Alternative Fakten

Als Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway den Begriff Alternative Fakten prägte, hat sie eine gefährliche Entwicklung in Gang gesetzt, die sich in meiner Wahrnehmung seither beschleunigt.

Weshalb ich mich dabei gerade auf die Alternativen Fakten beziehe und nicht auf Fake News, macht die Abgrenzung im Wikipedia-Artikel deutlich:

Bei Fake News ist nach Hanna Steinharter auch der Autor selbst von Anfang an davon überzeugt, dass es sich um eine Lüge handelt, während der Autor von alternativen Fakten an das glaubt, was er sagt. Außerdem haben alternative Fakten wenigstens einen minimalen Anknüpfungspunkt in der Realität (ein Fakt), um den herum sich der Autor seine eigene Realität aufbaut. Somit seien alternative Fakten in Wirklichkeit nur Wunschvorstellungen des Autors.

Just dieses Phänomen greift massiv um sich, während Fake News im Grunde nur ein neudeutsches Wort für Lügengeschichten ist. Das Fiese an alternativen Fakten ist, dass die Leute selber dran glauben. Und das führt dazu, dass die Konsensrealität in mehrere Teile auseinanderbricht, welche zunehmend auseinanderdriften.

Ausgelöst wurde dieser Blogbeitrag durch einen Post in meinem Telegram-Kanal, in dem ich schrieb

Bezüglich dieser beiden Sachfragen [zu Corona und den Impfungen] haben sich 2 völlig entgegengesetzte Lager der Weltwahrnehmung gebildet. Und weil die Wahrnehmung schon so auseinanderklafft, können wir durchaus davon ausgehen, dass beide Seiten eigentlich nur das Beste wollen - sie können aber eben nicht beide gleichzeitig Recht haben.

Ich sehe also – jedenfalls beim Gros der Bevölkerung – keine böse Absicht am Werk, sondern konträre Weltwahrnehmungen, die bei gleicher guter Absicht zu entgegengesetzten Schlüssen führen.

Ausgangspunkt für diesen Beitrag bei Telegram war wiederum ein früherer Beitrag dort, in dem ich die Möglichkeit eines Dialoges zwischen diesen entgegengesetzten Weltwahrnehmungen schwinden sehe. Wie ich oben schon schrieb – die zerbrochenen Teile der Konsensrealität scheinen auseinanderzudriften.

Ich habe keinen blassen Schimmer, wo uns das hinführt. Es ist ja schon unklar, wen ich mit uns überhaupt meine…

An anderer Stelle sprach ich hier im Blog schon von Geburtswehen der Menschheit und mit Bezug auf Robert Anton Wilson von der Kapelle der Gefahren. Da stecken wir definitiv drin.

Nun hat Charles Eisenstein gerade einen Artikel The Human Family veröffentlicht und stößt darin ins gleiche Horn, in das auch Daniele Ganser mit der Menschheitsfamilie immer stößt. Für mich fühlt sich das immer noch sehr utopisch an, mit dem Blick auf die kriegerische Geschichte der Menschheit der letzten Jahrtausende. Da kann ich als Kriegsenkel ja wahrhaftig ein Lied von singen.

Dennoch möchte ich mit diesem hoffnungsvollen Ausblick von Charles Eisenstein schließen:

I wonder what the human condition would be if we all remembered how precious we each are as members of the human family, first and foremost. There would still be disagreements, but not warring opinion-tribes each armoring their narratives against all challenge. People would much more easily release their opinions when their identity, self-image, and acceptance did not ride on them. […]
What would our political landscape look like infused with the common understanding that we are all one of us? That we are all family? It sounds like an impossible ideal, wishful thinking, a fantasy. It isn’t. It is something each of us can practice right away personally, and collectively it is a social phase-transition that has been waiting to happen for a long time. Once it was foretold as the universal brotherhood of man. That’s the right spirit, if only half the population. It is awakening to our kinship with each other and all life. I call it the Age of Reunion. We know what the next step is, each of us. It is letting go of grudges. It is letting go of self-righteousness. It is standing in reverence for each other.

Nachtrag vom 6.12.: Mich erreichte die Kritik, dass ich die Rolle von Kellyanne Conway und Donald Trump zu sehr betone. Das stimmt – sie hat eine bereits vorhandene Strömung lediglich benannt, allerdings auch gezielt vorangetrieben. Dennoch lag das Ganze sozusagen schon in der Luft.

Der Beitrag Robert Anton Wilsons Rezept zum Ausbruch aus der Filterblase ist durch viele Nachträge zu einem der längsten meines Blogs geworden, er zeigt dabei auch, welch seltsame Blüten Trumps Wahlkampf getrieben hat – Stichwort Pepe the frog…

Nachtrag vom 09.01.2022: Heute ist mir erst aufgegangen, dass Charles Eisenstein das, was ich hier beschreibe, schon im Mai 2019 unter dem Titel The Polarization Trap diagnostiziert hat. Direkt im ersten Absatz schreibt er

As commonly recognized, the public is split into irreconcilable political factions who disagree not only on the interpretation of events, but on what events even took place. They have seemingly separated into two disjoint realities, each with its own facts, authorities, histories, and narratives.

Ebenso hat er damals schon diagnostiziert, dass die polarisierten Menschen der jeweils anderen Gruppe unterstellen, von Dunkelmächten manipuliert zu werden:

In this polarized environment, each side attributes the problem of polarization to the other side’s descent into unreason, having fallen victim to an evil, manipulating power.

Außerdem weist Eisenstein darauf hin, dass mäßigende Stimmen und differenzierte Betrachtungsweisen in einer solchen Situation Anfeindungen von beiden “Lagern” nach sich ziehen:

In a polarized environment such as a war, the pacifist is more unpopular than the enemy. The enemy is necessary to prop up one’s own identity as being on Team Good. The pacifist calls that identity into question.