Die Corona-Krise ist eine Vertrauenskrise

Die Kernfrage der Lagerbildung in der Corona-Krise scheint mir letztlich die Frage zu sein, wie gefährlich SARS-CoV-2 und die davon ggf. ausgelöste Krankheit COVID-19 tatsächlich sind (wobei schon diese Formulierung Kritik von manchen Gruppen, die der Milieu-Theorie bzw. Terrain theory anhängen, hervorrufen wird). Davon hängt hauptsächlich ab, wovor jemand in erster Linie Angst hat in dieser Krise. Andere Faktoren sind die eigene wirtschaftliche Situation und auch eventuelle Vorerfahrungen mit Diktaturen (Stichwort DDR-Bürgerinnen).

Nun ist es so, dass bestimmt 99% der Bevölkerung, mich eingeschlossen, keine wirkliche Ahnung von Viren und Pandemien haben. Wir sind also darauf angewiesen, in der Regel indirekt Leuten zu vertrauen, die sich damit tatsächlich oder vermeintlich auskennen. Ich hatte an anderer Stelle schon erwähnt, dass ich zum einen über meinen dritten besten Freund und zum anderen über meine Schwester, die beide bei Sucharit Bhakdi studiert haben, dessen Einschätzung vertraue. Wäre ich mit der Cousine von Christian Drosten zusammen, wer weiss was ich dann von der ganzen Geschichte hielte.

In diesem Beitrag vertrete ich explizit nicht eine bestimmte Seite, sondern versuche von einer Metaperspektive aus zu erfassen, was eigentlich in unserer Gesellschaft gerade los ist. Den Anstoß gab Charles Eisensteins Essay From QAnon’s Dark Mirror, Hope, der auf dem früheren Essay Der Verschwörungs-Mythos aufbaut, letzteres ist eine deutsche Übersetzung.

Sein Hauptpunkt darin ist, dass (überdrehte) Verschwörungserzählungen wie QAnon deshalb so gedeihen können, weil Lügen und tatsächliche Verschwörungen unsere Wirtschaft und Politik prägen. Auch ich könnte an dieser Stelle Dutzende Beispiele aufzählen, was ich mir spare.

Eisenstein sagt nun, weil das so ist, schwindet das Vertrauen der Menschen in die große Erzählung unserer Gesellschaft, unserer Zivilisation.

Da ist einerseits was dran, andererseits kam mir beim Lesen seines neuesten Essays noch der Gedanke “wow, auch mir wird erst nach und nach bewusst, wie umfassend ich in unserer heutigen Gesellschaft vertrauen muss, um überhaupt in ihr leben zu können.” Das ist ein Bewusstseinsschritt, den nach meiner Beobachtung zunehmend mehr Menschen machen. Und dieses erweiterte Bewusstsein führt dazu, dass das erlebte Vertrauen erst mal abnimmt, weil viele neue Bereiche ins Bewusstsein kommen, in denen ich noch nicht von vornherein Vertrauen entwickelt habe. Oder anders ausgedrückt, wenn mir mein Nichtwissen in einem Bereich bewusst wird, sinkt in diesem Moment erst mal mein gesamtes Vertrauen.

Dass wir in aller Regel darauf angewiesen sind, anderen zu vertrauen, weil wir gar nicht die Ressourcen zu haben es eigenhändig zu überprüfen, hatte ich hier schon im Zusammenhang mit Anonymisierungs- und Verschlüsselungssoftware beschrieben. Auch die Verfechter von Blockchain behaupten, diese würde das Vertrauen zwischen Menschen überflüssig machen; dabei berücksichtigen sie nicht, dass ja der Programmcode jeder Blockchain auch von Menschen geschrieben wurde, denen dann alle anderen vertrauen müssen. Handelt es sich dabei um Open Source-Software, dann können zwar prinzipiell alle den Code überprüfen, faktisch sind dazu aber auch nur wenige Menschen in der Lage, denen dann wiederum alle anderen vertrauen müssen.

Kurzum: Um Vertrauen zu anderen Menschen kommen wir in menschlichen Gesellschaften nicht herum. Und die Corona-Krise stellt dieses Vertrauen gerade massiv auf die Probe. Diese Herausforderung gilt es zu meistern, für jede einzelne von uns & für uns alle zusammen. Das gehört zum erwachsen werden der Menschheit, von dem auch Charles Eisenstein immer wieder schreibt.

Nachtrag vom 04.02.2021: Marcus J. Ludwig stellt in einem Beitrag auch die Vertrauensfrage, kommt allerdings getreu dem Motto “Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser” zu dem Schluss, dass unbedingt Kohortenstudien notwendig sind (siehe dazu auch mein Beitrag Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast):

Es gibt in der ganzen verworrenen Corona-Situation letztlich nur zwei Fragen. […]

Die erste Frage ist die alles entscheidende Sachfrage, ich formuliere sie mal ganz plakativ: Wie schlimm ist das Virus und die von ihm ausgelöste Krankheit? Diese Frage und ihre Teilaspekte – wie ansteckend ist das Virus, wie hoch ist die Letalität, welche Folgeschäden zieht eine überstandene Erkrankung nach sich – kann immer noch niemand beantworten, aber jeder hat so seine gefühlsmäßige Einschätzung. Und die grundiert alle seine weiteren Argumente.

