Weltregierung oder Global Governance?

Weltregierung?

Schon vor 2 1/2 Jahren hatte ich hier vielleicht so manche damit überrascht, dass ich eine Weltregierung als möglicherweise gar nicht schlecht dargestellt habe. Das war im Beitrag Wann schränken wir endlich die Souveränität von Staaten und Konzernen ein?. Es bleibt natürlich dabei, dass ich als (innerer) Anarchist Regierungen aller Art grundsätzlich ablehne. Dennoch habe ich als Anarchist 70 Jahre Grundgesetz gefeiert und kann Winston Churchills bekanntem Zitat einiges abgewinnen:

“Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.”

Zur Erinnerung, damals schrieb ich:

Die Herausforderungen der Menschheit sind heute global, deshalb brauchen wir globale Institutionen, die damit umgehen können. Was wir nicht mehr brauchen, ist ein einzelner Nationalstaat, der sich selbst zum Weltpolizisten aufspielt. Wir brauchen echte Weltpolizisten, die das Mandat der Weltgemeinschaft haben. Wir brauchen auf der gesamten Erde verbindlich geltende Regeln, wie wir miteinander und mit der Erde wirtschaften. Ja, vielleicht brauchen wir tatsächlich eine Weltregierung, die befugt ist, überall auf der Erde für alle Menschen geltende Regeln durchzusetzen.

Die globalen Herausforderungen sind seither nur gewachsen, während Lösungsversuche bisher kläglich scheitern.

Eine wesentliche Herausforderung ist dabei das wachsende Ungleichgewicht zwischen den Nationalstaaten und den längst globalisierten Konzernen, worauf ich damals auch schon hinwies:

Dass schon heute die Konzerne so mächtig sind, liegt ja gerade daran, dass sie ohnehin längst global agieren und die einzelnen Staaten gegeneinander ausspielen können.

Damit hängt die immer weiter wachsende Vermögenskonzentration auf diesem Planeten eng zusammen.

Es braucht daher um so dringender globale Einrichtungen von den Menschen, durch die Menschen und für die Menschen (und die mehr-als-menschliche Welt).

Keine Weltregierung!

Einen Hinweis, warum die bisherigen Lösungsversuche so kläglich scheitern, gibt ein aktuelles Interview mit Gerald Hüther über Würde, in dem er u.a. folgendes sagt:

Es war über einen sehr langen Zeitraum, wohl schon seit 10.000 Jahren, sehr vorteilhaft, eine Ordnungsstruktur für unser Zusammenleben zu schaffen, die es ermöglichte, gemeinsam etwas aufzubauen oder sich gegen Feinde zu wehren. Diese Ordnungsstruktur heißt Hierarchie. Eine Hierarchie führt automatisch dazu, dass alle, die dort weiter unten gelandet sind, als Untertanen oder Befehlsempfänger zu Objekten der Anordnungen und Vorgaben derer gemacht werden, die weiter oben stehen. Diese hierarchischen Ordnungsstrukturen unseres Zusammenlebens haben sich in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgebreitet. In Familien, Unternehmen, im Millitär sowieso, aber sogar die Kirchen haben sich hierarchisch organisiert, weil es eine Menge Vorteile bringt. Einer der größten Vorteile jeder Hierarchie ist, dass Leute sich anstrengen, weil sie nach oben kommen wollen. Sie erbringen etwas, sie entdecken etwas, sie erfinden etwas - kurz: Sie bringen das Neue in die Welt.

Auf die Entgegnung “Was ja nicht unbedingt verkehrt ist …” antwortet er:

Nein. Aber die Lebenswelt der Menschen wird durch all diese Neuerungen immer komplexer. Die Hierarchie hat also durch dieses ihr innewohnendes Aufstrebungsbemühen eine Welt hervorgebracht, die inzwischen so komplex ist, dass sie mittels einer Hierarchie nun gar nicht mehr lenkbar ist. So erleben wir gegenwärtig in unserer globalisierten, digitalisierten und total vernetzten Welt das irritierende Phänomen, dass dieses hierarchische Ordnungsprinzip nicht mehr geeignet ist, unser Zusammenleben konstruktiv zu steuern. Es wird wohl keine hierarchische Ordnung mehr geben, die mit so einer komplexen Welt umgehen kann, die unser Zusammenleben im alten Sinn von Oben nach Unten steuern kann. Deshalb gibt es gegenwärtig auf der Welt so viele unlösbare Probleme und so viele Menschen, die nach Wiederherstellung der verloren gegangenen Ordnung rufen. Die aber ließe sich nur wieder einführen, wenn die Welt wieder einfacher, überschaubarer und unser Zusammenleben dann auch wieder von Oben nach Unten lenkbar wäre.

