Wie geht abhängig sein ohne Zwang?

Die letzten Tage lag ich mal wieder krank im Bett, heute bin ich wieder so langsam auf den Beinen. Solche Krankheitszeiten bergen oft Inspirationen für mich, so auch dieses Mal. Mir scheint nämlich die Titelfrage sehr wesentlich, was ich bisher noch nicht so auf dem Schirm hatte. Mein Denken mäandrierte allerdings schon lange da drum herum, so z.B. im Beitrag Bedürfnisse/Bedürftigkeit, brauchen und frei sein.

Gehen wir mal davon aus, dass wir als Mitglieder dieser Welt der Erscheinungen nicht darum herumkommen, von anderen abhängig zu sein. (Ich sage manchmal nur halb scherzhaft, dass ich total sauerstoff-abhängig bin…)

Dann stellt sich natürlich die Frage, wo bleibt da noch die individuelle Freiheit? Im Nachdenken über Vipassana hatte ich diese schon mal als den Abstand zwischen Reiz und Reaktion definiert.

Unsere heutige Fragestellung führt mich zu der Antwort: meine Freiheit besteht darin, dass ich (in Grenzen) wählen kann, von wem oder was ich mich abhängig mache, und dass ich diese Wahl im Laufe meines Lebens ändern und mich von alten Abhängigkeiten lösen kann, um mich wieder von anderen abhängig zu machen. Letzteres ist ja das herausragende Merkmal der Freien Kooperation – die Freiheit, aus der Kooperation wieder aussteigen und eine andere wählen zu können.

Im Beitrag über Bedürfnisse/Bedürftigkeit, brauchen und frei sein schrieb ich:

Vielleicht habe ich in meinem Artikel Eine neue Kultur schon die Antwort gegeben, die in der Freiwilligkeit liegt. Denn auch wenn Bedürfnisse eine Grundlage der Gewaltfreien Kommunikation sind, ist Freiwilligkeit eben die zweite Grundlage. Ein Bedürfnis ist kein Grund, sich selbst oder jemand anderen zu etwas zu zwingen. Ich kann nur bitten, und mein Gegenüber (oder auch ich selbst) kann mit Ja oder Nein antworten & beides ist in Ordnung.

In einer Kultur, die auf Bedürfnissen und Freiwilligkeit beruht, wäre die Frage zu aller Zufriedenheit beantwortet. Doch wie kommen wir dort hin? Und wie erhalten wir diese Kultur, denn es besteht immer das Risiko, dass sich Herrschaft wieder einschleicht?

Jede Abhängigkeit macht mich erpressbar (vgl. auch meine Theorie der strukturellen Weltverschwörung). Doch zum Erpressen gehören immer zwei: Eine, die erpresst, und einer, der sich erpressen lässt. Über letztere Rolle habe ich ausführlich im Beitrag über das Gehorchen geschrieben. Abhängigkeiten lassen sich in der Sprache der Prozessarbeit auch als Rang-Gefälle beschreiben. Wenn A von B abhängig ist, hat B in dieser Beziehung einen höheren Rang als A. Nun zeigt die Erfahrung, dass B sich dessen in der Regel nicht oder kaum bewusst ist, und da liegt ein Hauptgrund für unseren menschlichen Schlamassel.

Das beste Beispiel dafür sind wohl Eltern und generell Erwachsene, die sich ihres in vielerlei Hinsicht wahnsinnig hohen Rangs gegenüber einem Baby oder Kleinkind wahrscheinlich nur in Ansätzen überhaupt bewusst werden können. Jeder Mensch wird in eine Welt hineingeboren, die von den bereits Lebenden und deren Vorfahren längst fertig so eingerichtet wurde (siehe die Geschichte von den drei Bären).

Es liegt also an uns allen, immer wieder unsere Privilegien zu checken, damit wir diese nicht gegen andere Wesen ausnutzen, die von uns abhängig sind (schon mal nachgeschaut, wie viele Sklaven für dich arbeiten?). Und auf der anderen Seite gilt es, immer wieder zu überprüfen, ob meine eigenen Abhängigkeiten es wert sind, mich zu irgendetwas zwingen zu lassen. Bei beidem hilft es, die eigene Selbstwichtigkeit zu verlieren.