Siehe oben.

Das einzige, was uns hier weiterhelfen wird, sind Kohortenstudien, Längsschnittstudien, ein langfristiges Monitoring repräsentativer Bevölkerungsstichproben, auf Basis dessen wir zu einer verlässlichen, realistischen Beurteilung der Sachlage kommen. Eigentlich das kleine Einmaleins der Epidemiologie, wenn nicht des gesunden Menschenverstandes.

Die Forderung nach dieser epidemiologischen Grundlage muss jedes Mal erhoben werden, wenn jemand die Schultern zuckt und zugeben muss, dass er auf die obige Frage nach der „Schlimmheit“, der Gefährlichkeit, der Bedrohlichkeit keine präzise Antwort hat. Er könnte sie haben. Jeder Politiker, jeder Experte, jeder Berater, der zu dem Bekenntnis gezwungen wird – und Sie müssen und können ihn dazu zwingen –, dass er nichts Belastbares weiß, muss sich öffentlich verhalten zu diesem Skandal: dass er und seinesgleichen permanent tiefgreifende, lebensentscheidende, weltverändernde Maßnahmen treffen, für die sie keinerlei Faktenbasis vorweisen können. Jeder weiß (naja, eben nicht jeder), dass von den angeblich 50.000 deutschen Coronatoten nur ein kleiner Teil wirklich „an“ Corona gestorben ist. Jeder weiß, dass die wirkliche Zahl der Virus(fragment)träger viel höher ist als die täglich verkündete Zahl, dass es ein enormes Dunkelfeld gibt, und dass das Gerede von exakter Nachverfolgung von Infektionen völlig abwegig ist. Man könnte Licht in dieses Dunkel bringen. Sehr leicht sogar und zu vergleichsweise geringen Kosten. Dann wüssten wir, womit wir es zu tun haben. Offenbar will der größte Teil der Politiker und Wissenschaftler es nicht wissen.

Und deshalb ist die Corona-Krise bis zum heutigen Tag eben eine Vertrauenskrise, die vor allem durch eine Evidenzkrise hervorgerufen wird.

Selbst mit Kohortenstudien bleibt allerdings das grundsätzliche Problem, dass fast alle anderen Menschen den Wissenschaftlerinnen vertrauen müssen, die solche Studien durchführen. Damit müssen wir in unserer hochkomplexen Gesellschaft einfach leben.

Nachtrag vom 15.02.2021: Der Psychologe Klaus-Jürgen Bruder beschreibt das Problem in einem Interview, das zuerst in der Neuen Rheinischen Zeitung erschienen ist:

In einer unsicheren Situation gibt es Experten, die sagen: „höchstgefährlich!“. Und es gibt Experten, die sagen: „es ist vergleichbar mit anderen Krankheiten, die wir bisher ohne diese rigorosen Maßnahmen beherrschen konnten“, dann ist es eine Frage der Entscheidung welcher Seite ich glaube. Welcher Seite ich glauben soll, erfordert zusätzliche Informationen.

Und wenn ich diese Informationen nicht habe, muss ich mich für die Seite entscheiden, der ich schon vorher geglaubt habe, um mich auf diese Seite bewegen zu können. Wenn die Informationen über die Gefährlichkeit des Virus einander widersprechen und wenn ich mich danach für die Seite der Macht entscheide, kann man das Autoritarismus nennen.

Und weiter:

die „Verweigerer“ folgen nicht dem Autoritarismus. Sie sehen: es gibt zwei gegensätzliche Positionen, die sie herausfordern, selbst zu denken und ihrem eigenen Gewissen entsprechend zu entscheiden. Für sie ist es ausschlaggebend, dass sie nicht überzeugt sind, weil es Gegenmeinungen gibt, die die Gefahr sehr viel geringer einschätzen als behauptet wird und die die Wirksamkeit der Maßnahmen, die Gefährlichkeit der Maßnahmen, miteinbeziehen. Die gehen also anders ran an die Sache, nicht autoritär. Sie vertrauen nicht einfach den offiziellen Behauptungen und Vorschriften.

Das erklärt auch, warum sich die gesellschaftliche Spaltung durch die Unsicherheit noch verschärft. Psychologisch ausgedrückt: Die Corona-Situation verstärkt den confirmation bias der Menschen. Dazu findet das Ganze auch noch weitgehend in den Filterblasen der sozialen Medien statt, die ohnehin schon diese Tendenz befeuern.

Nachtrag vom 16.02.: Beim Hören der 2. Folge des Podcasts machtmenschmaschine wurde ich auf die Soziale Epistemologie aufmerksam. Diese beschäftigt sich mit dem oben beschriebenen Phänomen, dass wir auch für unsere eigene Erkenntnis zwingend auf die Erkenntnisse von anderen Menschen angewiesen sind. Anders ausgedrückt, Vertrauen ist für unsere eigene Erkenntnis unverzichtbar.