In europäischen Traditionen leben

Bei der letzten Schwitzhütte kam auf einmal für mich selber überraschend der tiefe Herzenswunsch zum Vorschein, den Rest meines Lebens in europäischen Traditionen zu leben. Überrascht hat mich dabei die Stärke dieser Sehnsucht; das Thema selbst ist nicht neu für mich.

Aufgewachsen bin mich mit dem protestantischen Christentum, einige Jahre auch in einer evangelikalen Jungschar. Die vielen Geschichten, die ich in dieser Zeit hörte und las, spielten alle in Palästina, im Zweistromland und Ägypten. Sie hatten überhaupt nichts mit Mitteleuropa zu tun, in dem ich lebte und lebe. Diesem Christentum entfremdete ich mich immer mehr und kam im Zuge dessen mit dem Buddhismus in Berührung, einer geistigen Tradition Ostasiens. Später entdeckte ich auch den – indianischen – Schamanismus. Die eine dieser Traditionen hat ihren Ursprung tausende Kilometer südöstlich des Landes, in dem ich aufgewachsen bin und lebe, die andere tausende Kilometer westlich.

Dass es auch Neuheiden gibt, die alte vorchristliche europäische Traditionen weiterleben lassen, entdeckte ich erst viel später. Seitdem lässt mich das nicht mehr los, auch wenn es zeitweilig in den Hintergrund getreten ist (zuletzt durch meine Hinwendung zum indischen Tantra). Denn da schimmert so ein Anknüpfungspunkt hindurch, der mir in allen anderen Traditionen, die auch hierzulande gelebt werden, fehlt. Diese alten Traditionen sind zutiefst mit dem Land verbunden, in dem sie gelebt wurden, dem sie auf eine Weise entstammen. Dieser Absatz aus dem Oya-Artikel Erzählen vom gemeinen Leben spricht mir dabei aus der Seele:

Dem Land eingeborene Menschen umzusiedeln oder zu vertreiben, kommt einem kulturellen Genozid gleich. In Europa sind wir seit Jahrhunderten Vertriebene und Vertreibende, gerade vertreiben wir mittels der virtuellen Realität die letzten Relikte unseres Ortssinns. Während Maschinen uns in die fernsten Winkel der Erde und ­sogar in den Weltraum befördern, sind wir nicht mehr in der Lage, das Naheliegende, das uns umgibt, zu lesen. Wie sollten wir etwas, das wir nicht mal mehr erkennen, bewahren können? Eine weitere Ebene der Verbundenheit indigener Kulturen mit der sie umgebenden Landschaft drückt sich in den Erzählungen der Navajo, der Cheyenne, der Hopi, der Netsilik-Inuit und anderer Ethnien aus, die ihre Erzählungen mit einer Bekräftigung der Verwandtschaft und Gleichwürdigkeit von Mensch und Tier beginnen lassen: »Als Menschen und Tiere dieselbe Sprache sprachen …« Wie David Abram schreibt, gilt diese Verbundenheit für die Gesamtheit der Natur: »In einer oralen Kultur sprechen nicht nur die anderen Tiere und Pflanzen […] zu den Sinnen, sondern auch der mäandernde Fluss, von dem jene Tiere trinken, die sintflutartigen Monsunregen oder der Stein, der sich in die Handfläche schmiegt. Auch der Berg hat seine eigenen Gedanken, und die Regenwald­vögel, die die untergehende Sonne mit ohrenbetäubendem Schwirren, Sirren und Kreischen bis hinter den Horizont begleiten, sind Stimmorgane des Walds selbst.«

Ich bin also noch mitten in dem großen Thema Heimat. Das erste Gefühl von Heimat in meinem Leben hatte ich in der 6er-WG in Bielefeld während Studium und “dunkler Phase”. Damals war das die Verbundenheit mit diesen Menschen, echten Herzensfreunden, das Land spielte noch keine so große Rolle. Obwohl ich es damals schon sehr genossen hatte, durch den Teutoburger Wald zu radeln und zu wandern; allerdings vermisste ich das Wasser, das ich von Mittelhessen in Form von Seen und der Lahn und Bächen wie der Wieseck lieben gelernt hatte.

Zuerst durch Musik, dann durch meine ersten Reisen nach Polen, vor allem Masuren und Ostpreußen, spürte ich meine Wurzeln im Osten. In dieser friedlichen Weite von Masuren fühlte ich mich angenommen. Dort waren die Menschen gar nicht mehr wesentlich, das Land selbst lud mich ein.

Nun mache ich mich auf die Suche, wie das (wieder) zusammengehen kann – die Menschen und das Land Europa. Dabei habe ich meine Erkenntnis im Hinterkopf:

Menschen haben Füße, keine Wurzeln.

Nachtrag vom 27.04.: Soeben habe ich mich für das Wochenendseminar Die Götter der Schamanen – Freya & Hekate, Wotan & Dionysos mit Christian Rätsch und Claudia Müller-Ebeling im November angemeldet.

Nachtrag vom 02.05.: Aus Wolf Michaels Beitrag über Zeremonialmedizin:

Nun könnte jemand sagen: “Das sind doch Zeremonien, die ihr von euren indianischen Lehrern gelernt habt. Ist da nicht bereits Erstarrung dort, wo ihr die Zeremonien nachstellt, gar immitiert?” Diese Frage hat uns nie beschäftigt. Unsere indianischen Lehrer sagten von Anfang an: " Nützt unser Wissen, nutzt die Zeremonialmedizin als Einstieg und Anleitung dazu, wie ihr eure eigenen Formen kreieren könnt und sucht damit nach euren eigenen Wurzeln." Wie auch sonst? Wir sind Blassgesichter, Mitteleuropäer und stehen in keiner indianischen Traditionslinie. Die ist auf unserem Boden einfach nicht gewachsen. Auch wenn wir über 15 Jahre lang bei indianischen Medizinleuten gelernt haben…

Selbstverständlich könnte man gerade die Art, wie wir einen Steinkreis legen, als “von Indianern abgeschaut” betrachten. Oder aber auch als ein großartiges Geschenk, wie die Medizinpfeife, das Medizinradwissen und die Schwitzhütten. Ein Geschenk, das wir ehren und achten und mit großem Respekt behandeln, weil es uns die Möglichkeit gegeben hat, grundlegende Veränderungsprozesse einzuleiten und aus dem für uns anfänglich brachliegenden spirituellen Brauchtum, aus den verstümmelten Hinweisen, aus den missbrauchten Formen Europäischer Tradition zu lernen, hinzuzufügen und zusammenzufügen um dann schließlich zu erkennen, dass wir hier in Europa auf einer Schatzkiste sitzen, die erst einen Spalt weit geöffnet ist.