Meilensteine der Wirtschaftswissenschaft

Momentan bin ich mal wieder in Bielefeld, um Sachen umzuräumen. Ich hab den Winter verabschiedet, meinen warmen Pullover wieder im Karton verstaut (mehr zum Winter in Kürze!). Bei der Gelegenheit habe ich zwei Meilensteine der Wirtschaftswissenschaft mitgenommen.
Vorneweg: Wem solche Fachartikel zu kompliziert sind, der/dem empfehle ich Andreas Eschbachs Roman Eine Billion Dollar.

Den einen Aufsatz habe ich schon länger rumliegen:

Gunnar Heinsohn/Otto Steiger: Geld, Produktivität und Unsicherheit in Kapitalismus und Sozialismus (Aufsatz in der Zeitschrift Leviathan, Bd. 9, 1981, S. 164-194 – zu bekommen über jede Uni-Bibliothek).

In diesem Artikel begründen Heinsohn & Steiger (kurz H&S) die Debitismus-Theorie, die im Anschluss vor allem von meinem persönlichen Wirtschaftstheorie-Guru Paul C. Martin (PCM) weiterentwickelt wurde & eine sehr spannende Wendung gemacht hat. PCM hat nämlich den Faktor Macht als untrennbaren Bestandteil wirtschaftlichen Handelns erkannt & damit alte Vorstellungen von “freien Märkten” obsolet gemacht.
Durch sein Buch Der Kapitalismus – ein System, das funktioniert (in Auszügen auch als PDF erhältlich) habe ich erstmals begriffen, wie unsere Wirtschaft funktioniert (ganz komprimiert nachzulesen in seinem Beitrag DAS ist unser heutiges Kredit- und Kreditgeldsystem (in 59 Punkten)).

Doch zurück zum eigentlichen Artikel. Ausgehend von der Frage, wie der Kapitalismus in England entstanden ist, kritisieren sie die Darstellung dieser Entwicklung durch Marx. Ihrer Ansicht nach stellt sich nach dem Bauernaufstand unter der Führung von Wat Tyler im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (wo die Aufstände niedergeschlagen wurden) eine Pattsituation ein: Die ehemals Leibeigenen sind nun frei im doppelten Sinne – frei von der Leibeigenschaft, aber auch frei von jeglichem Eigentum. Das befindet sich nach wie vor in den Händen der Adligen. Doch die können nun nicht mehr die Bauern direkt zur Fronarbeit zwingen, sondern müssen den freien Landarbeitern eine Gegenleistung bieten; sie müssen sie bezahlen. Denn allein können sie ihre Ländereien nicht bewirtschaften & somit nicht mehr davon leben.
Damit ist der moderne Arbeitsmarkt geboren.
Nun kommt die bahnbrechende Aussage darüber, wie Geld entsteht:

Hier haben wir eine historische Situation, in der Geld entsteht: Der Leibeigene, der freier Bauer werden wollte, aber nur freier Lohnarbeiter wurde und daher seine Lebensmittel nicht selber herstellen kann, muss diese nun kaufen können. Der Adelige, der Grundbesitzer, aber nicht Feudalherr geblieben ist, muss dem nun so dringend benötigten Lohnarbeiter eben diese Kauffähigkeit verbürgen. Damit nun der Lohnarbeiter ein Mittel zum Einkaufen in die Hand bekommt, muss der Grundbesitzer bei ihm Schulden machen. Das gelingt ihm dadurch, dass er für die Ansprüche des Lohnarbeiters mit seinem Grundeigentum bürgt. Der Lohnarbeiter, der mit einem ‘Schuldschein’ des Landbesitzers einkaufen geht, bekommt für diesen Schuldschein etwas, das durch Grundbesitz gedeckt ist und das er gerne übernähme. Der Lohnarbeiter verdingt sich, selbst wenn er über eine minimale Subsistenzwirtschaft bereits verfügt, für Geld, um sein ursprüngliches Ziel – freier Bauer zu werden – durch Erwerb oder Zuerwerb von Land, dessen Verkaufbarkeit über Verpfändung durch den kreditsuchenden Grundherrn nunmehr gegeben ist, realisieren zu können. Dieses Motiv treibt auch heute noch viele südeuropäische Gastarbeiter, die einmal ein eigenes Geschäft haben wollen, in die Lohnarbeit.

