Die Matrix ist die Inszenierung des Sozialen, aus der die Idee der freien Kooperation vollständig ausgetrieben ist. Dadurch bewirkt sie, dass wir die Stäbe unseres Gefängnisses weder riechen, noch schmecken, noch berühren können. Wir nehmen unser Gefängnis überall hin mit, wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das Ausmaß, in dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das jeder antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns.

Auf Pinchbecks Buch wurde ich übrigens aufmerksam, weil Wolf Schneider es ins Deutsche übersetzt hat. Mit ihm gibt es ein Interview bei Hinter den Schlagzeilen und noch eins bei Mystica.tv.

Weil es so ein großes und tiefes Thema ist, bitte ich Dich nun, nach oben zu scrollen und den Absatz von Fabian Scheidler noch mal zu lesen und einsinken zu lassen.