Fallstricke der Eso-Szene & warum spirituelle Menschen dennoch politisch sein können & sollen

Das ist vermutlich bis auf Weiteres der letzte Beitrag, der sich kritisch & skeptisch mit New Age/Esoterik/Spiritualität befasst. Unter dem Strich lobe ich die Spiritualität! :-D Quelle ist in erster Linie das Buch Über alles in der Welt. Esoterik und Leitkultur von Claudia Barth, erschienen im Alibri Verlag (wie auch das Sockenfressende Monster in der Waschmaschine).

Ihre Haupt-Kritik fasst sie besonders kompakt zusammen in folgendem Kommentar zu Clarissa Pinkola Estés, der Autorin des Bestsellers Die Wolfsfrau:

In hegemonialem Wohlstandsdenken verfangen, ignoriert sie die Nöte von Millionen Frauen der Welt, deren Alltag aus Armut, Hunger und Krieg besteht, und die dringend auf eine Änderung der materiellen Verhältnisse angewiesen sind. Mit sattem Bauch lässt es sich einfach auf die Suche nach dem inneren “Heil-Sein” gehen, doch für den Grossteil der Menschheit gilt noch immer das Dilemma: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

(Zur Kritik an der “esoterischen Wende der Frauenbewegung” siehe auch Die mit der Wolfsfrau tanzen.)

Diese Kritik sitzt. Ich habe mir zum Kriterium für Weltanschauungen gemacht: Kann diese Weltanschauung als Herrschaftsideologie benutzt werden? & konkreter: Zu welchem Handeln bringt mich diese Weltanschauung angesichts von Leid? Nur was sich nicht als Herrschaftsideologie benutzen lässt & was nicht dazu führt, dass ich leidende Wesen ihrem Schicksal überlasse, geht als emanzipatorische Weltanschauung durch. Ich benutze dieses Kriterium praktisch als “ethisches Ockhams Rasiermesser”. Der Glaube an Karma ist dabei schon durchgefallen. Besonders krass finde ich dazu die Äusserungen von Thorwald Dethlefsen. Ich zitiere aus dem Buch von Colin Goldner:

Selbst ein Mörder könne seine Tat “ausschliesslich nur an einem Menschen begehen, der inhaltlich für ein solches Ereignis die Bereitschaft mitbringt. (…) Was das Opfer betrifft, so ist sub specie aeternitatis [unter dem Blickwinkel der Ewigkeit, C.G.] betrachtet, ‘alles in Ordnung’; es suchte eine Todessituation und fand sie, indem es einen anderen Menschen zur Schicksalsverwirklichung benützte. Dieser andere mensch, der Mörder, hat mit der Tat seinem Opfer ’einen Gefallen erwiesen’. (…) Jeder gebraucht zur Verwirklichung seines eigenen Schicksals fast immer andere Menschen, denen er meist, statt dankbar zu sein, Schuld zuschiebt.” (Dethlefsen, Thorwald: Das Leben nach dem Leben: Gespräche mit Wiedergeborenen. München, 1974)

Herrschaftsideologie? Herrschaftsideologie! & bekanntlich hat die Vorstellung des “karmischen Kontos” jahrtausendelang das indische Kastensystem ideologisch gestützt.

Dass die Kontinuität der Verbindung von esoterischem mit rechtem Gedankengut ungebrochen ist, zeigt exemplarisch das Thule-Seminar. Mit dieser Thematik beschäftigt sich - aus der Perspektive der Neuheiden - der Rabenclan e.V., es lohnt sich in deren Webseiten zu stöbern.

Übrigens werde ich bei Gelegenheit mal genauer in das Buch “Logik der Rettung” von Rudolf Bahro reinschauen. Was ich da an Zitaten gelesen habe, qualifiziert Bahro als richtig heftigen Ökofaschisten.

Ebenfalls bekommt der Dalai Lama & mit ihm der gesamte tibetische Klerus sein Fett weg. Wikipedia schreibt über Tibet:

Das traditionelle Tibet vor der chinesischen Annektion glich in vielen Aspekten dem religiös dominierten Mittelalter in Europa. Die Regierungsform war Feudalismus, in dem eine Oligarchie aus Adel und Klerus (Lamas) über die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung herrschte, die zum Großteil leibeigene Bauern waren. Ebenso war die gesamte Infrastruktur des Landes extrem zurückgeblieben und stark reformbedürftig (so bauten beispielsweise erst die Chinesen das erste wirkliche Krankenhaus in ganz Tibet). Auch wurde Tibet durch den Dalai Lama rigoros gegen Einflüsse von außen abgeschottet. Die Tibeter sollten kein fremdes Gedankengut kennenlernen.