PCM sieht das allerdings heute anders, & ich konnte den beiden vom ersten Lesen an nicht so ganz folgen in diesem Punkt. In ihrer Einschätzung der Situation auf dem damaligen Arbeitsmarkt gehe ich wieder mit H&S konform:

Die in der ‘Gier’ zum Ausdruck kommende Existenzangst wird infolge des Bevölkerungsrückgangs um ca. 60%, der im England des 14. und 15. Jahrhunderts zu verzeichnen ist, zudem dadurch verschärft – aber keineswegs hervorgerufen –, dass die Grundbesitzer Lohnarbeiter nicht nur bezahlen, sondern erbittert um sie konkurrieren müssen. Wollen sie selbst überleben, müssen sie sich bei den Geldlöhnen dauernd überbieten und machen dadurch ihren Liquiditätsdruck bzw. die ‘Geldgier’ zu einem Dauerzustand. “Vor allem waren es aber die Arbeitgeber, die aus Gewinnsucht den Arbeitern erhöhte Löhne bewilligten, sie einander, ja selbst dem König abspenstig machten”.

Wir hatten es damals also mit einem ausgeprägten Verkäufermarkt zu tun. Die Grundbesitzer taten allerdings nun alles dafür, dieses Verhältnis umzukehren:

Obwohl die Könige und Parlamente Gesetzt gegen hohe Arbeitslöhne (etwa 1389, 1406 un 1445) erließen, um wenigstens den verbliebenen echten Feudalherren die Existenz, d.h. die Leute zu erhalten, riss dieser Dauerzustand nunmehr unkriegerisch immer mehr Territorien und Menschen Englands in den Agrarkapitalismus und ließ diesen aus demselben Grunde des Liquiditätsengpasses jenen ’technischen’ Fortschritt ersinnen, dessen erste auffällige Verkörperung die Verwandlung von Ackerland in Schafweide war. Mit dieser ersten wirklichen kapitalistischen Rationalisierung sollten die für Löhne notwendigen Geldvorschüsse (= Verschuldungen) verringert werden, ohne doch das zu verkaufende Produkt zu vermindern […].

Kurz gefasst: Schuldendruck als innovative Schubkraft des Kapitalismus/Debitismus. Über die Jahrhunderte hinweg musste das notwendig dazu führen, dass immer weniger Arbeitskräfte gebraucht werden. Massenarbeitslosigkeit ist die logische Folge dieser Entwicklung.
Fasziniert & begeistert hat mich schon beim ersten Lesen H&S’ Antwort auf dieses Problem: Genossenschaften gründen!

Würde hingegen die Konkurrenz nicht mehr allein von Individualkapitalisten, die Lohnarbeiter ausbeuten, sondern auch von Produktivgenossenschaften bestritten, dann würde das produktivitätsfördernde Element des Privateigentums erhalten bleiben. Nunmehr würde die “Expropriation der Expropriateure” tatsächlich als Bankrottkonkurrieren von Ausbeuterbetrieben durch Genossenschaften erfolgen. Diese Genossenschaften bildeten ein privates Eigentümerkollektiv. Durch Beseitigung der Reibungsverluste, die im Ausbeuterbetrieb aus der notwendigen Drückebergerei der Lohnarbeiter resultieren, könnten sie sich gegenüber diesen Betrieben einen Konkurrenzvorteil verschaffen. […]
Anstatt also das Privateigentum vom Skandal der individuellen Aneignung, d.h. von der Lohnarbgeit zu befreien und damit seine so hoch geschätzte Dynamik zu erhalten, anstatt also Produktivgenossenschaften die Ausbeuterbetriebe im Wettbewerb besiegen zu lassen, bis schließlich die gesamte Gesellschaft nur noch aus Genossenschaften besteht, wird durch die gewaltsame Überführung keineswegs bereits bankrotter Ausbeuterbetriebe in die “Hände des Staates” der Sitz der Krankheit, also das durch individuelle Aneignung verzerrte Privateigentum, mit der Ursache der Krankheit verwechselt […]

Eine positive Kritik des real existierenden Staatssozialismus also, voll kompatibel mit dem Prinzip der Freien Kooperation.

