Wenn die Wirtschaft wächst, wird alles knapper

Falls du in deinem Leben nur ein einziges Buch über Wirtschaft lesen willst, dann lass es Ökonomie der Verbundenheit von Charles Eisenstein sein. Auf deutsch liest es sich am besten in gedruckter Form, es gibt die einzelnen Kapitel zwar auch online, aber nicht ganz vollständig. Das englische Original verschenkt Charles Eisenstein im ePub- oder PDF-Format.

Nun aber zur Überschrift ein kleiner Appetitanreger aus Kapitel 2, wohin die Reise gehen kann:

Wirtschaftswissenschaften, so liest man auf der ersten Seite der Lehrbücher, befassen sich mit dem Verhalten von Menschen unter Knappheitsbedingungen. Die Ausweitung der Domäne von Wirtschaft ist daher eine Ausweitung von Knappheit und deren Eindringen in Lebensbereiche, die einst von Fülle gekennzeichnet waren. Wirtschaftliches Verhalten, insbesondere der Tausch von Geld gegen Waren, dringt heute in Bereiche vor, in denen nie zuvor Geld ausgetauscht wurde. Nehmen Sie zum Beispiel eine der großen Wachstumsbranchen des Einzelhandels im letzten Jahrzehnt: abgefülltes Wasser. Wenn etwas auf der Erde fast allgegenwärtig ist, dann Wasser. Aber heute ist es knapp geworden – wir bezahlen dafür. […]

Damit etwas eine Ware sein kann, muss es zuerst knapp gemacht werden. Wächst die Wirtschaft, so gehen per Definition immer mehr Tätigkeiten in den Geldbereich über, in die Sphäre der Waren und Dienstleistungen. Gewöhnlich verbinden wir Wirtschaftswachstum mit einer Zunahme von Reichtum, aber wir können es auch als Verarmung betrachten, als Zunahme an Knappheit. Dinge, für die wir früher niemals bezahlt hätten, müssen wir jetzt kaufen.

Um es daher ein wenig zu präzisieren: Wenn die Wirtschaft, so wie wir sie heute verstehen & betreiben, wächst, wird tatsächlich alles knapper, denn immer mehr wird dem Prinzip der Knappheit unterworfen. Eisenstein geht auch den tieferen Wurzeln dieser Illusion von Knappheit nach, nämlich der Illusion des Getrenntseins, auf die ich hier immer wieder hinweise:

Wie wir sehen werden, reflektieren unser Geldsystem, unsere Besitzstrukturen und generell unsere Wirtschaftsordnung genau diese Selbstwahrnehmung, zu der auch das Gefühl von Knappheit gehört. Es ist das “getrennte und eigenständige Selbst”, das kartesianische Ich: eine psychologische Seifenblase, die durch ein gleichgültiges Universum schwebt. Es will besitzen, kontrollieren und so viel Reichtum wie möglich für sich anhäufen. Abgeschnitten vom Reichtum einer Existenz in Verbundenheit, ist es von vornherein dazu verurteilt, niemals genug zu bekommen.

Letzten Endes geht es darum, eine andere Geschichte zu erzählen:

Geld ist ein System aus sozialen Übereinkünften, Bedeutungszuschreibungen und Symbolen, die sich über die Zeit entwickelt haben. Geld ist nichts anderes als eine Erzählung, die gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist, genau wie Gesetze, Nationen, Institutionen, Kalender und Uhrzeit, Religion und Wissenschaft. Geschichten haben unglaubliche schöpferische Kraft. Sie koordinieren unser Handeln, lenken unsere Aufmerksamkeit, beeinflussen unsere Absichten und definieren Rollen. Mit Hilfe von Geschichten einigen wir uns darauf, was wichtig ist und verständigen uns darüber, was überhaupt wirklich ist. Geschichten geben dem Leben Bedeutung und Sinn, sie motivieren unser Tun. Geld spielt eine Hauptrolle in der Geschichte der Getrenntheit, die unsere Zivilisation charakterisiert.

Geschichten prägen unsere Konsensrealität, wie ich schon im Beitrag über das Schweigen beim Vipassana schrieb. Eisenstein geht es dabei um die Geschichte über die Menschen:

Wie in allen Kulturen hat unsere Geschichte über die Menschen, durch die wir uns definieren, zwei eng miteinander verbundene Teile: eine Geschichte vom Selbst, und eine Geschichte von der Welt.

Dabei lasse ich es für heute bewenden, lest die ganze Geschichte am besten selbst. :)