Geopolitischer Paradigmenwechsel

Fefe hat die Tage in seinem Blog empfohlen, sich einen Vortrag von Peter Zeihan anzuschauen. Den Namen hatte ich noch nie zuvor gehört. Schmackhaft macht Fefe das mit folgendem Satz:

Die Kernbehauptung ist, und deshalb empfehle ich es auch, dass nicht etwa die USA fucked sind und der Rest der Welt staunend zuguckt, sondern dass der Rest der Welt fucked ist und die USA sich gerade seelenruhig zurücklehnen und das Pulverfass explodieren lassen.

Indeed. Vorgestern habe ich mir den Vortrag tatsächlich angesehen & seither arbeitet es in mir.

Dieser Peter Zeihan liefert eine vollkommen andere Sicht auf die globale Situation, als ich sie bisher in meiner Filterblase mitbekommen hatte. Die Eckpunkte skizziere ich mal im Vorher-Nachher-Format.

Vorher (d.h. bevor ich Peter Zeihan kannte):

  • Die USA sind ein Imperium, das sich rapide seinem Zusammenbruch nähert
  • Donald Trump beschleunigt diesen Zusammenbruch
  • Der Rest der Welt reibt sich die Hände und freut sich, bald nicht mehr unter der Knute dieser Supermacht sein zu müssen (Stichwort Putin “multipolare Welt”)
  • Bretton Woods war ein Finanz- und Wirtschaftsabkommen
  • Die USA benutzen die WTO, um den Rest der Welt mit Freihandel zu ihren Gunsten zu knechten
  • Die USA sind total abhängig von Importen und damit von China
  • Deshalb hat China in den Verhandlungen die USA abgezockt
  • Japan ist gegenüber China zu vernachlässigen

Stellt sich raus, alles das sieht völlig anders aus.

Nachher:

  • Die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg die globale Ordnung garantiert und ziehen sich gerade aus dieser Rolle zurück
  • Donald Trump beschleunigt diesen Rückzug
  • Dem Rest der Welt geht der Arsch auf Grundeis
  • Bretton Woods war ein Deal Sicherheit gegen Wohlstand: Die USA garantieren ihren Alliierten freien Handel, dafür schliessen sich diese dem Militärbündnis (gegen die Sowjetunion) an und unterstützen dieses
  • Die USA brauchen WTO und Freihandel nicht mehr, weil sie auch ohne den Rest der Welt für ihre Sicherheit sorgen können
  • Die USA haben eine der niedrigsten Außenhandelsquoten weltweit, deutlich unter der von China
  • Deshalb haben die USA in den Verhandlungen China ihre Bedingungen diktiert
  • Japan hat mittelfristig die deutlich besseren Karten in Ostasien als China (wobei ich an diesem Punkt noch einige Fragezeichen habe)

Das nenn ich mal einen Paradigmenwechsel.

In einem Punkt war mir diese Sicht übrigens nicht ganz so fremd, schon vor etlichen Jahren wurde mir durch einen damaligen Freund & Mitbewohner die Bedeutung der Demographie bewusst. Die spielt bei Zeihan eine zentrale Rolle neben der Geographie.

Ich habe jedenfalls bei meinen Recherchen im Zuge seines Vortrags zwei Seiten zu den Bevölkerungsstrukturen aller Länder weltweit gefunden, eine deutschsprachige bei Länderdaten.de und die englischsprachige PopulationPyramid.net. Sehr aufschlussreich.

Dass die USA eine vergleichsweise günstige Bevölkerungsentwicklung aufweisen, hatte ich schon vor längerer Zeit mitgekriegt. Zeihan betont diesen Sachverhalt.

Übrigens ist die Demographie ein gewichtiger Grund, warum es in Italien noch ganz gewaltig krachen wird: Bevölkerungsrückgang – Immer weniger bambini. Das kombiniert mit der exorbitant hohen Verschuldung kann nicht gutgehen.

Für mich neue Informationen gibt es in Sachen Iran-Deal und SWIFT, die USA können dieses internationale Zahlungssystem nämlich für “sekundäre Sanktionen” nutzen: This Is How the World Ends, Part I.

Das mit der Rolle der WTO findet sich in This Is How the World Ends, Part IV. Die USA blockieren dort gezielt die Ernennung neuer Richter, so dass die WTO Ende diesen Jahres handlungsunfähig wird, wenn die Amtszeit der letzten Richter ausläuft. Dieses Spiel läuft offenbar schon seit 2016, ich habe auch einen Reuters-Artikel von 2017 dazu gefunden.

Zeihan skizziert in der Artikelserie I Think They Get It Now, wie es voraussichtlich mit den anderen sechs G7-Staaten weitergehen wird.

Wie gesagt, seinen Vortrag habe ich mir gerade erst vor zwei Tagen angesehen. In diesem Beitrag kann ich daher vor allem mitteilen, wie sehr der mich erschüttert hat und was er mit mir & meinem Weltbild macht. Ein kohärentes neues Weltbild ist erst dabei, sich zu entwickeln.