Sehr überzeugend finde ich die darauf folgende Kritik der marxistischen Vorstellung, eine umfassende Planwirtschaft könne “Verschwendung” vermeiden:

Die Schwäche dieser Argumentation besteht darin, dass wir im “a priori” des geplanten Vorgehens im einzelnen Betrieb gerade kein vorabgewusstes richtiges Handeln am Werke sehen, sondern lediglich eines, das sich nur im nachhihein als rational bzw. vergeblich bestimmen lässt. Das a priori folgt immer bereits den vom Konkurrenten aufgezwungenen technischen Parametern. Wer hinter diesen zurückgeblieben ist, plant – fürs eigene Überleben – ihr Einholen bzw. Übertreffen. Existiert dieser andere mit seinen konkurrenzüberlegenen Vorgaben nicht, gibt es auch keinen Maßstab für die jeweils eigene Entwicklung mehr. Funktioniert nach der politischen Enteignung der Staat wie ein Superbetrieb, verfügt er deshalb über keinen Maßstab, an dem er die kostengünstigste Weiterentwicklung zu erkennen vermag.
[…]
Die Aussage ‘kostengünstiger’ ist sinnvoller nur als eine Vergleichsaussage. Der Vergleich soll aber als Verschwendung von Ressourcen durch Mehrfachentwicklungen gerade ausgeschaltet werden. Will der Staat jedoch mit der selben Wahrscheinlichkeit wie die Konkurrenz der vielen Privateigentümer die kostengünstige Variante finden, muss er auch ebenso viele Experimente veranlassen, wie diese in Konkurrenz miteinander veranstalten. Begibt er sich dieser Möglichkeit, so beraubt er die Arbeiter der schnellstmöglichen Verringerung notwendiger Arbeitszeit, die doch sein Programm ist.

Ein überzeugendes Plädoyer für Marktwirtschaft. Ich bin auch seit längerem ein grosser Fan des Marktmechanismus, & meine Begeisterung nimmt immer noch zu. Der Markt ist eine der genialsten Erfindungen der Menschheit; sofern er überhaupt als Erfindung bezeichnet werden kann. Die Mechanismen der Evolution – Mutation und Selektion – sind letztlich nichts anderes.
Doch der Markt allein ist kein Allheilmittel, weil der Marktmechanismus ein blinder Mechanismus ist. Aktuell verdeutlicht das die Heros-Pleite. Die einzelnen Marktteilnehmer berücksichtigen nur die Faktoren, die sie individuell betreffen, wodurch eine Situation entstehen kann, in der ein einzelnes Geldtransport-Unternehmen (wegen betrügerischer Geschäftspraktiken, wie sich nun herausstellt) über 50% Marktanteil hat. Die Risiken in der Bargeldversorgung, die ein Bankrott dieses Marktführers bedeutet, wurden vom Markt nicht berücksichtigt. Dies wäre nur möglich durch externe Vorgaben. Womit ich nicht zwingend den Staat meine.
Ein weiteres Beispiel, dass ein Markt erst durch externe Vorgaben bestimmte Folgen & Risiken wahrnehmen kann, ist die Forderung nach einer Haftpflichtversicherung für die deutschen Atomkraftwerke.

Zum Schluss noch mehr über Genossenschaften:

Die Kibbutzim etwa im Territorium der Republik Israel betreiben die produktivste Landwirtschaft der Erde und verfügen zugleich über kaum weniger überzeugende Industrie- und Dienstleistungssektoren: “Der Kibbutz als kollektiv betriebene Produktionseinheit hat bewiesen, dass er nicht schlechter – um es eher untertreibend zu formulieren – abgeschnitten hat als seine Konkurrenten auf dem Markt. Das gilt sowohl für seine Produktivität als auch für seine Akkumulationsfähigkeit.”

