Es gibt keinen Naturzustand

Dieser Andreas Weber schreibt echt immer genialere Sachen. In der aktuellen Oya führt er unter der Überschrift Essbar sein aus, warum der Glaube an ein “Paradies”, an einen “unberührten Naturzustand” der frühen Menschheit, eine Illusion ist. Damit nähert er sich sehr Ken Wilber in dessen Buch Halbzeit der Evolution an, das hier ja schon mehrfach Thema war.

Ein paar Ausschnitte:

Wo der Mensch auftauchte, veränderte er die Natur radikal. Vieles spricht dafür, dass die ersten Bewohnerinnen und Bewohner Nordamerikas die ursprüngliche Megafauna, elefantenähnliche Mastodonten und gewaltige Faultiere, haben verschwinden lassen. Damit wären auch sie, die oft als Beispiele für die Möglichkeit perfekter Harmonie mit der Natur herhalten müssen, Nachfahren eines ersten Akts ökologischer Dominanz. Die ökologisch folgenreichste Technik, die oft nicht in ­Betracht gezogen wird, war das Feuer. Schon der Homo erectus kochte vor sechshunderttausend Jahren seine Nahrung. Vor allem aber legte er Ökosysteme in Asche. Er brannte Wälder ab, um auf der offenen Steppe besser jagen zu können – und vielleicht auch, um auf den nährstoffreichen Holzkohleresten erste Gärten zu kultivieren. Der Mensch der Vorzeit schuf somit bereits »neu­artige Ökosysteme«, wie Forscher heute unerhörte Artmischungen wie den Berliner Schanzenwald nennen. […] Unberührte Natur – das ist ein Mythos, der nie gestimmt hat, so ­wenig wie der vom Paradies. Die Erde zu verändern, meint [Geograf Erle] Ellis, sei nichts Neues, sondern arttypisch: Homo sapiens ist jene Spezies, die den Planeten umbaut. Er ist ein Ökosystem-Ingenieur, ähnlich wie der Biber, auf dessen Konto ganze Feuchtgebiete ­gehen können, mit der entsprechenden Artenvielfalt. »Diese Welt ist nicht perfekt«, meint Ellis, »Aussterben gehört dazu«. Seit es den Menschen gebe, provoziere er ökologische Revolutionen.

Weiter:

Das heißt dann auch: Es gibt keinen Naturzustand. Nicht einmal in der Natur gibt es einen Naturzustand. Es gibt nur ein dynamisches Regime von Änderungen aufgrund der Interessen der Einzelnen, fruchtbar zu werden, aufgrund des intrinsischen Inter­esses von allem, in Kontakt zu treten und darin lebensstiftende Verbindungen zu erfahren. In letzter Konsequenz ist die ökologische Stabilität – das Nahrungsnetz – ein physisch niedergelegter Pakt zur Machtbegrenzung und zur gegenseitigen Zähmung.

Diese Stelle lässt mich besonders an Wilber denken:

Immer wieder wird gesagt: Der Mensch ist das Tier, das weiß, dass es sterben wird. Vermutlich wissen das alle anderen Wesen in verschiedenem Maß auch (alle versuchen ihren Tod zu vermeiden), schicken sich aber in diese Erkenntnis und akzeptieren, dass es den Tod gibt. Das macht ihre Größe aus und ihre Friedlichkeit, selbst wenn sie riesige Zähne haben. Der Mensch aber ist das Tier, das einen Ausweg dafür sucht, dass es sterblich ist. Es will der Gegenseitigkeit, deren tiefste Ausprägung die Komplemen­tarität von Geburt und Sterben ist, entgehen, indem es seine Umwelt so stark wie möglich kontrolliert. Das – so scheinen es die neuesten anthropologischen und archäologischen Befunde darzulegen – ist nicht eine Folge von bestimmten kulturellen Setzungen, sondern liegt im Kern unseres Wesens. Der Mensch weigert sich zu sterben. Genauer: Er weigert sich, essbar zu sein. Das ist seine ökologische Besonderheit – und das ist seine ökologische Bestialität.

Anders ausgedrückt: Der Mensch ist das Tier, das immer wieder neue Atman-Projekte startet.

Und bekanntlich ist es das Ego, das die Atman-Projekte startet, wie es archaischen Gesellschaften wohl bewusst war und ist:

Schauen wir auf ­archaische Gesellschaften, so finden wir etwas, das dem romantischen Blick – der Idee von Freiheit aus sich selbst heraus und ohne Verletzung – widerstrebt. In diesen Gesellschaften sind die Rechte des Egos extrem reguliert. Die sozialen Regeln – wen man heiraten darf, mit wem man die Jagdbeute teilt, was man von seinem Besitz hergeben muss, wie gering individueller Führungsanspruch geachtet wird – sind alle darauf ausgerichtet, das Ego zu brechen. Kein Stolz – das ist die Konsequenz der strengen Prinzipien der ersten Völker.

Selbstwichtigkeit verlieren sage ich gern dazu.

Weber baut seinen Artikel auf einem Essay von David Graeber und David Wengrow auf, allerdings geht nicht ganz klar daraus hervor, auf welchem eigentlich. Die beiden arbeiten nämlich schon länger zusammen. Sie haben 2015 im Journal of the Royal Anthropological Institute den Artikel Farewell to the ‘childhood of man’: ritual, seasonality, and the origins of inequality veröffentlicht. Im März 2018 machte dann ihr Artikel How to change the course of human history im Eurozine die Runde, und ganz frisch haben sie im New Humanist den Artikel Are we city dwellers or hunter-gatherers? veröffentlicht. Aus dem Jahr 2015 gibt es auch ein Video der beiden, Palaeolithic Politics and Why It Still Matters. Zum Eurozine-Artikel hat Camilla Power eine lange Erwiderung aus feministischer Perspektive verfasst: Gender egalitarianism made us human: A response to David Graeber & David Wengrow’s ‘How to change the course of human history’, den New Humanist-Artikel nimmt Peter Turchin kritisch auseinander: An Anarchist View of Human Social Evolution.

Diese ganze Debatte inklusive der Original-Artikel habe ich mir noch nicht einverleibt, die Links poste ich daher auch für mich selbst hier hin. Was Andreas Weber daraus macht, ergibt für mich jedenfalls mächtig viel Sinn. Und aus feministischer Sicht ist eins hoffentlich klar: Die Große Göttin kann auch zornig und unerbittlich sein, sie gibt Leben und sie nimmt Leben. Jay Kali Maa!

Von Andreas Weber verschenke ich übrigens seit kurzem das Buch “Sein und Teilen”.