Wozu ist die Zeit gut?

“Zeit ist, was verhindert, dass alles auf einmal passiert.” sagte John Archibald Wheeler & trifft damit schon ziemlich den Kern dessen, was ich heute zu schreiben gedenke.

Angeregt durch den Vortrag Die Evolution des Raum-Zeit-Bewußtseins von Wulf-Mirko Weinreich, den dieser zuletzt beim Integralen Salon Leipzig gehalten hat, habe ich mir ebenfalls Gedanken über die Zeit gemacht.

In der Physik sind alle postulierten Gesetze in der Zeit umkehrbar bis auf den Bereich der Thermodynamik. Zeit kann also aus physikalischer Sicht als Symmetriebrechung verstanden werden, und das passt auch zu dem Modell des Urknalls, der die Raumzeit ja erst hervorgebracht hat (siehe Gebrochene Symmetrie nach dem Urknall war die Saat unserer Welt). “Vor dem Urknall” ist daher logisch nicht fassbar.

Zeit hängt eng mit der Größe der Entropie zusammen, die wiederum mit Information zusammenhängt (siehe Entropie in der Informationstheorie). Zeit hat also auch mit Information zu tun. Das ist vor allem dann interessant, wenn man das Wort In-Form-ation mal in seine Bestandteile zerlegt: Information ist nichts anderes als etwas in eine Form zu bringen.

Begeben wir uns nun in die reine Mathematik: eine simple Gleichung wie 2 * 3 = 6 kann uns einiges über die Zeit lehren. Auf der Ebene der Mathematik ist diese Gleichung immer und überall gültig (außer bei Pippi Langstrumpf), und zwar auch dann, wenn man ihre beiden Seiten vertauscht. Wenn man sie aber hinschreibt oder sagt, kommt es sehr wohl auf die Reihenfolge an. So wie sie da steht, vollzieht der Geist (bei unserer Schreibrichtung) die Rechnung “ich nehme zuerst die Zahl 2, dann nehme ich diese insgesamt dreimal und erhalte dann am Schluss die Zahl 6 als Ergebnis”. Schreibe oder sage ich 6 = 3 * 2, dann heißt das ausgesprochen “die Zahl 6 kann ich anders ausdrücken, indem ich zuerst die Zahl 3 hernehme und diese dann zweimal nehme”. Das ist in der Praxis durchaus relevant, denn ein Großteil der heutigen Verschlüsselungsverfahren beruht darauf, dass es nur mit immensem Rechenaufwand möglich ist, eine sehr große Zahl in ihre Primfaktoren zu zerlegen.

Zeit spielt also im Reich der Mathematik selbst keine Rolle, sehr wohl aber, wenn wir mathematische Formeln “erzählen”, wenn wir also rechnen. Begreifen wir die obigen Gleichungen als Witze, dann ist bei der ersten Form die Pointe die Zahl 6, bei der zweiten ist die Pointe 3 * 2. Mathematisch also äquivalent und dabei zwei unterschiedlich erzählte Witze.

Damit sind wir jetzt schon nahe an dem Punkt, auf den ich hinauswill:

Die Zeit ist dazu gut, dass wir uns Geschichten über diese Welt erzählen können. Sie ist der rote Faden, der Plot unserer ko(s)mischen Geschichten.

Der Fachbegriff für diese Betrachtungsweise ist Narrative Psychologie:

Ausgangspunkt für eine Erzählung sind weder die Fakten noch der Glaube daran, dass es wirklich so war, sondern die aktuelle Präsenz des erzählenden Subjektes in Raum und Zeit.

Das hängt übrigens wieder sehr eng mit Mathematik zusammen, wie die deutsche Sprache zeigt: Ge-Schichten Er-Zählen. Es kommt auf eine Abfolge an, Handlungen geschehen nacheinander, in einer bestimmten Reihenfolge, einer Ordnung, einer Struktur.