Sehr wichtig finde ich den Vorschlag eines genossenschaftlichen Versicherungsfonds:

Das genossenschaftliche Eigentum brächte den freien Arbeiter als freies Kollektiv zurück. Es kennt den individuellen Ausbeuter nicht und verwandelt das traditionelle Risiko der Einkommenslosigkeit bei mangelnder Marktgängigkeit der Produkte in egalitäre Einkommensverminderung. Der Vergleich mit anderen, reicheren Genossenschaften spornt dann dazu an, diese Einkommensverminderung nicht zu weit gehen zu lassen, den Unterschied vielmehr aufzuholen und so eine neue Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang zu setzen. Auch in einer solchen Struktur darf nicht ausgeschlossen werden, dass ganze Genossenschaften unter das Existenzminimum fallen können. Für die Absicherung gegen dieses Risiko müssen sie also einen Versicherungsfonds bilden, aus dem dann auch Genossenschaftsbetriebe finanziert werden bzw. die Genossen bis zur Aufnahme in eine andere Genossenschaft ihren Unterhalt bestreiten können.

Hier schliesst sich nahtlos ein weiterer Meilenstein an:

Hans-Werner Sinn: Risiko als Produktionsfaktor (Antrittsvorlesung in München), Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 201, 1986, pp. 557-571.

Sinn definiert einleitend zunächst, was Risiko ist:

Risiko ist das Gegenteil von Sicherheit und bezieht sich auf den Grad des Vertrauens, mit dem ein wirtschaftlicher Entscheidungsträger das Ergebnis seiner Wahlhandlungen vorausschätzt. Verstehen Sie bitte Risiko als die Möglichkeit des beidseitigen Abweichens des Handlungsergebnisses von einem Mittelwert, der ein “normales” oder “erwartetes” Ergebnis bezeichnet. Sie können es auch als die mathematische Varianz der vom Entscheidungsausträger für möglich gehaltenen Ergebnisausprägungen interpretieren.

Nun die These der Vorlesung:

Was ich nun behaupte, und damit beginnt der erste Teil meines Vortrages, ist, dass auch mehr Risiko mehr Produktion schafft. Natürlich nicht: mehr Produktion in jedem Einzelfall, denn es liegt ja in der Natur des Risikos, dass auch weniger als erwartet herauskommen kann. Aber im Mittel, über die Zeit gesehen und für alle wirtschaftlichen Aktivitäten einer Volkswirtschaft zusammengenommen wird, so glaube ich, die Bereitschaft, mehr Risiko zu tragen, zu einem erhöhten Produktionsniveau führen.

Das ist erst einmal starker Tobak. Und auch Sinns Definition eines Unternehmersals “jemand, der kraft des Haftungskapitals, das er in die Firma eingebracht hat, in der Lage ist, produktive Risiken zu tragen, und sich deshalb über die bloße Eigenkapitalverzinsung hinaus eine Risikoprämie verdienen kann” wird wohl nicht von jedem & jeder geteilt.

Kommen wir also zur Begründung:

Wenngleich wir die meisten Risiken, denen wir ausgesetzt sind, ohne Schutz selbst übernehmen müssen, wird doch ein erheblicher Teil von ihnen verschiedenen Risikoausgleichsmechanismen zugeführt. Das offenkundigste Beispiel liefern Versicherungen, deren Prämien mitunter beträchtliche Teile unserer Einkommen absorbieren. Auch Versicherungen laden die Risiken letztlich wieder auf den Schultern von Haushalten ab; schließlich müssen ja ihre Aktionäre für alle Verluste aufkommen! Aber sie tun dies, indem sie jedes einzelne Risiko, das sie übernehmen, zerstückeln und jedem der tausenden von Aktionären nur einen winzigen Bruchteil zuweisen. Bei stochastischer Unabhängigkeit schrumpft so auch das Risiko, das beim repräsentativen d.h. durchschnittlichen Haushalt verbleibt, auf einen Bruchteil dessen zusammen, was es ohne Versicherung gewesen wäre.
Traditionell pflegt man diesen Konsolidierungsprozess als “Produktion von Sicherheit” zu interpretieren. Man denkt dabei an fest vorgegebene Risiken, die durch die Versicherung zu einem großen Teil eliminiert werden. Der Prozess lässt sich aber auch umgekehrt interpretieren: gegeben das Risiko, das letztlich vom repräsentativen Haushalt getragen werden muss, erlaubt die Risikokonsolidierung eine gewaltige Vergrößerung der Anfangsrisiken, die im Wirtschaftsprozess entstehen dürfen. So gesehen ist die Versicherung eine Institution, die den elementaren Produktionsfaktor Risiko vermehrt und eine Volkswirtschaft in die Lage versetzt, aus dem reichen Vorrat an Chancen zu schöpfen, die Technik und Natur ihr bieten.

