Das Atman-Projekt und Halbzeit der Evolution

Im Zuge meiner Beschäftigung mit der Integralen Theorie habe ich inzwischen schon einige Bücher von Ken Wilber gelesen, aber noch keins davon hat mich nur annähernd so gefesselt wie Halbzeit der Evolution. Das hatte ich mir bestellt, weil ich gerade mit diesem Aspekt der wilberschen integralen Theorie noch etwas gehadert habe – der Idee, dass sich die kulturelle Evolution der Menschheit, wenn auch mit Schlenkern & Rückschlägen, doch im Wesentlichen aufwärts bewegt. Insofern knüpft dieser Beitrag auch an Wilber, Evolution und Eigentum an, wo ich schon schrieb, dass Wilber auch um die Schattenseiten der Evolution weiss.

In “Halbzeit der Evolution” stellt Wilber diese Entwicklung der Menschheit so schlüssig dar, wie ich das noch nirgendwo anders gelesen oder gehört habe. Hier kommt nun der erste Teil der Überschrift ins Spiel: Das Atman-Projekt. Dabei handelt es sich zum einen um den Titel des “Schwesterbuchs” von “Halbzeit der Evolution” – Wilber hat diese Bücher gezielt gleichzeitig veröffentlicht, weil sie einander ergänzen. “Das Atman-Projekt” beschreibt die individuelle Evolution eines Menschen, und das feiner in Phasen unterteilt, während “Halbzeit der Evolution” von der kulturellen Entwicklung der Menschheit insgesamt handelt. Zum anderen meint das Atman-Projekt folgendes:

Alle Menschen stehen vor diesem fundamentalen Dilemma: Jeder sehnt sich zutiefst nach wahrer Transzendenz, nach Atman-Bewusstsein, nach der Höchsten Ganzheit, fürchtet jedoch zugleich mehr als alles andere den Verlust seines separaten Ich, dessen “Tod”. Weil der Mensch mehr als alles andere reale Transzendenz wünscht, den notwendigen Tod seines separaten Ichempfindens jedoch nicht akzeptieren will, sucht er Transzendenz auf eine Weise zu erlangen, die sie in Wahrheit verhindert und symbolische Ersatzlösungen erzwingt. Dieser Ersatz nimmt die verschiedensten Formen an: Sex, Essen, Geld, Ruhm, Wissen, Macht. Alles das sind letzten Endes Ersatzbefriedigungen, primitiver Ersatz für die wahre Befreiung in der Ganzheit. Daher ist das menschliche Verlangen so unersättlich, daher sehnt sich der Mensch nach nie endenden Freuden: Alles, was der Mensch will, ist Atman; aber alles, was er findet, sind symbolische Ersatzbefriedigungen. […]

Diesen Versuch, Atman-Bewusstsein auf eine Weise zu gewinnen, die dieses verhindert und nur zu symbolischen Ersatzbefriedigungen führt, nenne ich das Atman-Projekt. Es ist das unmögliche Verlangen, das individuelle Ich möge unsterblich, kosmozentrisch und allbedeutend sein.

Dieses Spannungsfeld aus Atman und dem Atman-Projekt bildet bei Wilber den Kontext der gesamten Evolution, und das ergibt (für mich jedenfalls) mächtig Sinn. An späterer Stelle schreibt er drastisch:

Es gibt nur zwei Zustände, in denen der Mensch vollkommen zufrieden ist. Der eine ist der Schlummer im Unbewussten, der andere das Erwachtsein zum Überbewussten. Alles dazwischen ist die Hölle in verschiedenen Graden.

Der Motor des Atman-Projekts ist dabei das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit in sich wandelnder Form:

Sobald dies einmal bewusst geworden ist, kann man zweierlei dagegen unternehmen. Der Mensch kann Tod und Thanatos leugnen und verdrängen oder beides ins überbewusste All transzendieren. Solange er sich an das separate Ichempfinden klammert, muss er Tod und Todesangst verdrängen, denn um die Todesangst zu überschreiten, muss man das Ich transzendieren. Das separate Ich kann überhaupt nichts tun, um die Todesangst loszuwerden, da das separate Ich die Todesangst ist. Beide entstehen gemeinsam und können auch nur gemeinsam vergehen.

Im Vergleich zu Spiral Dynamics finde ich Wilbers Theorie wesentlich umfassender und dabei differenzierter. SD kommt mir manchmal recht platt vor und wird von vielen Menschen auch so benutzt, was m.E. der integralen Theorie keinen guten Dienst erweist. An Wilber gefällt mir gerade, dass er vehement jeglichen Reduktionismus zurückweist & in jeglicher Hinsicht genau hinschaut bzw. -denkt.

“Halbzeit der Evolution” finde ich dabei so gehaltvoll, dass ich hier im Blog eine ganze Artikelserie starte mit diesem Beitrag hier als Übersicht. Schon 1986 hat die Zeitung “Die Zeit” übrigens eine lange Rezension des Buches veröffentlicht unter dem Titel Die Wandlungen des Bewußtseins.

Um das Buch besser einordnen zu können, weise ich auch noch darauf hin, dass Wilber sein Werk in (bisher) 5 Phasen unterteilt, von denen gerade diese beiden Bücher die Phase II bilden:

In Phase 2 (1980-1982) wendet sich Wilber der Entwicklungspsychologie zu, als einem umfassenderen Kontext zur Integration östlicher und westlicher Psychologie. Spirituelles Wachstum sieht er nun als etwas, das nach dem Erwachsenwerden kommt. Mit anderen Worten, wir haben Gott nicht verloren, sondern wir wachsen in ihn hinein, in einem schrittweisen Entwicklungsprozess. Hier formuliert er auch erstmals das Konzept der Prä/Trans-Verwechslung (pre/ trans fallacy - PTF).

In der 2. Phase beschreibt er Evolution noch relativ grob verallgemeinert, in den Phasen 3 (hier kommen die Entwicklungslinien hinzu) und 4 (das Konzept der Quadranten) differenziert er sein Modell noch viel stärker. Die Landkarte wird immer genauer. Dafür wird in der 2. Phase gerade durch das Zusammenfassen die rote Linie der Evolution (wie im übrigen auch der Involution!) besonders deutlich.

Damit habe ich den wesentlichen Rahmen skizziert, in dem ihr euch auf (zunächst) folgende Themen freuen könnt (ggf. kommen noch weitere hinzu):

Übrigens musste ich auch bei diesem Buch, wie bei vielen von Wilber, oft an Käptn Peng denken. Deshalb überlasse ich diesem das letzte Wort:

Und ein weiterer Peng:

Nachtrag vom 11.12.: Das Atman-Projekt wirft auch einen ganz neuen Blick auf das christliche Konzept von Sünde:

Es gibt für Sünde keine Extra-Strafe durch einen Richter-Gott. Der Verlust an Glück und Lebensqualität ist eine faktische Folge der Trennung von der Quelle. Im Menschen lebt eine tiefe Spaltung. Er hält sich für das, was andere ihm an Identität zugeschrieben haben und hat sein wahres Wesen und den Zugang dorthin vergessen. Dadurch wird er abhängig von relativen Glücksquellen.

Siehe dazu auch Das Ammenmärchen vom Sündenfall von Tilmann Haberer.