Sterben in Corona-Zeiten

Die Corona-Krise serviert uns das Thema Sterben auf dem Präsentierteller. Und natürlich polarisiert der Tod, wenn er im Raum steht. Wen erwischt es, wen noch nicht?

Das zeigt sich exemplarisch an Wolfgang Schäubles Interview mit dem Tagesspiegel, in dem er u.a. sagte:

Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben. Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.

Dafür handelte er sich massive Kritik ein und auch großes Lob.

Verknüpft man das Sterben mit dem Weiterleben der Wirtschaft, dann wird natürlich schnell ein Sozialverträgliches Frühableben daraus. Einen solchen Beigeschmack hat auch, dass die Schweiz ihren betagten Bürgern eine Patientenverfügung nahelegt.

Andererseits ist, wie der Palliativmediziner und Buchautor Matthias Gockel betont, der Tod auch in Krankenhäusern heute noch ein Tabu.

Charles Eisenstein hat in seinem Essay Die Krönung schon darüber geschrieben, wie unsere Gesellschaft zwanghaft versucht, alles zu kontrollieren, bis hin zu Leben & Tod:

In meinem bisherigen Leben habe ich beobachtet, dass die Gesellschaft mehr und mehr Wert auf Sicherheit, Gefahrenabwehr und Risikoreduktion legt. Dies hat insbesondere die Kindheit beeinflusst: Als Kinder war es für uns normal, draußen im Umkreis von einer Meile um unser Haus ohne Aufsicht zu spielen, ein Verhalten, das heute einen Besuch der Kinderschutzbeauftragten bei den Eltern zur Folge haben kann. Dies manifestiert sich auch im zunehmenden Einsatz von Latexhandschuhen bei immer mehr Berufen, allgegenwärtigen Händedesinfektionsmitteln, abgeschlossenen, bewachten und videoüberwachten Schulgebäuden, intensivierten Flughafen- und Grenzkontrollen, der erhöhten Aufmerksamkeit auf gesetzliche Haftung und Haftpflichtversicherungen, Metalldetektoren und Durchsuchungen vor dem Betreten vieler Sporteinrichtungen und öffentlicher Gebäude und so weiter. Kurz, es nimmt die Form eines Sicherheitsstaates an.

Das ist übrigens das Sicherheits-Dispositiv, über das Michel Foucault sich in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität ausführlich auslässt.

Zurück zu Eisenstein:

Die ultimative Erfüllung des zivilisatorischen Kontrollprogramms wäre, über den Tod selbst zu triumphieren. Weil sie das nicht schafft, hat sich die moderne Gesellschaft diesen Triumph vorgetäuscht und leugnet den Tod, den sie nicht bezwingen kann: Das reicht vom Verbergen der Leichname vor dem Blick der Öffentlichkeit über den Fetisch der Jugendhaftigkeit bis zur Abschiebung von alten Menschen in Pflegeheime. Sogar ihre Besessenheit mit Geld und Besitz – beides Erweiterungen des Selbst, wie das Wort “mein” indiziert - drückt diese Wahnvorstellung aus, dass das unbeständige und vergängliche Selbst durch seine Anhängsel permanent gemacht werden kann.

Ich nehme mal Fefe als drastisches Beispiel für einen, der den unausweichlichen Tod offensichtlich nicht wahrhaben will:

“Ach komm, Fefe, die paar Toten”.

So langsam krieg ich da Gewaltphantasien und wünsche den Leuten, das ihr Haus in Flammen steht.

Als Kontrast hat Wolf Schneider in seinem Blog einen Brief einer Freundin aus der Risikogruppe veröffentlicht, die klare Worte findet:

Ich gehöre zur Gruppe derer, die ihr für besonders gefährdet haltet, an Corona zu erkranken. Ihr wollt uns retten? Uns Alte? Uns, die wir ein reich gelebtes Leben hinter uns haben und nun dem Tod näher stehen als dem Leben. Habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Oder hat die Sucht nach ewiger Schönheit und Jugend euch das Hirn so verquirlt, dass ihr nicht nur Tiere grausam quält, sondern nun auch uns Alte ungefragt mit einer Hightech-Medizin der Superlative am Leben erhalten wollt?

Wie gesagt, der Tod polarisiert. Dabei ist er selber Teil einer kosmischen Polarität:

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das Leben nur lieben können, wenn wir auch den Tod mit in unser Herz nehmen. Er ist die andere Seite der Medaille. Klammern wir ihn aus, klammern wir das Leben aus.

