Daniel Pinchbeck über die Befreiung der Liebe

Herz unendlich

Das “Manifest gegen die Apokalypse” von Daniel Pinchbeck, How Soon Is Now?, begleitet mich schon seit ein paar Monaten kapitelweise. Inzwischen bin ich im Teil 4 “Gott, Liebe und Revolution” angekommen. Was er dort über Liebe und Sexualität schreibt, animiert mich nun doch auch zum Bloggen.

Zunächst mal zitiert er aus Sex. Die wahre Geschichte von Christopher Ryan und Calcida Jethá, dass

Menschen sich in vertrauten Gruppen entwickelten, in denen fast alles miteinander geteilt wurde – Essen, Obdach, Schutz, Kindererziehung, sogar sexualles Vergnügen… Unsere zeitgenössische Kultur stellt den Bezug zwischen Liebe und Sex falsch dar. Sei es mit oder ohne Liebe, Gelegenheitssex war für unsere prähistorischen Vorfahren normal… Menschen und unsere hominiden Vorfahren haben den allergrößten Teil der vergangenen Jahrmillionen in kleinen, innigen Gruppen verbracht, in denen die meisten Erwachsenen jederzeit mehrere sexuelle Beziehungen hatten.

Sharing is Caring – auch was Sex angeht. Was hat das nun mit dem Verhindern der (menschlichen) Apokalypse zu tun? Pinchbeck bringt das folgendermaßen auf den Punkt:

Wenn es nicht nötig wäre, erotische Kontakte zu verfolgen und im Wettbewerb um den Partner gegen andere antreten zu müssen, dann könnten wir diese vergeudete Energie verwenden, um uns der ökologischen Krise stellen, die wir als Spezies losgetreten haben, und damit eine schnelle kulturelle Evolution bewirken.

Das ist Wasser auf Saranams Mühlen, weshalb ich an dieser Stelle auch noch mal auf Hautgeflüster verweise.

Pichbeck weiter:

Ich glaube, die Lösung liegt in einer bewussten Befreiung des Eros – nicht nur Eros, wie er durch Sexualität und romantische Liebe ausgedrückt wird, sondern auch in den verschiedenen Formen einer Liebe, die die Gemeinschaften miteinander verbindet und die die Sorge für Kinder und Alte mit einschliesst. […] Hollywood und die Medien idealisieren die Kernfamilie, sie ist die Grundeinheit unserer Gesellschaft. Wenn Individuen zu Paaren verschmelzen, und besonders dann, wenn diese Paare Kinder haben, dann neigen sie dazu, all ihre Energie und Ressourcen für sich zu verwenden. Sie verlieren das Interesse daran – wenn sie es denn je hatten –, dem Kollektiv zu helfen. Stattdessen streben sie danach, Ressourcen anzusammmeln, und machen so das Wettbewerbsspiel mit, das der Kapitalismus ihnen vorgibt.

In einem Satz zugespitzt: Monogamie macht asozial.

Dazu weiter Pinchbeck:

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen unserer korrupten Politik und unserem Versagen, als Gesellschaft mit Liebe authentisch umzugehen. Wenn Menschen sich gezwungen fühlen, den ihnen nächsten Menschen – ihren Partner – zu belügen oder zu betrügen, dann konditioniert sie das, Korruption und Heuchelei auch in der Gesellschaft als Ganzes hinzunehmen. Sie können die Halbwahrheiten der Politiker und Experten akzeptieren, da sie selbst Kompromisse eingehen. Unsere Unaufrichtigkeit führt dazu, dass wir darin versagen, uns um die Welt zu kümmern. Weshalb auch sollten wir eine Welt beschützen und behüten wollen, die uns im Kern unserer Wünsche verraten hat?

