Rudolf-Bahro-Symposium I

Ich bin schon wieder in Berlin, & zwar auch schon wieder zu einer Tagung. Dieses Wochenende findet an der Humboldt-Universität ein Rudolf-Bahro-Symposium statt. Darauf wurde ich im LebensGut Pommritz aufmerksam, das ja auf Initiative von Bahro gegründet wurde & auf seinen Ideen fusst.

Laut Maik Hosang, der den ersten Teil der Veranstaltung moderierte, hat Bahro frühe Ideen von Karl Marx weitergedacht. Dessen Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 werde ich bei Gelegenheit noch einmal lesen, da steckt nämlich einiges an Weisheit drin.

Das zentrale Stichwort des Symposiums, das auch Bahros Denken bestimmte, lautet Integration.

Übrigens: Der ursprünglich geplante Vortrag von Michael Jäger fiel zwar aus, er hat jedoch in der Wochenzeitung Freitag einen Artikel geschrieben: Reise nach innen. Ich kommentiere im Folgenden nur die Vorträge, die ich besonders interessant fand.

Drei Stationen in Bahros Leben

  • 1968: Bereits 1967 schrieb Bahro einen Brief an Walter Ulbricht, dem er vorschlug, den ArbeiterInnen legislative Macht zu geben. Als Vorbild diente ihm dafür die Arbeiterselbstverwaltung in Titos Jugoslawien. Natürlich wurde sein Vorschlag nicht in die Tat umgesetzt. Als Reaktion auf den Prager Frühling begann er, Die Alternative zu schreiben. Eine erste Fassung des Buches stellte er 1973 fertig & verteilte sieben Exemplare an RegimekritikerInnen. Wegen der Arbeit am Buch musste Bahro seine Familie stark vernachlässigen.
  • 1977: Die Alternative erscheint. Das Buch stellt eine Absage an das Fortschritts- & Wachstumsmodell dar, welches in Ost und West vorherrschte. Kaum war das Buch in der BRD erschienen, da wurde Bahro auch schon verhaftet. 1979 kam er durch eine Amnestie frei & wurde in die BRD abgeschoben. Dort war er einer der Gründer der Grünen Partei. 1984 richtete er schwere Vorwürfe von “Machtwahn” an die Grüne Parteiführung. 1985 trat er schliesslich aus der Partei wieder aus.
  • 1989: Auf dem Sonderparteitag der SED, welcher zugleich der Gründungsparteitag der PDS war, hielt Bahro eine Rede. Allerdings bekam er darauf wenig Resonanz. In der Folge beschäftigte er sich mit der Frage nach den Kräften der Selbszerstörung (unserer Gesellschaft wie auch der Einzelnen).

Neurobiologische Argumente für eine liebevolle Beziehungskultur

Den Vortrag von Gerald Hüther fand ich von allen am spannendsten. Hüther ist Hirnforscher & referierte die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforschung. Vom etwa 100 Jahre alten Glauben des Determinismus hat die moderne Forschung kaum noch etwas übrig gelassen. Er führt das Humangenomprojekt (die “Entschlüsselung des menschlichen Genoms”) als grösstmögliche Enttäuschung für Deterministen an. Denn der genetische Code ist zwar nun entschlüsselt, wie darin aber die Erb_informationen_ tatsächlich gespeichert, übertragen & in biologische Substanz umgesetzt werden ist noch weitgehend unverstanden. Hüthers Erkenntnnis daraus: Der Mensch ist ein hochgradig komplexes System. Da gibt es keine einfachen, festen Programme. Der neurobiologische Fachbegriff dazu ist Nutzungsabhängige Plastizität.

Was hat das nun mit liebevollen Beziehungen zu tun? Nun, ein Beispiel: deutsche Eltern reden heutzutage durchschnittlich nur noch acht Minuten am Tag mit ihren Kindern!!!! & wenn das Gehirn so wenige sprachliche Anregungen bekommt, entwickelt es nur rudimentäre Sprachfähigkeiten.

Es geht also darum, dass wir Verantwortung für unser Gehirn übernehmen, wie Hüther es ausdrückt. Erfahrungen strukturieren das Gehirn, am wichtigsten sind Beziehungserfahrungen!

Als nächstes beschrieb Hüther das Prinzip, nach dem sich unser Gehirn entwickelt: Aus einem Überangebot - sowohl an Zellen wie auch an Synapsen - wird nicht Benutztes mit der Zeit wieder aussortiert. Dieser Vorgang nennt sich ‘pruning’. Die Natur wendet also das Prinzip der Fülle an, & zwar in ganz vielen Bereichen, nicht bloss bei der Gehirnentwicklung.