Aha: Versicherungsmechanismen erhöhen also die Risikobereitschaft! Jedenfalls können sie das tun; der entgegengesetzte Fall der Vollkaskomentalität ist ebenso möglich. Übrigens fördert beides die Versicherungswirtschaft…

Über den Effekt, dass ich umso mehr riskiere, je höher ich mich versichere, schreibt Sinn:

Niemand weiss, von welchem Umfang die Produktionszuwächse sind, die aus der Existenz wohlorganisierter Versicherungsmärkte bislang entstanden sind. Es würde mich aber nicht wundern, wenn der ökonomische Vorteil dieser Produktionszuwächse den Vorteil, den der bloße Sicherheitsgewinn für risikoscheue Individuen bietet, bei weitem übersteigt. Ja, ich würde es nicht einmal ausschließen, dass die Versicherungen, eben weil sie einen Übergang zu riskanterer wirtschaftlicher Aktivität veranlassen, per saldo gar keine größere Sicherheit bewirken.

Erstaunlich, aber durchaus nachvollziehbar.

Nun wird’s aber noch viel erstaunlicher:

Versicherungen sind offensichtliche, aber nicht die einzigen und auch nicht die größten Produktionsstätten des knappen Faktors Risiko. Der bedeutendste privatwirtschaftliche Risikokonsolidierungsmechanismus ist der Aktienmarkt, auf den ja, wie ich erläutert habe, letztlich auch die Versicherungsrisiken übertragen werden. Der Aktienmarkt ist auch ein Kapitalmarkt, aber seine Besonderheit im Vergleich zum Markt für festverzinsliche Anlageformen ist natürlich der Risikoaspekt. Der Aktienmarkt ermöglicht es den Kapitalanlegern, sich statt an einer Unternehmung ganz an vielen ein bisschen zu beteiligen und führt deshalb aus ähnlichem Grunde wie die Versicherung zu einer drastischen Ausweitung der von risikoaversen Individuen verkraftbaren Anfangsrisiken nebst der daraus resultierenden Produktivitätseffekte.

Unter diesem Aspekt hatte ich den Aktienmarkt noch nie betrachtet. Problematisch bleibt er nichtsdestotrotz, weil er durch die jederzeitige Verkaufbarkeit von Aktien eine Eigendynamik entwickelt, die wieder eigene Systemrisiken produziert: Herdenverhalten (siehe Gustave Le Bon).

Hans-Werner Sinn setzt nun sogar noch einen drauf & lobt den Sozialstaat:

