Ist das Universum diskret oder kontinuierlich ausgedehnt?
Timo Ollech
23. Februar 2001
0 Worum geht’s hier eigentlich?
Nachdem ich schon Blaise Pascals »Vom Geist der Geometrie« kommentiert habe, setze ich hier meine Untersuchungen über die Natur des Raumes und ihren Zusammenhang mit Rechnen und Messen fort. Der Unterschied zwischen Rechnen und Messen besteht darin, daß ersteres sich in diskreten Schritten vollzieht, während man beim Vergleich kontinuierlich ausgedehnter Größen von einer Messung spricht (dazu äußert sich später auch Riemann). Besteht die Raumzeit aus diskreten Abschnitten (im Sinne von Leibnizens Monaden), dann reicht es, einen solchen Abschnitt als Grundeinheit zu nehmen und zu zählen, wie viele dieser Abschnitte ein Stück der Raumzeit begrenzen. Ist sie jedoch kontinuierlich ausgedehnt, muß man zu Meßmethoden greifen, die nur relative Vergleiche verschiedener Abschnitte untereinander erlauben; einen absoluten Maßstab kann es in diesem Fall nicht geben.
1 Hundertwasser und Fuller
Auf den ersten Blick ein seltsames Gespann: Friedensreich Hundertwasser, der Maler und Architekt (vielleicht sollte man ihn besser »Baukünstler« nennen), und Buckminster Fuller, der sehr weit abseits vom Mainstream forschende Mathematiker, (Meta-) Physiker, aber auch Architekt. Vermutlich kannten sich beide nie. Dennoch zeichnet sich Hundertwasser durch seine kategorische Ablehnung gerader Linien aus, die in seiner Kunst zu Tage tritt, worin er Fuller sicherlich sehr gefallen hätte. Buckminster Fuller geht sogar so weit zu sagen:
»There are no straight lines, physical or metaphysical.«
Er geht davon aus, daß alle Bewegungen Schwingungen sind, eine Vorstellung, die uns später wieder über den Weg laufen wird — dann allerdings unter Annahme eines Kontinuums, welches Fuller abstreitet:
»Physics has found no continuum, no experimental solid, no things, no real matter.«
Fuller orientiert sich stark an der Chemie, die es in ihren Reaktionen immer mit ganzzahligen Verhältnissen zu tun hat. Die Zahl π z.B. existiere nur in der Vorstellung, denn schließlich sind chemische Verbindungen wie HπO unmöglich.
2 Konrad Zuses »Rechnender Raum«
Konrad Zuse vertritt die These, der Raum sei in seiner Feinstruktur diskret, allerdings mit einer Körnung, die etliche Größenordnungen unter der derzeitigen Meßgenauigkeit liegt, ergo auch noch gar nicht als solche erkannt worden sein kann. Er vergleicht diesen Rechnenden Raum mit einem zellulären Automaten, hält jedoch komplexere logische Strukturen für möglich und auch wahrscheinlich.
Aus dieser Grundannahme ergeben sich einige folgenschwere Tatsachen: der Raum ist nicht mehr isotrop, sondern es sind bestimmte Koordinatensysteme in ihm besonders ausgezeichnet. Des weiteren operiert der Rechnende Raum notwendigerweise mit einer begrenzten Genauigkeit, was auf den ersten Blick das Kausalgesetz in Frage stellt. Den Tunneleffekt bezeichnet Zuse z.B. als »Rechenfehler« des Raumes. Jede Rechnung (d.h. Bewegung) im Raum zeichnet sich jedoch durch ihre Determiniertheit aus:
»Das Denken in ganzen Zahlen und diskreten Zuständen erfordert ein Denken in unstetigen Übergängen, bei denen das Kausalgesetz durch Algorithmen formuliert ist.«
Dann fragt Zuse angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, physikalische Zusammenhänge, die auf den Methoden der Analysis beruhen, auf Computern zu simulieren:
»Sind wir berechtigt, ein Modell der Natur anzunahmen, für das es kein rechnerisches Simulationsmodell gibt?«
Gegenüberstellung verschiedener Raumauffassungen
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Klassische Physik
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Quantenphysik
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Rechnender Raum
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Punktmechanik
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Wellenmechanik
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Automatentheorie, Schaltalgebra
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Korpuskel
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Welle — Korpuskel
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Schaltzustand, Digitalteilchen
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analog
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hybrid
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digital
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Analysis
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Differentialgleichungen
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Differenzengleichungen und logische Operatoren
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Alle Größen kontinuierlich
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Einige Größen gequantelt
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Alle Größen nehmen nur diskrete Werte an
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Keine Grenzwerte
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Außer Lichtgeschwindigkeit keine Grenzwerte
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Minimal- und Maximalwerte sämtlicher Größen
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Unendlich genau
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Unbestimmtheitsrelation
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Begrenzte Rechengenauigkeit
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Kausalität in beiden Zeitrichtungen
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Nur statistische Kausalität, Auflösung in Wahrscheinlichkeit
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Kausalität nur in positiver Zeitrichtung, Einführung von Wahrscheinlichkeitstermen möglich, aber nicht nötig
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Klassische Mechanik wird statistisch angenähert
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Wahrscheinlichkeitsgesetze der Quantenphysik durch determinierte Raumstruktur erklärbar?