So kommen wir unweigerlich zur Scheibenwelt von Terry Pratchett. Diese funktioniert streng nach dem Prinzip der narrativen Kausalität. Was das ist, erklärt euch Terry Pratchett am besten selber in der Einführung von Total verhext:

Die Menschen denken, Märchen würden von Menschen geformt. Dabei verhält es sich in Wahrheit genau umgekehrt. Märchen existieren unabhängig von denen, die in ihnen mitspielen. Wer das weiß, für den ist Wissen Macht. Märchen – große, flatternde Bänder aus geformter Raumzeit – wehen seit Anbeginn der Zeit durchs Universum. Und sie haben sich weiterentwickelt. Die schwächsten sind untergegangen, die stärksten haben überlebt und sind durchs Weitererzählen dick und rund geworden… Märchen, die sich durch das Dunkel schlingen und winden. Ihre bloße Existenz überzieht das Chaos der Menschheitsgeschichte mit einem schwachen, aber unauslöschlichen Muster. Märchen ätzen Rillen hinein, die tief genug sind, dass ein Mensch ihnen folgen kann, genau wie sich Wasser einen Weg den Berg hinunter sucht. Jeder neue Akteur, der den Pfad eines Märchens einschlägt, tritt die Rille tiefer aus. Man nennt dies die Theorie der narrativen Kausalität, was bedeutet, dass jedes einmal begonnene Märchen eine Gestalt annimmt. Es verinnerlicht sämtliche Schwingungen aller anderen Versionen dieses Märchens, die es jemals gegeben hat. Das ist der Grund, warum sich die Geschichte ständig wiederholt. Demnach haben tausende Helden den Göttern das Feuer geraubt. Demnach haben tausende Wölfe eine Großmutter gefressen, wurden tausende Prinzessinnen wachgeküsst. Millionen ahnungsloser Mitspieler sind dem Verlauf des Märchens nichts ahnend gefolgt. Mittlerweise ist es ein Ding der Unmöglichkeit, dass der dritte und jüngste Königssohn, der aufbricht, um eine Aufgabe zu erfüllen, an der seine älteren Brüder bereits gescheitert sind, erfolglos heimkehrt. Den Märchen ist es egal, wer in ihnen mitspielt. Es kommt allein darauf an, dass sie erzählt werden. Man kann es auch anders ausdrücken: Das Märchen ist eine parasitäre Lebensform, die aus nacktem Eigennutz mit Menschenleben Schindluder treibt. Man muss schon ein ganz besonderer Mensch sein, um sich dagegen aufzulehnen und selbst zum Treibmittel der Geschichte zu werden. Es war einmal, vor langer Zeit…

Darüber hinaus sind diese Geschichten auch noch ineinander verschachtelt. Jeder Mensch, der “ich” sagt (oder auch nur denkt), erzählt damit seine persönliche Geschichte. Diese ist in eine familiäre Geschichte eingebunden, die wiederum in einem Dorf oder einer Stadt mit eigener Geschichte spielt, das Ganze eingebettet in eine nationale Geschichte innerhalb der Menschheitsgeschichte. An dieser Stelle darf der Hinweis auf den Begriff des Mems nicht fehlen.

In der integralen Theorie von Ken Wilber postuliert dieser eine Richtung der Evolution hin zu steigender Komplexität sowie zunehmender Bewusstheit.

Betrachtet man das Ganze hier als kosmischen Witz, dann ist der Punkt Omega dessen Pointe, über die sich das Universum buchstäblich totlacht, um sich dann für den nächsten kosmischen Witz neu zu gebären.

Von den Bewusstseinszuständen der integralen Theorie her betrachtet, spielt sich Zeit vor allem im manifesten Bewusstseinszustand ab. Der subtile Zustand ist da schon viel flüssiger & unstrukturierter, in ihm gibt es Sprünge, Vor- & Rückblenden, Schleifen und was sonst noch alles. Im kausalen Zustand verschwindet die Zeit, “dort” passiert tatsächlich alles gleichzeitig, wie es z.B. John Lilly im Zentrum des Zyklons beschreibt.

Geschichten müssen immer einen Sinn ergeben, sonst sind sie keine guten Geschichten. Musik kommt ohne einen solchen Sinn aus. Dafür ist Musik noch viel stärker zeitlich strukturiert als Geschichten, durch Rhythmus und Metrum sowie allgemeiner Pulsation. Auch die Tonhöhen ergeben sich aus Schwingungsfrequenzen.