Aus all dem ergibt sich: Wir Menschen sind zum allergrössten Teil Kulturwesen, nur noch ganz wenig Naturwesen!

Das Phänomen der Spiegelneuronen erklärt unser Lernen durch Imitation: Beim Beobachten von Verhalten wird das gleiche neuronale Muster aktiviert wie wenn ich mich selber so verhalte. Dies wurde erstmals entdeckt bei Bananen schälenden Schimpansen.

Ungewöhnliche Ereignisse reizen das Limbische System, & das führt zu emotionaler Erregung. In diesem Zustand verankern sich Eindrücke besonders stark. Mir fiel dazu ein, dass beim NLP auch mit Ankern gearbeitet wird. Die stärksten Reize sind dabei Beziehungserfahrungen.

Für mich ergibt sich daraus ganz speziell die Schlussfolgerung: Aufwachsen & Leben in Gemeinschaft fördert die Gehirnentwicklung! Da kann mensch nämlich sehr vielfältige Beziehungserfahrungen machen.

Nun klärte Gerald Hüther auf, was es mit den immer wieder beobachteten Unterschieden zwischen Männer- & Frauengehirnen auf sich hat: Diese Unterschiede entstehen durch unterschiedliche Sozialisation! Anders als oft behauptet belegen diese neurologischen Untersuchungen also gerade nicht angeborene Unterschiede zwischen Männern & Frauen!

Übrigens erklärt sich durch solche neurobiologischen Vorgänge auch die Bestätigungstendenz.

Der nächste zentrale Punkt in Hüthers Vortrag war die Angst - die fördert nämlich starre Gehirnstrukturen. Verbreitete Strategien gegen Angst sind Macht & Reichtum/sozialer Status sowie Ablenkung (Fernsehen, Essen, aber auch Hungern). Es gibt natürlich noch viele weitere Strategien, aber alle zielen darauf ab, die Angst zu überspielen. Nun kommt endlich der Bezug zu Bahro, denn der sagte: Angst ist besiegbar durch Vertrauen. Das lässt sich sogar tomografisch nachweisen! Kreativität ist nur ohne Angst & Druck möglich. Deshalb kommen Wissenschaftlern & Künstlern die kreativsten Einfälle oft kurz nach dem Aufwachen, wenn das Gehirn noch unbelastet von den Anforderungen des Tages ist.

Als Fazit formulierte Hüther:

Alles was die Beziehungsfähigkeit fördert, ist gut für das Gehirn & für die Gesellschaft!

Gerechtigkeit oder Barbarei

Michael Brie von der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigte sich mit Bahros Verständnis von Kommunismus. Übrigens tauchte der Begriff “Kommunist” das erste Mal auf als Kritik an den Hutterern!

Bahros Kommunismus hatte recht wenig mit dem klassischen Verständnis davon zu tun:

  • Das Mensch-Natur-Verhältnis war ihm wichtiger als das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Damit kann allerdings die Ausbeutung der einen Menschen durch die anderen legitimiert werden, wenn es “die Natur” erfordert.
  • Selbstversorgung in kleinen Gemeinschaften (er nannte sie “weltliche Klöster”). Damit knüpfte er an die Vorstellung vom “Urkommunismus” an. Das LebensGut Pommritz ist ein Modellprojekt, das diese Idee in die Praxis umsetzen soll.
  • Errichtung einer absoluten Autorität (“unsichtbare Kirche”)

Bahro orientiert sich an Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft (Unterordnung der Einzelnen) einerseits, Gesellschaft (andere Menschen als Mittel für eigene Interessen nutzen) andererseits. Bei ihm verbindet sich das auf eigenwillige Art & Weise: JedeR schliesst einen individuellen “Vertrag mit Gott”, anders als die Gesellschaft, in der Menschen miteinander Verträge abschliessen. Bahro schwebte eine persönliche & kollektive Reifung zu bewusster frei gewählter Gemeinschaft vor. Dazu gibt es übrigens einen Text der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation.

Rudolf Bahro hatte ein widersprüchliches Verhältnis zur Demokratie. Einerseits hielt er die Tyrannis (unter bestimmten Umständen) für notwendig, andererseits strebte er einen freiheitlichen Kommunismus als Ideal an.