Er schreibt dann über Tamera, eine Gemeinschaft in Portugal, die ich bisher nur aus der Ferne vom ZEGG aus skeptisch beobachtet hatte, und macht mich noch mal neu neugierig. Dass sich Tamera wie auch das ZEGG und die Vorgängerprojekte auf die Fahnen geschrieben hat, eine nicht-monogame Kultur aufzubauen, wusste ich wohl schon. Schenkt man Pinchbeck Glauben, dann scheint ihnen das auch erstaunlich gut gelungen zu sein.

Zunächst noch zwei wegweisende Fragen:

Was, wenn keine Frau sich Sorgen machen müsste, dass eine zerbrochene Beziehung sie und ihre Kinder mittellos und prekär hinterlassen könnte? Was, wenn jeder durchschnittliche Kerl wüsste, dass er sich nie Sorgen machen müsste, eine Partnerin zu finden?

Ein entscheidender Punkt für das Gelingen dieses Kulturaufbaus:

In solch einer Gemeinschaft können Menschen lernen, zusammenzuarbeiten, um damit sowohl kurzfristige als auch langfristige Bedürfnisse zu befriedigen. Sie können es, weil sie sich verpflichtet haben, beieinander zu bleiben.

Schon vor vielen Jahren hatte ich Verbindlichkeit als den Klebstoff von Gemeinschaften bezeichnet, damals noch mit kaum Erfahrung. Aus meiner heutigen Sicht kann ich das voll bestätigen.

Der Zusammenhang zwischen dem Wasser und der Liebe einer Gemeinschaft erstaunt mich & ergibt dabei ganz viel Sinn:

Die Bewohner von Tamera sehen einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise, wie eine Gemeinschaft ihr Wasser handhabt, und der, wie sie mit der Liebe umgeht. Sie glauben, dass sowohl das Wasser als auch die Liebe Gefäße zur Aufbewahrung brauchen, aber ebenso die Gelegenheit, zu fließen und sich auszubreiten. Es liegt in der Natur der Liebe, zu wachsen und zu fließen, und Monogamie enspricht einem Eingriff und einer künstlichen Kanalisierung.

Es berührt mich sehr, wie in Tamera die Liebe wirklich zu etwas Gemeinschaftlichem gemacht wird:

Das Thema sexuelle Befriedigung bedeutet in Tamera etwas Größeres als nur das Problem eines Individuums. Man versteht es als Verantwortung der Gemeinschaft – eine nachgerade heilige Verantwortung. Auf dem Gelände steht ein Haus namens “Tempel der Liebe”. Einige Mitglieder der Gemeinschaft unterziehen sich einer Einweisung in den “Liebesdienst”, um Priester oder Priesterinnen des Tempels zu werden. So stehen sie anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zur Verfügung, wenn diese sich nach Verbundenheit sehnen. Zum Beispiel könnte hier eine ältere Frau eine intime Begegnung mit einem jüngeren Mann oder einem Mann mittleren Alters haben. Oder ein junger Mann könnte seine erste sexuelle Erfahrung mit einer älteren Frau erleben.

Mein Freund Martin, zum Beispiel, ist als Teenager nach Tamera gekommen. Er hatte seine erste sexuelle Begegnung als 16-Jähriger mit einer Frau um die 30. Sie haben daraus ein Ritual gemacht; die Gemeinschaft versammelte sich um den Tempel um seine Initiation in die sexuelle Liebe zu feiern. Ich glaube, wenn mir mit 16 Jahren so etwas passiert wäre – wenn ich Teil einer Gemeinschaft gewesen wäre, die dafür gesorgt hätte, dass meine unbeholfenen Sehnsüchte befriedigt anstatt unterdrückt worden wären –, dann hätte ich einen viel gesünderen Zugang zur Liebe entwickelt.

Nachtrag vom 05.06.: In der letzten Oya findet sich glatt ein passender Beitrag, Eros und Enkeltauglichkeit. Kostprobe:

Ich selbst bin zuletzt immer mehr zu der Erkenntnis gekommen, dass die Heilung der Liebesbeziehungen wesentlich dafür ist, dass politisches Engagement glaubhaft und freudvoll wird.