Eine andere Art, Zeit zu betrachten, lauscht daher der Welt als kosmischer Symphonie. Immerhin können wir Zeit nur messen anhand periodischer Schwingungen. Aber woher wissen wir eigentlich, dass eine bestimmte Schwingung wirklich periodisch ist? Dazu müssen wir diese in kürzere Teilschwingungen unterteilen und messen, ob in jeder Schwingung gleich viele Teilschwingungen enthalten sind. Also ob in jedem Takt acht Achtelschläge gespielt werden beispielsweise. Doch sind denn auch die Achtel jeweils gleich lang? Das Spiel können wir unbegrenzt weiter treiben – aber Halt, es gibt doch eine Grenze, die plancksche. Letzten Endes müssen wir uns daher auf unser Rhythmusgefühl verlassen: Eine Schwingung ist periodisch, wenn sie groovt.

Hazrat Inayat Khan sagt dazu:

Wer das Geheimnis der Töne kennt, kennt das Mysterium des ganzen Weltalls.

Schaut euch mal die kosmische Oktave von Hans Cousto an, dieses relativ dünne Büchlein enthällt eine Fülle von harmonikalen Zusammenhängen, die ich nur häppchenweise verdauen kann. Zum Hören gibt’s viel bei Klangwirkstoff Records. Auch die Werke von Joachim-Ernst Berendt kann man sich immer wieder anhören bzw. durchlesen.

Übrigens, anders als eine Geschichte braucht Musik kein Ende:

Und in Programmiersprachen lässt sich die Unendlichkeit sehr kompakt hinschreiben, in C und davon abgeleiteten Sprachen z.B. so: while(true){} “A loop is a loop is a loop is a loop is…”

Bei meinen Recherchen zum Thema habe ich noch ein paar interessante Texte gefunden, so z.B. von Hans-Joachim Schlichting den Artikel Evolution: Zeit als Schöpfung. Darin fand ich diesen Satz sehr prägnant:

Strukturen sind gebremste Zeit.

Und natürlich gehört auch Henri Bergson hier hin, der formulierte “Zuinnerst sind wir reine Zeit”.

Ausführlich befasst sich ebenfalls Bertram Köhler mit Zeit und Evolution. Auch von ihm ein paar Sätze:

In einer Welt, in welcher der Zufall eine Rolle spielt, ist die Zeit mit der Evolution der Systeme eng korreliert.

Und weiter:

Gleichgewichtssysteme verändern ihre Struktur nicht, erzeugen keine Wirkung und haben deshalb eine gegen Unendlich gehende Eigenzeiteinheit, von außen gesehen haben sie also keinen Zeitablauf. Hochentwickelte Systeme haben eine hohe Wirkungsrate und deshalb eine kurze Eigenzeiteinheit und sie verbrauchen wenig Außenzeit für ihre Entwicklung.

Auf Bertram Köhlers Website findet sich zudem der Artikel Zeit von Klaus Mainzer.

Dass es nicht immer nur einen roten Faden gibt, sondern wir durchaus die Wahl haben, zeigt die Chaosmagie am Beispiel des Zeitliniensprungs der Wüstenmakrelen (siehe auch Die Kunst, Zeitlinien zu wechseln). Filmtipp dazu: Donnie Darko. Dabei stellt sich abschließend die Frage, wer oder was wechselt da eigentlich die Zeitlinien?

Update: Folgefrage zum Zeitliniensprung: Wenn “ich” erfolgreich die Zeitlinien gewechselt habe, kann ich mich dann an die vorherige erinnern? Denn ohne Gedächtnis (oder andere Datenspeicher) funktionieren Geschichten nicht, und damit existiert auch keine Zeit. Nur wenn ich mich erinnern kann an das, was schon gewesen ist, wird eine Geschichte draus. Ein Extrembeispiel liefert der Film Memento.

Update vom 07.04.: Jetzt habe ich im Nachgang doch noch einen Physiker gefunden, der knallhart sagt, Zeit gibt es gar nicht. Es handelt sich um Julian Barbour.

