Das Amt des Narren als Korrektiv innerhalb von Gemeinschaften aller Art

Beim Nachdenken über die Frage: Wie können Menschen in Gemeinschaft einander darin unterstützen, nicht in ihrem persönlichen Wachstum stehen zu bleiben? fielen mir die Hofnarren des Mittelalters ein. Sie genossen Narrenfreiheit & durften alles ungestraft aussprechen & gegen jegliche Tabus verstossen. Denn sie waren ja Narren & wurden – offiziell jedenfalls – nicht ernst genommen. Damit übernahmen die Narren eine wichtige Funktion: Sie hielten den Menschen den Spiegel vor, zeigten die Schwachstellen Einzelner & der ganzen Gesellschaft auf. Das auf eine Weise, die niemandem direkt weh tat. Eine solche Funktion übernimmt in Gemeinschaften z.T. die Supervision, wie sie in Jahnishausen & in der Kulturfabrik Mittelherwigsdorf regelmässig genutzt wird. Mir schwebt jedoch die Rolle des Gemeinschafts-Narren als feste Einrichtung vor, jeweils einen Monat lang übernimmt ein Mitglied der Gemeinschaft diese Funktion, dann meldet sich jemand anderes. Alle paar Monate kann & sollte eine aussenstehende Person als Narr der Gemeinschaft den Spiegel vorhalten. Meist sollte es jedoch ein Gemeinschaftsmitglied sein, weil diese die Schattenseiten der Gemeinschaft & ihrer BewohnerInnen oft besser kennen als Fremde. Andererseits ist ein Blick von ganz aussen auch nötig, weil jedes System einen blinden Fleck hat, den es selbst nicht wahrnimmt. Bei Gemeinschaften wechselt dieser blinde Fleck natürlich ständig.

Ob es nun die Figur des Narren ist oder eine gleichwertige Einrichtung, ich denke, jede Gruppe von Menschen braucht etwas in der Art, wenn sie sich nicht in ihren Rollen & Selbstbildern bequem einrichten will. Das Forum allein reicht nach meiner Einschätzung dafür nicht aus. Auch eine Gemeinschaft, die regelmässig Forum macht & deren Mitglieder sich auf diese Weise füreinander transparent machen, kann in Routine verfallen. Forumsauftritte können zu Selbstinszenierungen verkommen, wenn das alle so machen & sich damit zufrieden geben. Natürlich ist es einfacher & mit viel weniger Aufwand verbunden, die Inszenierungen der anderen für bare Münze zu nehmen. Wer dort nachhakt, öffnet gelegentlich die Büchse der Pandora.

Menschen in Gemeinschaft, die die Büchse der Pandora öffnen wollen & keine Angst vor gruppendynamischen Prozessen wie auch vor den Abgründen der eigenen Seele haben, können die Einrichtung des Gemeinschafts-Narren gut gebrauchen. Dabei kann der Narr genausogut auch kritisieren, dass sich die Gemeinschaft gerade in gruppendynamischen Prozessen verzettelt. Die Aufgabe des Narren ist, den advocatus diaboli zu spielen, den permanenten Gegenspieler, “die Kraft, die stets verneint” wie es Goethe seinem Mephistopheles in den Mund legt. Dazu muss der Narr in erster Linie mutig sein. Wenn die Rolle in der Gemeinschaft klar akzeptiert ist, fällt das wegen der Narrenfreiheit leichter. Wir können dabei an ein sehr altes kulturelles Muster anknüpfen. Berühmte Narren wie Till Eulenspiegel geniessen heute – mit genügend zeitlichem Abstand – einen guten Ruf als Menschen, die die Torheiten ihrer Zeit durchschaut & öffentlich dargestellt haben. Denn die eigentlichen Narren sind diejenigen, die vom Hofnarren durch den Kakao gezogen werden.

Obwohl ich die ganze Zeit von “dem Narren” geschrieben habe, kann natürlich eine Närrin genau so gut diese Aufgabe übernehmen.

Als Anregung zähle ich einige mythologische Narrengestalten auf: im Indianischen ist Coyote der Trickster, in der nordischen Sagenwelt ist es Loki, in der Faust-Sage Mephisto. Der Wikipedia-Artikel verweist auf eine ganze Liste.

Nachtrag vom 22.05.2017: Siehe den Artikel Über Narren, Alleskönner, Mütter und Reviertiere von Klaus Eidenschink.

Im Mittelalter durfte der Narr am Hofe des Königs demselben Wahrheiten sagen, die anderen Personen auszusprechen den Kopf gekostet hätte. Diese Rolle war institutionalisiert, weil man um die Abschottungsmechanismen wußte, die den König von der Wirklichkeit im Volk zu isolieren drohten.