Sterben lassen

Der notwendige Gegenpol zum Wachsen lassen ist das Sterben lassen. Denn, wie ich bereits im Beitrag jedes Wachstum endet spätestens mit dem Tod schrieb, ist jedes Leben ein endliches Gesamtwerk. Und dieser Pol ist in unserer Kultur massiv unterbelichtet, wenn nicht sogar ausgeblendet. Für den Bereich der Wirtschaft habe ich das schon in Das Hamsterrad als mentale Infrastruktur beschrieben:

Tatsächlicher Konsum erinnert uns immer wieder daran, dass das Konsumierte danach nicht mehr vorhanden ist. Man könnte sagen, das Konsumgut stirbt durch unseren Konsum & erinnert uns damit an die eigene Sterblichkeit.

Peter Carroll verdeutlicht in Psychonautik (Liber Null Teil II), dass Leben und Tod, Wachsen und Sterben zwei Pole eines Prozesses sind:

Leben und Tod sind ein einziges Phänomen, durch das sich die Lebenskraft ständig reinkarniert. Den Tod abzulehnen bedeutet auch, das Leben abzulehnen. Die Zellmechanismen, die das Leben ermöglichen, machen auch den Tod unausweichlich, essentiell und wünschenswert. Alle Religionen, die den Tod ablehnen oder leugnen, sind im Kern lebensfeindlich eingestellt. Fürchtet euch nicht, ihr wart und werdet sein Millionen von Dingen, alles, was ihr erleiden müßt, ist der Verlust der Erinnerung. Die sexuellen Aspekte des Gotts /der Göttin Baphomet werden stets betont, weil die Sexualität das Leben erzeugt und ein Maßstab für die Lebenskraft oder die Vitalität ist, wie immer sie auch ausgedrückt werden mag. Der Geist der Lebenskraft ist der Geist der dualen Ekstase, der Zeugung und des Wiederaufgesogenwerdens, des Sexus und des Todes. Schöner und schrecklicher Gott des schwebenden Falkens, Gott des emporschiebenden Keimes, Gott der vereinten Liebenden, Gott des wurmzerfressenen Kadavers, Gott der erschrockenen Hasen, Gott der wilden Jagd, die den Wald in wahnwitziger Freude durcheilt!

Schon in der Sandman-Comicreihe war Death mein Lieblingscharakter. Und mit dem Tod meiner Mutter ist dieses Jahr der Tod und das Sterben noch mal viel stärker in mein Leben gekommen.

Aktuell berührt mich das Lied Giving Up Everything von Natalie Merchant zutiefst. Darin findet sich die Überschrift wieder, denn jedes Sterben ist immer auch ein (sterben) Lassen. Es ist ein sowohl aktives als auch passives Geschehen. Der von mir neu entdeckte und hoch gelobte Wille hat nur begrenzten Einfluss auf das Sterben.

Wenn ich mit anderen Wesen bin, die gerade sterben, dann stirbt auch etwas von mir, denn wir sind nicht getrennt. Dein Sterben ist auch mein Sterben, und umgekehrt. Und zum Sterben gehört das Trauern, so wie zum Geborenwerden und Wachsen die Freude gehört.

Ein wesentlicher Aspekt des Hamsterrades ist, dass wir unsere eigene und die allgemeine Sterblichkeit verdrängen und die Gefühle, die damit zusammenhängen, und deshalb Altes nicht sterben lassen, sondern immer noch mehr Neues dazutun. Das geht noch über Trauma hinaus und betrifft uns alle, auch die nicht Traumatisierten. Oder vielleicht ist die Erkenntnis, sterben zu müssen, so erschütternd, dass sie traumatisieren kann?

Das Grundthema meines Blogs, das Vertrauen, erscheint so in einem anderen Licht. Wenn ich sicher sterben muss, worauf kann ich dann noch vertrauen? Doch gerade darauf: dass ich sterben werde. Dass mein Leben endlich ist.