Integration durch Differenzierung

Johannes Heinrichs hatte nach Bahros Tod bis zu dessen Schliessung den Lehrstuhl für Sozialökologie an der Humboldt-Universität inne. In seinem Vortrag behandelte er das Prinzip der Evolution: Integration duch Differenzierung. Im Fall der biologischen Evolution sind es Zellen, die zunehmend differenzierte Funktionen wahrnehmen & in einem Gesamtorganismus integriert werden. Integration & Differenzierung entwickeln sich in der Evolution in einem dialektischen Verhältnis. Die Persönlichkeitsentwicklung gliedert Heinrichs in vier Reflexionsstufen des menschlichen Bewusstseins. Aus den Reflexions_beziehungen_ der verschiedenen Stufen geht bei ihm das Soziale hervor, das ebenfalls in vier Stufen gegliedert ist:

  1. Werte-/Legitimationssystem: metakommunikatives Handeln
  2. Kulturelles System: kommunikatives Handeln
  3. Pollitisches System: strategisches Handeln
  4. Wirtschaftssystem: sachbezogenes Handeln

In dieser Aufzählung ist die Rangfolge der vier Systeme schon enthalten; an oberster Stelle stehen die Werte, ganz unten befindet sich die Wirtschaft. Damit adressiert die Heinrichssche Viergliederung die beiden Hauptprobleme der heutigen Politik: einerseits die strukturelle Unsachlichkeit auf Grund des Parteiensystems, andererseits die Dominanz der Wirtschaft in allen Gebieten.

Mir fiel zur Integration durch Differenzierung ein, dass das ja die Methode zur Reduktion von Komplexität ist. Niklas Luhmann lässt grüssen.

Rudolf Bahro lehnte Heinrichs’ Ansatz ab, er bezeichnete das Prinzip der Reflexion als “krankmachend”. Heinrichs zitierte ihn weiterhin:

Die Struktur der Moderne ist eine prinzipiell ahumane Veranstaltung.

Darin zeigt sich beispielhaft Bahros Ablehung der modernen Gessellschaft, die er als Megamaschine bezeichnet.

Rudolf Bahro – ein Mystiker?

Friedrich Sixel knüpfte hier gleich an & stellte fest, dass in Rudolf Bahro die Natur als das alles Vereinende auftritt. Damit vertritt Bahro eine monistische Auffassung. Darin liegt die Gefahr, mit “Natur” ungerechte Zuschreibungen zu legitimieren. Denn was Natur ist, definieren immer Menschen in einer bestimmten Kultur. Bahro spricht viel von der inneren Natur & erklärt auch was er darunter versteht: die eigenen Sinne. Sixel führt nun Goethes Farbenlehre als Illustration für diesen Denkansatz an. Goethe verstand sie als Gegenentwurf zu Newtons mechanistischer Farbenlehre. Bahro teilt Goethes erlebenden Wissenschaftsbegriff, der den Menshcen mit seinem Verstand als Naturwesen begreift. Das unterschlägt allerdings, dass der Verstand sich irren kann, auch wenn er noch so naturgegeben ist. Die Natur kann sich eben auch irren & tut das immer wieder! Goethe verwendet den wertenden Code wahr/falsch für wissenschaftliche Unterscheidungen. Newton hingegen setzt auf den wertfreien Code zutreffend/unzutreffend. Damit klammert er den forschenden, experimentelle Ergebnisse wahrnehmenden Menschen aus.

Nun verstieg sich Sixel zu der Behauptung “Beim hypothetisierenden Denken nimmt der Mensch Schaden”. Da frage ich mich doch, woher nimmt er dann noch die Legitimation, Wissenschaft zu betreiben. Denn auch Goethe hat ja Hypothesen aufgestellt, um zu seiner Farbenlehre zu kommen.

Bahro geht aus von der “seienden Natur” (ein phänomenologischer Ansatz also). Dem halte ich entgegen: Wir sehen nur, was wir glauben - Denken geht dem Wahrnehmen voraus! Ich oute mich also hiermit als radikaler Konstruktivist.

Podiumsdiskussion

Von der Podiumsdiskussion nur wenige Fragmente. Bahro verstand sich nicht als Aussteiger, er konzentrierte sich aufs radikale Denken.

Gerald Hüther nannte zwei ganz tiefe Grunderfahrungen aus der Kindheit:

  • dass ich über mich selbst hinauswachsen kann
  • dass ich verbunden bin

Daran erinnert mensch sich oft erst in Krisen wieder.