Der Artikel Sterben in Zeiten von Corona (geschrieben übrigens von einem Polizisten) weist noch mal auf einen anderen Aspekt hin:

Tatsächlich geht es doch an keiner Stelle um ein Plädoyer für schnelleres Sterben. Dann schon eher für ein würdiges Sterben, wenn Palliativmediziner den vollkommen unreflektierten Diskurs um die Kapazitäten intensivmedizinischer Betreuung in Zweifel ziehen, weil (weit überwiegend ältere) Menschen, die mit einem schwerwiegenden Krankheitsbild im Sterben liegen, weder gestern noch heute und auch nicht morgen intensivmedizinisch betreut worden wären - diese Menschen für eine mögliche Last auf Kapazitäten intensivmedizinischer Betreuung also tatsächlich nie eine Rolle gespielt haben. Hingegen hat der unreflektierte Corona-Verbotswahn dazu geführt, dass Menschen letzte Tage und Stunden ihres Lebens allein und ohne Beistand von Angehörigen oder eine seelsorgerische Betreuung zu verbringen haben. Nicht einmal für eine im Benehmen der Angehörigen als würdevoll empfundene Bestattung lässt der Staat vom Verbotswahn ab und notfalls die Polizei aufkreuzen.

Das Highlight habe ich mir zum Schluss aufgehoben, den langen Artikel von Barbara von Meibom in den Integralen Perspektiven, Tod und Sterben – ein gesellschaftliches Tabu. Ein Zwischenruf von Barbara von Meibom in Zeiten von Corona:

Bei uns wird nicht gestorben! Mit diesem Ausruf lief eine resolute Stationsleiterin über den Krankenhausflur, um das Unvermeidbare zu verhindern – dass ein alter Mensch dabei war, die Schwelle vom Leben zum Tod zu überschreiten. Diese Episode liegt schon Jahre zurück – Jahre, in denen die Illusion immer mehr um sich griff, wir könnten den Tod aus dem Leben verbannen.

So geht der Text los, den ich euch sehr ans Herz lege zu lesen. Da steckt viel drin. Übrigens, die Autorin gehört auch zur Risikogruppe:

Ich selbst bin 73 Jahre, gehöre also zur Risikogruppe nach derzeitigem Sprachgebrauch. Ich habe ein volles und rundes Leben gelebt und weiß um dessen Endlichkeit. Ich tue etwas für mein körperliches und seelisches Gleichgewicht, ich achte auf die Kraft meines Immunsystems und ich bin mir bewusst, dass ich eines Tages, zu einem mir nicht bekannten Zeitpunkt, diese Erde verlassen werde, vielleicht mit oder wegen Corona. Damit habe ich meinen Frieden geschlossen.

Nachtrag vom 11.05.: Valentin Widmann hat bei Telepolis einen perfekt passenden Artikel veröffentlicht, “Über den Tod sprechen”. Ich zitiere mal nur einzelne Zwischenüberschriften:

Angst vor dem Virus ist die Angst vor dem Tod und vor dem Sterben

Lebensrettung wird zur Industrie

Eine Politik der Risikominimierung kann niemals die Grundlage für eine humane Gesellschaft sein

Erinnere dich daran, was Don Juan sagt: Der Tod ist immer zu unserer Linken. Und der Tod ist der einzige weise Ratgeber, den wir haben.

Nachtrag vom 05.06.: In der aktuellen Sein gibt es einen schönen Artikel von einer systemischen Aufstellerin zu Corona, in dem sie u.a. über das Phänomen der Masken schreibt

Die Masken weisen vielmehr auf eine Kraft hin, die dem Universum immanent ist. Es ist die Kraft des Nicht-Existenten und der Auslöschung – auf phänomenologischer Ebene vergleichbar einem schwarzen Loch. Diese Kraft ist die Gegenkraft zum Existierenden, Schöpfenden, wie wir es kennen. Die Auslöschung ist vollständig, unpersönlich und ohne für uns erkennbaren Sinn. Vor der Kraft der Auslöschung ist alle Existenz machtlos, auch unser Planet selbst. Letztendlich bleibt auch die wortreichste Beschreibung dieser Kraft fern. Man kann den Abdruck dieser Kraft erfahren, aber die Kraft selbst bleibt unsichtbar und verborgen.

Das finde ich einen sehr starken Ausdruck: die Kraft des Nicht-Existenten und der Auslöschung – lässt mich gleich wieder an das Lied Giving Up Everything von Natalie Merchant denken.

Sie schreibt weiter über unser Verhältnis zum Tod:

Für Impfgegner wie auch Impfbefürworter gilt allerdings gleichermaßen: „Die Not bzw. Bedrohung soll weg und die persönliche Kontrolle über das Leben erhalten werden“. Nur der Weg zu diesem Ziel unterscheidet sich bei beiden Gruppen. Die Gesellschaft oder Gruppe soll dabei Schutz und Richtung geben für den Kampf gegen den Tod. Die Gesellschaft, wie sie heute gelebt wird, kann und weiß jedoch nicht mehr als der Einzelne im Angesicht des Todes! Es zeigte sich, dass uns „Gesellschaft“, wie wir sie heutzutage leben, eher im Verleugnen des Todes als im Integrieren und Zustimmen der Lebenstatsache Tod unterstützt. Die Gesellschaft als Konstrukt, um dem Tod zu entfliehen – das ist sicher mit ein „Ur-Motor“ für Gruppenbildung in der Menschheitsgeschichte. Und doch scheitert das Konstrukt immer.

Das erinnert mich an das Atman-Projekt, welches ja bekanntlich auch immer scheitern muss.