Traditionell sieht sich die paretianische Wohlfahrtstheorie außerstande, zu der Einkommensumverteilungsaktivität des Staates viel zu sagen, und wenn überhaupt, so wird ein schier unüberbrückbarer Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gerechtigkeit behauptet. Viele Autoren haben deshalb zum Beispiel davor gewarnt, die staatliche Versicherungstätigkeit, die man ja noch mit paretianischen Effizienzkriterien begründen kann, mit Umverteilungselementen zu vermischen. Ich glaube aber, wir sollten hier alle umdenken. Umverteilung ist nämlich auch Versicherungsschutz und auch sie kann deshalb aus rein paretianischen Effizienzerwägungen heraus legitimiert werden. Es besteht kein Gegensatz zwischen Umverteilung und Versicherung, denn eine Versicherung ist doch ein Umverteilungssystem, das Ressourcen der Glücklichen auf jene überträgt, die Pech gehabt haben. Umverteilung und Versicherung sind zwei Seiten derselben Medaille.
Natürlich ist es richtig, dass das Umverteilungssystem Ressourcen auch von den Fleißigen auf die Faulen überträgt und insofern zu Fehllenkungen des wirtschaftlichen Verhaltens führen kann. Aber das steht der Versicherungsinterpretation nicht grundsätzlich entgegen. Auch jede private Versicherung tut ähnliches, indem sie mangels hinreichender Beobachtbarkeit privaten Verhaltens auch solche Schäden tragen muss, die nicht durch Zufall, sondern durch nachlässiges Verhalten der Versicherten entstanden sind. Moral Hazard und Excess Burden gibt es in beiden Systemen.

Eine geile, innerökonomische Begründung des Sozialstaats!

Die Solidarität einer demokratischen Gesellschaft mit all ihren Schutz- und Sicherungssystemen mag bisweilen ausgenutzt werden; der Begriff des Rent-Seekers ist hierfür populär geworden. Sie gibt den jungen Menschen aber auch die Sicherheit und das Selbstvertrauen, das sie brauchen, um riskante und vielversprechende Lebenschancen wahrzunehmen. Insofern bin ich nicht überzeugt, dass das verbreitete Vorurteil stimmt, der Sozialstaat komme uns alle teuer zu stehen. Im Gegenteil, ich halte es für durchaus möglich, dass er erst einen Grossteil der Produktivkräfte freigesetzt hat, die für den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit verantwortlich waren.

Abschließend liefert Sinn eine (Teil-) Erklärung für die fehlgeleitete wirtschaftliche Entwicklung der “Entwicklungsländer”:

Der Import des Produktionsfaktors Risiko kann durch den Abschluss von Versicherungsverträgen mit ausländischen Gesellschaften geschehen, wie es insbesondere im internationalen Rückversicherungsgeschäft üblich ist. Er kann aber auch, und das scheint die Hauptquelle zu sein, durch den Import von Beteiligungskapital erfolgen. Denken Sie an Direktinvestitionen oder den Erwerb inländischer Aktien seitens ausländischer Haushalte oder Unternehmen. […]
Diese Zusammenhänge erklären vielleicht einen Teil der Misere, in die so viele Entwicklungsländer durch die internationale Verschuldungskrise geraten sind. Aus Angst vor politischen Abhängigkeiten haben sie wenig Beteiligungskapital, dafür aber um so mehr Fremdkapital importiert. Sie haben damit genau das Gegenteil der von mir gerade beschriebenen Politik getan; nämlich sie haben den Faktor Kapital importiert und auf den Import des Faktors Risiko verzichtet.
Im nachhinein wissen wir heute, dass dies nicht die richtige Entscheidung war. Das typische Entwicklungsland war durch einen großen Vorrat an ertragreichen und riskanten Produktionschancen, gleichzeitig aber durch Armut und eine entsprechend geringe Risikotoleranz gekennzeichnet. Beides passte nicht zusammen und musste in eine Krise führen. Eine gesunde Entwicklungspolitik hätte auf den Import von Beteiligungskapital statt jenen von Fremdkapital, also auf den gemeinsamen Import der Faktoren Kapital und Risiko setzen müssen. In den meisten Entwicklungsländern wäre die wirtschaftliche Entwicklung dann wohl günstiger verlaufen. Die Verschuldungskrise wäre jedenfalls nicht entstanden, und die politischen Abhängigkeiten wären auch nicht größer gewesen, als sie es nun geworden sind.

Mikrokredite wie die von Oikocredit sind – obwohl Fremdkapital – eine sinnvolle Ergänzung, um Unternehmen in ganz kleinem Stil zu fördern. Eine Kapitalbeteiligung wäre in solchen Grössenordnungen nicht praktikabel.