Das will ich noch mal extra hervorheben, weil es m.E. genau der Knackpunkt in diesem Stadium der Menschheitsentwicklung ist: Die Hierarchie hat also durch dieses ihr innewohnende Aufstrebungsbemühen eine Welt hervorgebracht, die inzwischen so komplex ist, dass sie mittels einer Hierarchie nun gar nicht mehr lenkbar ist.

Wir reden hier also über Führung, was ich schon an etlichen Stellen dieses Blogs getan habe, nun aber eben auf globaler Ebene. Das bedeutet, dass auch global gesehen Hierarchie ein verzweifelter Versuch ist, die Kontrolle zu behalten, während angesichts der nicht mehr überschaubaren Hierarchie Führen heisst, dem Prozess zu folgen. Das heißt mithin: keine Weltregierung.

An dieser Stelle lasse ich den von mir hoch geschätzten Robert Anton Wilson zu Wort kommen, der in seinem Buch Die Illuminati-Papiere folgendes zum Thema zu sagen hat:

Im allgemeinen bezweifle ich jedoch sehr, dass die internationalen Bankiers – oder jede andere Piratenbande – wissen, was eigentlich los ist. Wie jede andere Verschwörungsgruppe bilden sie sich gerne ein, dass sie in jeder Beziehung auf dem Laufenden seien – aber das ist nichts als ein purer Egotrip. Wie ich anhand des SNAFU-Prinzips im Band zwei von Illuminatus! aufgezeigt habe, ist Kommunikation nur zwischen Gleichwertigen möglich. Jede Hierarchie ist ein Kommunikationssalat. Jede herrschende Elite leidet an progressiver Desorientiertheit: je länger sie herrscht, um so verrückter wird sie. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass jedermann die Mächtigen belügt – einige, um der Bestrafung zu entgehen; andere, um zu schmeicheln und Gunst zu erlangen. Daraus folgt, dass die Elite zu einer recht schiefen Ansicht in bezug auf die Welt gelangt. Dasselbe lässt sich auf alle pyramidal aufgebauten Organisationen anwenden – Armeen, Gesellschaften, Regierungen. Selbst auf die altmodisch patriarchalische Familie. Das Individuum oder die jeweilige Gruppe an der Spitze ernährt nur jene, die schmeichelnden und täuschenden Schund darbringen (Howard-Hughes-Syndrom). Köstlich, diese Geschichten, die ich über Gesellschaften erzählen könnte, für die ich gearbeitet habe… Dinge dieser Art sind nur auf dem Planet der Affen möglich.

Global Governance

Nun gibt es im Englischen dieses Wort Governance, das nicht nicht wirklich direkt ins Deutsche übersetzbar ist, weil kein einzelnes deutsches Wort seine Bedeutungsfülle angemessen wiedergeben kann. Der Wikipedia-Artikel zu Global Governance zitiert die Definition aus dem Abschlussbericht der Commission on Global Governance:

„Governance ist die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, durch den kontroverse oder unterschiedliche Interessen ausgeglichen werden und kooperatives Handeln initiiert werden kann. Der Begriff umfasst sowohl formelle Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch informelle Regelungen, die von Menschen und Institutionen vereinbart oder als im eigenen Interesse angesehen werden. (…) Auf globaler Ebene (…) müssen auch Nichtregierungsorganisationen, Bürgerbewegungen, Multinationale Konzerne und der globale Finanzmarkt mit einbezogen werden. Mit diesen Gruppen und Institutionen interagieren globale Massenmedien, deren Einfluss dramatisch gewachsen ist. (…)“

In dem Zusammenhang erinnere ich daran, dass Anarchie nicht bedeutet, dass es keine Regeln gibt, sondern dass es keine Herrschaft gibt. Anders ausgedrückt: In einer Anarchie werden Regeln und Gesetze nicht mit Zwang und Gewalt durchgesetzt. Sehr wohl aber gibt sich eine anarchische Gemeinschaft selber Regeln, siehe dazu mein alter Beitrag Herrschaftszeiten.

Globales und lokales Gemeinschaffen (Commoning)

Global Governance fängt damit an, die Menschheit neu zu denken. Daneben sind auch auf der kleinen zwischenmenschlichen Ebene Änderungen gefragt. Im Beitrag über Menschheit neu denken hatte ich schon Miki Kashtan zitiert, die darauf hinweist:

This is precisely why establishing mechanisms of global governance, by themselves, will not solve any problem, or may well make it worse. Unless the basic mechanisms that are used for making decisions are dramatically changed, creating a global governance system will only centralize power even more, and remove whatever meager autonomy smaller nation states might still retain to address their own challenges without imposition from the world’s political and economic centers of power.

Eine rund laufendende Global Governance kann daher nur auf dem Gemeinschaffen auf allen Ebenen aufbauen.

Nachtrag vom 03.01.2024: Der Vortrag von Joscha Bach vom gerade vergangenen 37C3 gehört definitiv hier mit hin: Synthetic Sentience. Can Artificial Intelligence become conscious?, insbesondere der Punkt Collective agency darin.