Ich ertappe mich dabei, bei Sätzen wie diesem “Es ziehen immer mehr Menschen in die Stadt; dort warten Jobs und Studienplätze; die Daseinsvorsorge und das kulturelle Angebot sind besser ausgebaut” gleich zu denken “Ja, jedenfalls so lange die 10 Carrier Strike Groups der USA die globalen Handelswege sichern”. Abraham Lincoln battlegroup

Wo sich diese aktuell aufhalten, findet man z.B. bei Stratfor (da hat Zeihan übrigens mal ne Zeitlang gearbeitet) oder bei SouthFront. Auch die Inhalte des Buchs Base Nation bekommen jetzt eine ganz andere Bedeutung für mich.

Vielleicht sollte ich mich mit dieser neuen Perspektive auch noch mal durch Das Ende der Megamaschine arbeiten (siehe auch Die moderne Tributökonomie und die Illusion der freien Märkte).

Nachtrag: Vielleicht ist Immanuel Wallerstein endlich auch mal dran.

Weiterer Nachtrag: Ein Faktor, den Zeihan m.E. ignoriert und der seine Prognosen durcheinanderwürfeln könnte, ist die Ausbreitung der Permakultur. Zeihan spricht in einem kurzen Video über The Geopolitics of Climate Change, geht dabei aber offenbar nur von industrieller Landwirtschaft aus. Passenderweise hat Starhawk vor 2 Monaten über die Bedeutung der Permakultur in Zeiten des Klimawandels geschrieben. Das geht dabei über Landwirtschaft weit hinaus:

Permaculture is not just about gardening or homesteading—it’s about designing systems, which include the social, economic and political systems that determine what happens to our farms and lands. It’s for entrepreneurs, policy makers, and activist citizens who want to know what policies to advocate. Really, it’s for everybody—it’s the basic, grounded set of skills we all should have learned in school and mostly didn’t, for designing fulfilling lives that make a contribution to the great challenges of our times.

Noch einer: Aktuelle Meldung aus Japan/Korea: Japan will Radar für Überwachung der gesamten koreanischen Halbinsel einführen.

Nachtrag vom 08.07.: Hauke Ritz führt in seinem Artikel Die Rückkehr der Geopolitik von 2013 aus, warum sich die Sichtweise der Geopolitik, wie sie auch Peter Zeihan vertritt, nicht mit Anarchismus verträgt. Dieses Dilemma ist mir durchaus bewusst.

Weiterer Nachtrag vom 08.07.: Derweil nimmt die Neue Seidenstraße von Europa bis China Gestalt an, die ich seinerzeit noch als Vision in meiner BüSo-Zeit mitbekommen hatte. Der LaRouche hebt ja schon lange darauf ab, dass eine solche Landverbindung zwischen Europa und Ostasien keine Marine braucht, um sie zu schützen. Umgekehrt kann auch keine Marine diese Verbindung unterbrechen. Bezeichnenderweise gehört zum chinesischen Plan allerdings neben der Landverbindung auch die Maritime Silk Road, bei der die U.S. Navy (wie auch Japan!) ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat. In dem Zusammenhang frage ich mich auch, wie die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank in Zeihans Analyse passt.

Nachtrag vom 09.07.: Infos rund um die Neue Seidenstraße gibt’s auch beim Mercator Institute for China Studies (MERICS). Vergleiche zu China auch das dortige Social Credit System.

Nachtrag vom 17.07.: So ganz unberührt vom Klimawandel bleiben die USA auch nicht, siehe z.B. Klimawandel: Tausende Kilometer Glasfaserleitungen in den USA könnten absaufen.

Nachtrag vom 17.12.: Hätte ich eine einzige Atombombe zur Verfügung, würde ich sie auf Norfolk (Virginia) werfen. Da liegen gerade drei US-Flugzeugträger rum, außerdem ist die U-Boot-Flotte für den Atlantik dort stationiert. Newport News Shipbuilding wäre damit auch futsch. Nach Langley sind es von dort nur ca. 240 km, auch die CIA-Zentrale wäre anschließend vermutlich unbrauchbar. Oh, und das Weiße Haus natürlich gleich mit.

Wie sagt doch das Känguru zum Antiamerikanismus? “Der ist nicht fad. Der hat laaange gezogen.” ;-)

Nachtrag vom 17.01.2020: Ein Leserbrief an Fefe nimmt Zeihans Argumentation auseinander.

Ich würde daher vorschlagen, Zeihan ziemlich wenig Glauben zu schenken und denke, daß sich die USA bis 2030 ganz klar in eine ehemalige Weltmacht verwandelt haben werden. Ob sie das einsehen, ist eine völlig andere Frage.

Und auch der Nimbus der Unzerstörbarkeit von US-Flugzeugträgern wackelt. Es hat schlicht bisher noch niemand in der Praxis ausprobiert einen zu versenken – bis jetzt. Vielleicht wird der Iran der Weltöffentlichkeit den Gegenbeweis führen. Schaun mer mal.