Update vom 16.07.: Erkenntnis aus dem Film Lucy: “Zeit ist die einzig wahre Maßeinheit. Sie beweist die Existenz von Materie. Ohne die Zeit existieren wir nicht.”

Update vom 07.10.: Gerade habe ich Die Kunst des Pirschens von Castaneda durchgelesen & darin eine wichtige Erkenntnis zur Zeit gefunden:

Wenn Florinda und ihre Gefährten von Zeit sprachen, meinten sie nicht das, was sich mit dem Gang eines Uhrwerks messen lässt. Zeit ist vielmehr das Wesen der Aufmerksamkeit; die Emanationen des Adlers bestehen aus Zeit; und im eigentlichsten Sinn macht man, wenn man in irgendeinen Aspekt des anderen Selbst eintritt, Bekanntschaft mit der Zeit. Florinda versicherte mir, dass die Krieger in jener Nacht, als wie in geometrischer Formation saßen, ihre letzte Chance gehabt hätten, mir und den Lehrlingen zu helfen, damit wir das Rad der Zeit sähen. Das Rad der Zeit, so sagte sie, sei so etwas wie ein Zustand gesteigerter Bewusstheit, der zum anderen Selbst gehöre, ähnlich wie die linksseitige Bewusstheit zum Selbst des Alltagslebens gehöre, und es lasse sich physikalisch als ein Tunnel von unendlicher Länge und Breite beschreiben; ein Tunnel mit spiegelnden Rillen; jede Rille ist unendlich, und es gibt davon unendlich viele. Alle lebenden Wesen müssen, so will es die Lebenskraft, zwanghaft in eine dieser Rillen starren. In diese Rille zu starren, bedeutet, von ihr gefangen zu sein, sie zu leben. Was die Krieger als den Willen bezeichneten, so versicherte sie, gehöre dem Rad der Zeit an. Es sei so etwas wie eine Ranke oder ein ungeheures Tentakel, das wir alle besitzen. Sie sagte, es sei das höchste Ziel der Krieger, zu lernen, wie man dieses Tentakel auf das Rad der Zeit richtet, um es kreisen zu lassen. Krieger, denen es gelungen sei, das Rad der Zeit kreisen zu lassen, könnten in jede der Rillen starren und aus hier herausziehen, was immer sie wollten – wie etwa die kosmische Vagina. Wenn man aber zwanghaft in einer Zeit-Rille gefangen sei, dann bedeute dies, dass man die Bilder dieser Rille nur im Zurückweichen wahrnimmt. Von der bannenden Kraft dieser Furchen frei zu sein, bedeute hingegen, dass man in beide RIchtungen blicken kann und die Bilder zurückweichen oder herannahen sieht.

Nachtrag vom 16.01.2017: Eben habe ich Julia Shaw entdeckt, die von VICE gewohnt reisserisch als Memory Hackerin bezeichnet wird. Jedenfalls belegt sie, dass man recht einfach Leuten falsche Erinnerungen einpflanzen kann und sagt daher, dass im Wesentlichen alle Erinnerungen falsch sind. Die roten Fäden unserer Geschichten und damit der Zeit scheinen sehr flexibel zu sein…

Nachtrag vom 20.11.2018: Nach der Relativitätstheorie vergeht für ein Photon selbst keine Zeit, da es sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Photonen existieren anders ausgedrückt in der Ewigkeit. Vielleicht sehen Menschen genau deshalb, wenn sie erleuchtet (sic!) werden, das klare Licht.

Nachtrag vom 30.12.2019: Sehr sehenswerter Vortrag von Steini beim 36C3:

Da geht er auch noch mal darauf ein, dass Zeit ohne Erinnerung keinen Sinn ergibt. Und das mit dem [Boltzmann-Gehirn](https://de.wikipedia.org/wiki/Boltzmann-Gehirn) ist ja echt völligst abgefahren!

Nebenbei: Meine Stimme hat er für ein Gespräch mit Joscha Bach, das wäre ein absolutes Dream Team der Abgefahrenheit!