Davon dass es dem tibetischen Volk vor der (Re-)Annektion durch China 1951 gut ging, kann also keine Rede sein. Insofern fragt sich auch, ob es den TibeterInnen in einem “Free Tibet” lamaistischer Prägung besser ginge als heute. Zum Dalai Lama & dem tibetischen Buddhismus habe ich drei deutschsprachige kritische Seiten gefunden: Ein ungeheures Lächeln, Tantra - Tibetischer Buddhismus sowie Kritische und Kreative Kultur Debatte.

Als letzte umfangreiche Quelle für Kritik an esoterischem Denken nenne ich das Buch Die Götter des New Age - Im Schnittpunkt von “Neuem Denken”, Faschismus und Romantik von Peter Kratz.


Nach all der Kritik nun komme ich zu all dem Guten, das eine spirituelle Weltsicht bewirken kann!!! (Ja genau Ihr lieben Linken, das hier geht an Euch ;-) Dazu empfehle ich zuallererst den Artikel Für eine politisch aktive Spiritualität von Starhawk. Sie wendet sich darin selber gegen Tendenzen, ein spirituelles Weltbild als Rückzug aus der Welt zu nutzen. Ausserdem gehören Konflikte zu ihrem spirituellen Weltbild fest mit dazu. Mich stört auch, dass viele “Friede, Freude, Eierkuchen”-Spiris bei Konflikten lieber nichts hören, nichts sehen & nichts sagen wollen. Drei Affen

Auch mein alter Text Was ist eigentlich “Politik”? redet eben nicht dem Rückzug ins Private das Wort, sondern politisiert im Gegensatz sogar das vermeintlich Private. “Das Private ist politisch” war ja schon ein Slogan der Frauenbewegung. Die von linken KritikerInnen viel gescholtene “spirituelle Rückbindung” gibt mir dabei persönlich Kraft für mein politisches Engagement. Ein Beispiel dafür: Wenn ich für meine politische Überzeugung ins Gefängnis gehe, wie das Thoreau tat oder erst recht Nelson Mandela, der 16 Jahre lang inhaftiert war - was nützt mir dann in der Gefängniszelle meine politische Überzeugung & mein rationales Denken? Daraus kann ich nicht die Kraft schöpfen, die ich brauche, um nicht als gebrochener Mensch den Knast wieder zu verlassen. Dafür brauche ich Spiritualität. Oder wenn ich einer bis auf die Zähne bewaffneten Polizeistreitmacht gegenüberstehe & meinem Grundsatz der Gewaltfreiheit treu bleiben will, hilft mir die Verbindung mit dem unverrückbaren Kern der Liebe in mir. Rein verstandesmässiges Denken kommt da nicht hin. Wenn ich aus dieser spirituellen Gewissheit handle, bewirkt das etwas in der Welt. Durch spirituelle Praktiken & Achtsamkeit im ganzen Leben erfahre ich immer stärker, dass mein menschlicher Geist frei ist. Der menschliche Geist ist frei! Ihr könnt mich mit gesellschaftlichem Druck, körperlicher Gewalt oder Waffen bedrohen, könnt mich einsperren & mit mir tun was ihr wollt - Ich bin ein freier Mensch! Das ist eine unverrückbare Tatsache. Nur durch Denken oder politisch-intellektuelle Debatten hätte ich zu dieser Gewissheit aber nicht kommen können. Denn das Wesensmerkmal der Vernunft ist das Zweifeln.

Ich habe mir über diese Zusammenhänge schon seit langem Gedanken gemacht & im Jahr 2001 zwei Fassungen meines persönlichen Revolutionsmanifests geschrieben: ratio et spiritus (dieser Text war stark an die BüSo gerichtet) sowie ¡Viva la revolución! anderthalb Monate später.

Als persönliches Zeugnis habe ich hier in meinem Blog den Bericht vom Zen-Retreat im Konzentrationslager Auschwitz/Birkenau veröffentlicht. Im Buddhanetz gibt es einen Bericht eines anderen Retreats: Auschwitz in uns. Die Peacemaker Community veranstaltet so etwas jährlich. Engagierte BuddhistInnen tun so etwas, um ihr Mitgefühl zu stärken, sie “trainieren” es regelrecht. Claude AnShin Thomas betont in seinen Vorträgen immer wieder “We are not separate” - “wir sind nicht getrennt”, nicht von anderen Menschen & auch nicht vom Rest der Welt. Das heisst aber auch, alles was auf der Welt geschieht, geht uns etwas an. Es sollte uns nicht kalt lassen, wenn irgendwo Lebewesen leiden. Alles in allem schliessen sich eine spirituelle Weltsicht & emanzipatorische Politik machen in keinster Weise gegenseitig aus, sondern können sich sogar wunderbar ergänzen. Ich bin also kurz gesagt ein spiritueller Anarchist!