Lernen im 21. Jahrhundert

Eben habe ich mir im Kino den Film Alphabet - Angst oder Liebe angesehen, den ich zum Anlass nehme, einen Beitrag zu schreiben, der mir schon seit 1-2 Wochen vorschwebt.

Übrigens habe ich das Wort “Bildung” in der Überschrift absichtlich vermieden und statt dessen “Lernen” geschrieben, denn Bildung ist üblicherweise der Versuch, jemand anderen zu bilden, während Lernen etwas ist, das mensch selber tut. Genau darum geht es hier, vom “gebildet werden” wieder hin zum Lernen zu kommen.

Ursprünglicher Anlass ist die Erkenntnis, dass ich ja nun auch wieder in einem Bildungssystem mitmache, bei dem es um Prüfungen & “individuelle Leistungen” geht. Und das ist genau das Problem.

Denn ein Bildungssystem, das Kooperation in Prüfungen verbietet, verhindert, dass Menschen genau das lernen bzw. üben, was die Menschheit im 21. Jahrhundert braucht, um zu überleben: Die Fähigkeit, Herausforderungen gemeinsam zu meistern, mit denen ein Mensch allein hoffnungslos überfordert ist.

Damit knüpfe ich an das an, was ich in meinem Beitrag über Big Data den verzweifelten Versuch, die Kontrolle zu behalten genannt habt. Und welch ein “Zufall” - vor gerade 6 Stunden ist bei der Wirtschaftswoche ein Artikel erschienen mit der Überschrift Der heroische Manager hat ausgedient. Denn ein Held, was das ja auf deutsch einfach heißt, ist vor allem erst mal eins: ein Einzelkämpfer. Und damit sollte er eigentlich im 21. Jahrhundert eine aussterbende Spezies sein. Leider sind wir davon noch weit entfernt.

Update vom 12.11.: Da hab ich doch glatt vergessen darauf hinzuweisen, dass Konkurrenz Mangel erzeugt, wo gar keiner ist. Das trifft natürlich in ganz besonderem Maße auf unser Bildungssystem mit seinen Zensuren zu. Einerseits nimmt die Fixierung auf “richtige” Antworten die Perspektive auf ungewöhnliche Lösungen, andererseits ergibt sich immer eine Rangliste, die den Anschein erweckt, diejenigen mit den besten Noten hätten auch die besten Lösungen. Dabei sind die Lösungen der anderen manchmal einfach so ungewöhnlich, dass sie durchs Raster fallen, dabei aber nicht minder sinnvoll & nützlich. Und die vorgegebenen Schubladen von Prüfungsfächern verhindern ihrerseits die volle Entfaltung aller SchülerInnen & StudentInnen. Im Zweifelsfall muss mensch sich ihr/sein eigenes Prüfungsfach erst kreieren. Oder wir hören der Einfachheit halber mit dem ganzen Prüfungsquatsch auf & widmen uns den wirklichen Herausforderungen des Lebens.

Was mir aber echt Hoffnung macht, ist, dass in dem Film Thomas Sattelberger, bis vor kurzem Personalchef bei der Deutschen Telekom (!), Sätze sagt wie “Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie ist eine der schlimmsten Entwicklungen unserer heutigen Zeit.”

Es sind eben nicht nur Freaks wie ich, denen klar ist, dass es nicht mehr so weitergeht wie bisher, sondern immer mehr Manager, auch Topmanager.

Doch wie Sattelberger auch sagt, braucht es ein starkes Rütteln an den verkrusteten Strukturen, um wirklich etwas zu ändern. Der Film zeigt am Beispiel eines aus der Statistik rausgerechneten Arbeitslosen, der für 8 € am Tag bei einer Securityfirma arbeitet, wie unser heutiges System massenweise Menschen und ihre Fähigkeiten einfach ignoriert & aussortiert. Welch eine grandiose Verschwendung von Potenzial!!

Im Industriezeitalter herrschte die Illusion, dass es dauerhaft funktionieren könnte, Menschen abzurichten (sie zu unter-richten), damit sie als Räder im großen Getriebe dienen. Unsere Welt ist aber kein Getriebe, sondern ein unfassbar komplexer Organismus, der im Großen wie im Kleinen auf dem Prinzip der Selbstorganisation beruht.

Daher ist jeder einzelne Mensch, jedes einzelne Wesen mit seinen einzigartigen Fähigkeiten eine Bereicherung für das Ganze, ein Aspekt des Ganzen, der sich in eben diesem Wesen entfalten will. Reichtum besteht gerade nicht im Mehr-desselben, sondern in immer größerer Vielfalt und Verschiedenheit.

Dabei bleibt übrigens das Leistungsprinzip und das Sich-an-etwas-messen nicht außen vor, es fällt lediglich das Vergleichen mit anderen weg. Das ist nämlich sinnlos, weil die ja eben andere sind & damit anders als ich. Ver-Gleichen führt zum An-Gleichen, zum Gleichmachen, und dabei wird der ganze Reichtum der Verschiedenheit zwischen den Vergleichsmaßstäben zerquetscht.

Das Schlusswort überlasse ich Pablo Pineda Ferrer, dem ersten Europäer mit Down-Syndrom, der einen Hochschulabschluss machen konnte:

Für mich gibt es zwei Konzepte: Das Konzept der Angst und das Konzept der Liebe. Und wenn wir bis jetzt mit dem Konzept der Angst gelebt haben, wird es Zeit, dieses zu verlassen.

Update vom 05.08.2014: In den Klausuren an der Uni gibt es rituell vorher die Ansage, dass “Betrugs- und Täuschungsversuche” entsprechend geahndet werden. Das meint zum einen Spickzettel u.ä., aber auch abschreiben, oder allgemeiner: Kooperation wird im Kontext unseres Bildungssystems als Betrug und Täuschung definiert. Das ist doch wohl krank, oder?!!