Erwachsen werden in Liebesdingen

Robert Heeß hat ein Buch geschrieben, dessen Untertitel die Überschrift dieses Beitrags ist: Ich liebe dich gerade. Es ist das bisher weiseste Buch, das ich über Liebe & Beziehungen gelesen habe, & dabei sehr allgemeinverständlich geschrieben. Neben dem Anderen Totenbuch von Wulf Mirko Weinreich sollte auch dieses Buch möglichst in jedem Haushalt vorhanden sein. Beide zeichnen sich durch diese verständlich geschriebene Sprache aus, in der sie ein sehr tief greifendes Thema behandeln, das jeden Menschen betrifft. Bei Wulf Mirko Weinreich geht es um das Sterben, Robert Heeß schreibt eben über Liebesbeziehungen. Anders als das Lob der Offenen Beziehung von Oliver Schott polemisiert und polarisiert er nicht, sondern sieht die Schwierigkeiten, mit denen letztlich alle Menschen zu tun haben, die durch unsere Kultur noch verstärkt werden. Und doch lässt er die Verantwortung bei jeder & jedem Einzelnen. Denn es geht ja darum, erwachsen zu werden, nicht nur, aber auch und vor allem in Liebesdingen.

Liebesbeziehungen unter Erwachsenen dagegen müssen horizontale Beziehungen sein, wenn sie funktionieren sollen: Beide Partner sind verantwortlich und zuständig für das gemeinsame Glück, keiner ist per se verantwortlich oder zuständig für das Glück des Anderen.

Gerade in Liebesbeziehungen gilt es, Bewusstsein zu pflegen und zu entwickeln:

Wenn wir uns in Liebesbeziehungen gegenseitig lustvoll und ehrfürchtig ent-täuschen und uns damit gegenseitig helfen, bewusst zu sein für die jetzige Wirklichkeit, werden wir wahrscheinlich weniger Schmierenstücke in Sachen romantischer Verliebtheit aufführen. Und uns stattdessen im Abenteuer der Gegenwart verführen. Indem wir liebend und klar die sind, die wir wirklich sind. Jetzt und jetzt und jetzt.

Robert Heeß weiß darum, was das für eine Herausforderung ist (u.a. aus 16 Jahren Gemeinschaftsleben im ZEGG), und gibt deshalb ganz viele praktische Hinweise und “Appetitanreger” für vielfältige Wege, persönlich zu wachsen. Da kommt niemand drum herum, es ist ja sowieso das Salz in der Suppe, das was das Leben erst wirklich lebenswert macht. Sich selber immer mehr auf die Schliche zu kommen und dabei die Wunder und Geheimnisse dieses Lebens zu entdecken – was könnte es Schöneres geben? Ich zitiere auch noch mal Abdi Assadi:

Wirklich wach zu bleiben in einer Beziehung, ist das Härteste, was du tun kannst.

Und wieder Robert Heeß:

Denn die Neuigkeit, dass “keiner der Besitz des anderen” ist, wie mein befreundeter Arzt es ausdrückte, ist bei vielen Paaren noch nicht angekommen. Sie führen Beziehungen, die im Grunde Bollwerke gegen das Leben und die Angst sind, allein zu sein. Gemeint ist nicht physisch allein zu sein, sondern das selbstverantwortliche auf sich selbst gestellt sein in einer verwirrenden Welt mit nichts als den eigenen Wahrnehmungen, Werten, Sichtweisen, Abhängigkeiten, Ängsten vor der Abgründigkeit des Lebens. Dass dieses Bollwerk eine Illusion ist, die jeden Moment in sich zusammenfallen kann, ist bei nüchternem Hinschauen eine klare Sache. Ein tödlicher Unfall des Lebenspartners zum Beispiel ist immer nur einen Herzschlag entfernt. Sie ist gefährlich, diese Illusion. Weil sie uns hindert, uns der Tatsache zu stellen, dass es letzlich keine Sicherheit gibt und keine Kontrolle über das Leben.

An dieser Stelle treffen sich die beiden vorgestellten Bücher. Das Andere Totenbuch sollte auch dazu dienen, bereits jetzt im Leben sich auf das Sterben vorzubereiten. Jeder Abschied, jeder Verlust, jede Ent-Täuschung ist bereits ein kleiner Tod und damit eine Möglichkeit, sterben zu üben. Die erwachsene romantische Liebe, wie Robert Heeß sie nennt, hat die Möglichkeit des Sterbens immer im Blick:

In ihr geht es letztlich nicht mehr um eine Liebesbeziehung zwischen zwei Personen. Es geht um eine Liebesbeziehung des Lebens mit sich selbst, die sich in jedem Moment in diesen beiden Personen manifestiert. Die sich in jedem der Beteiligten unabhängig vom anderen offenbart, da beide in einer Liebesbeziehung mit sich selbst stehen und gemeinsam etwas Drittes kreieren. Die erwachsene romantische Liebe kann sich deshalb entfalten, weil die Partner frei und bereit sind, eine Liebesbeziehung mit sich alleine weiterzuführen, sollte ihre gemeinsame Liebe zu Ende gehen. Sie sind frei sich von einer neuen Liebe mit einem anderen Menschen beschenken zu lassen oder in eine der unendlich vielen anderen Formen der Liebesbeziehungen des Lebens mit sich selbst hineinzutauchen.

Vor wenigen Tagen habe ich die Beziehungsanarchie entdeckt, sozusagen ein “Etikett” oder eben ein Begriff für das, was Robert Heeß in seinem Buch beschreibt. Damit ging es mir wie vor etlichen Jahren in Bielefeld mit dem Anarchismus: Ich habe festgestellt, dass ich eigentlich immer schon Beziehungsanarchist bin, ohne davon gewusst zu haben. :)

Ich schließe mit der tantrischen Sicht, die in jedem Menschen Shakti oder Shiva sieht, ein göttliches Wesen. Seit Ende letzten Jahres übe ich, alle Menschen zu verehren, mit denen ich eine Beziehung eingehe. Du musst nur genau hinschauen, mit dem Herzen, dann kannst du Shiva und Shakti erkennen, wohin auch immer du blickst. Übrigens auch beim Blick in den Spiegel. ;-)

In diesem Sinne: Om mani padme hum.