Otto Scharmer, die Bewusstseinskrise und die Kinder

Im aktuellen Bankspiegel der GLS-Bank ist ein Beitrag von Otto Scharmer drin, wo er sehr komprimiert die Herausforderungen unserer Zeit beschreibt (auf 2 Seiten!). Er war anlässlich der GABV-Versammlung in Berlin. Er spricht davon, dass die gesellschaftliche Entwicklung bis heute von einem Bewusstsein geprägt ist, in dessen Zentrum das jeweilige Ego steht. Selbst die bisher neueste Stufe, die er Stakeholder-Bewusstsein nennt, hat noch nicht das Ganze im Blick, sondern versucht nur die vielen einzelnen Egos unter einen Hut zu bekommen. Was es jedoch heute dringend braucht, nennt er Öko-System-Bewusstsein. Das heißt, “dass ich nicht nur meinen eigenen Wohlstand und meine Lebensqualität maximiere, sondern auch diejenige aller meiner Partner und Mitgestalter”.

Basierend auf unserer Arbeit mit Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und anderen gesellschaftlichen Grup­pen sehen wir die größte Herausforderung für einen solchen Schritt in eine schöpferische Öko–System–Ökonomie in der Frage, wie wir den verschiedenen gesellschaftlichen Akteu­ren helfen können, ihr Ego–System–Bewusstsein loszulassen. Dabei hilft es, sich in die Perspektive des Anderen zu bege­ben. Wie das geht? In unserer Arbeit haben wir gelernt, dass dazu ein Prozess erforderlich ist, der die Öffnung des Ver­standes, des Herzens und des Willens ermöglicht: gemein­same Wahrnehmung und Willensbildung. Warum geschieht dies so selten? Weil der schwerste Schritt das Loslassen ist. Es bedeutet, eine Schwelle zu überschreiten, eine Welt loszulassen und eine andere Welt kommen zu las­sen, von der wir gar nicht wissen, ob sie überhaupt existiert.

Alternative Systeme und Konzepte bringen also nichts, solange nicht genügend Menschen sich der Notwendigkeit eines Wandels bewusst sind und auch mutig genug, sich in unbekannte Fahrwasser zu begeben. Gleichzeitig brauchen wir sie aber auch, damit der Wandel gelingen kann:

Auf das Bild des Eisbergs und die Krise der Gegenwart zurückkommend denke ich, dass drei revolutionäre Schritte erforderlich sind. Der erste Schritt betrifft eine Revolutionierung unseres ökonomischen Denkens dahingehend, dass wir die Kernkategorien der Ökonomie auf Basis des vorge­schlagenen Öko–System–Bewusstseins neu denken. […] Der zweite Schritt für diesen Umbruch zu einer Öko–Sys­tem–Ökonomie ist eine relationale Revolution, eine Transfor­mation unserer ökonomischen und kommunikativen Bezie­hungen. Wir müssen alte auf Manipulation zielende Kommunikationsformen abbauen und neue Räume für schöpferische Dialoge und gemeinsame Kreativität aufbauen, beispiels­weise zwischen Herstellern und Verbrauchern. Der dritte Schritt betrifft die Umwandlung unserer alten hierarchischen institutionellen Strukturen hin zur Kulti­vierung schöpferischer Felder von gleichberechtigter Kooperation.

Wie er in seinen sieben Akupunkturpunkten des sozialen Organismus (auch als PDF verfügbar) ausführt, dienen diese dazu, eine neue Infrastruktur für umfassenden gesellschaftlichen Wandel aufzubauen:

Die sieben Akupunkturpunkte haben eines gemeinsam: Jeder von ihnen unterstützt ein entscheidendes Glied bei der Bildung einer neuen Infrastruktur. Das Fehlen dieser Infrastruktur verhindert bisher, dass sich die vielen kleinen, schon existierenden Beispiele für den Fortschritt wirksam verbreiten. Eine neue, verbindende Infrastruktur des gemeinsamen Besinnens und des schöpferischen Hinhörens würde einen Ort schaffen, an dem sich die Pioniere aller sieben Akupunkturpunkte begegnen, einander zuhören und voneinander lernen könnten, das Gesamtbild aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen um sich beim Weg nach vorn zu unterstützen.

So sieht’s aus. Und einen wichtigen Punkt füge ich noch hinzu: Damit das Ganze wirklich ein dauerhafter, nachhaltiger Wandel werden kann, müssen unsere Kinder und wie wir sie behandeln im Mittelpunkt stehen. Wir Erwachsenen können nur erste, taumelnde Schritte in diese Richtung machen. Zu sehr sind wir schon verbogen, vermurkst, verkorkst. Was Otto Scharmer über die höhere Bildung schreibt:

Dies sind Fähigkeiten, die heute in jedem Beruf, in jedem Industriezweig und in allen Kulturen gebraucht werden. Und es sind Fähigkeiten, die heute leider auf keinem Campus gelernt werden können. Genau hier liegt heute der blinde Fleck höherer Bildung. Um das zu ändern, müssen wir uns von den meisten fachbezogenen Wissens-Kanons verabschieden – sie repräsentieren immer noch das Mittelalter mitten in unserer Zeit. Was würde dann bleiben? Nichts. Und genau da beginnt die Zukunft. Diese Leer-Stelle wäre der Ort von Möglichkeit, wo ein neues Lernen und eine neue Gestalt von Hochschule entstehen könnten.

gilt schon für Kindergarten und Grundschule. Und das verdient, als eigener achter Akupunkturpunkt gewürdigt zu werden: Freies, natürliches Aufwachsen von Kindern in einer Gemeinschaft, die sie in ihrer Entwicklung fördert. Protagonisten dieses Akupunkturpunkts habe ich im Beitrag über das Sudbury-Projekt in Leipzig sowie dem Folgebeitrag über Freies Kinderaufwachsen zahlreich erwähnt, hier nenne ich noch unerzogen, Hanne Vonier, Alfie Kohn und explizit noch einmal Gerald Hüther.

Ich schließe diesen Beitrag mit den Worten von Khalil Gibran:

Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, Denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen, Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen. Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern. Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden. Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit, und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen. Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein; Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.