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Urformel
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Urschaltung
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Die Hypothese des kontinuierlichen Raumes kann man prinzipiell nicht experimentell nachweisen, denn sie besagt ja, daß man jede beliebige Strecke noch halbieren kann. Entsprechend muß man immer noch ein doppelt so genaues Meßinstrument konstruieren, womit man nie an ein Ende gelangen kann.
Jedoch auch die Gegenposition scheint mir unbeweisbar zu sein: wenn nämlich der Raum aus diskreten Zuständen besteht, kann man zwar ein Meßgerät bauen, das nur einen einzigen Zustand annimmt. Bewegt man jedoch dieses Meßgerät, dann »springt« es von einem Zustand zum anderen, was man nicht nachweisen kann, da das Meßgerät — nach unserer Annahme — schon die kleinste mögliche Ausdehnung hat. Diese Annahme jedoch kann man auch nicht experimentell beweisen.
3 Kurt Riedemeister: Raum und Zahl
Wenden wir uns nach soviel räumlichen Überlegungen endlich einmal den Zahlen und damit dem Zählen zu:
»Die Zahlen sind die Stellen in einer geordneten Reihe, die wir zählend durchlaufen.«
Ähnliches hatte ich schon in meinem Artikel über die Peano-Axiome geschrieben. Aber Riedemeister landet schnell wieder bei der Geometrie:
»Eine Gerade der Euklidischen Ebene wird durch Auszeichnung einer Richtung zu einer geordneten Menge von Punkten.«
Eine solche Menge ist auch unter dem Pseudonym »Das Kontinuum« bekannt, doch dazu später mehr. Die enge Verbindung von Raum und Zahl findet sich schon bei Euklid:
»Die Axiome der Euklidischen Geometrie lassen sich als Aussagen über Abstände von Punkten formulieren.«
-- und damit in die Sprache der (linearen) Algebra übersetzen.
Als erkenntnistheoretischen Einschub kritisiert Riedemeister dann Kant:
»In der Ontologie Kants gilt als wahr, daß alle Relationen zwischen Gegenständen sich auf Eigenschaften von Gegenständen zurückführen lassen.«
Schon Aristoteles stellte sich mit diesem Prinzip (Sind G’, G’’ unterscheidbare Gegenstände, so gibt es eine Eigenschaft e, welche G’ zukommt, G’’ aber nicht) gegen Platon. Kant argumentierte, daß zwei an sich gleiche, aber nicht durch Spiegelung ineinander transformierbare Körper unterschiedliche Eigenschaften haben müssen, nämlich ihre Position im angenommenen absoluten Raum. Das ist natürlich Humbug, denn diese zwei Körper müssen in einer geometrischen Analyse als Teile eines beide umfassenden Gebildes angesehen werden. Als solche unterscheiden sie sich durch ihre Relation zum Ganzen. In einem Tetraeder aus vier exakt gleichen Kugeln beispielsweise läßt sich durch drei der Kugeln eine Ebene auszeichnen, in der die jeweils vierte Kugel nicht liegt.
In der Anschauung ist immer der Beobachter selber der Bezugspunkt:
»Auf Wahrnehmung fußende Aussagen stehen in Relation zu dem natürlichen Koordinatensystem, das mit dem Wahrnehmenden verbunden ist.«
Abschließend noch einige Bemerkungen über die Natur des mathematischen Denkens:
»Die Durchleutung von Begriffsstrukturen ist die ursprüngliche Aufgabe des mathematischen Denkens.«
»Die Sicherheit der mathematischen Erkenntnis kommt in der Entwicklung der mathematischen Wissenschaft dadurch zum Ausdruck, daß sich im Prinzip alle mathematischen Sätze zu einer einzigen großen widerspruchslosen Theorie vereinigt denken lassen. Unter diesem Aspekt gesehen, besteht die Geschichte der Mathematik nur in der Ausweitung dieses einen Systems.«
Man beginnt zu begreifen was Galilei meinte, als er sagte »Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben«.
»In der Tat ist die Existenz von Größen, die ohne natürliche Zahlen zu sein dieselbe Bestimmtheit wie natürliche Zahlen besitzen, nicht von der Anschauung aus, sondern nur durch reines strenges Denken zu begreifen.«
Riedemeister spielt hier natürlich auf die reellen Zahlen an, die uns nochListensiv beschäftigen werden.
4 Riemannsche Geometrie
Aus Riemanns Habilitationsschrift:
»Größenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zuläßt. Je nachdem unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer andern ein stetiger Übergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder diskrete Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heißen im erstern Falle Punkte, im letztern Elemente dieser Mannigfaltigkeit.«
Statt Bestimmungsweise würde man heutzutage wohl eher Zustand sagen.
»Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene Teile einer Mannigfaltigkeit heißen Quanta. Ihre Vergleichung der Quantität nach geschieht bei den diskreten Größen durch Zählung, bei den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinanderlegen der zu vergleichenden Größen; zum Messen wird also ein Mittel erfordert, die eine Größe als Maßstab für die andere fortzutragen. Fehlt dieses, so kann man zwei Größen nur vergleichen, wenn die eine ein Teil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht das Wieviel entscheiden.«
Dieser Riemann hat ein Talent, das Wesentliche auf den Punkt zu bringen. Es fällt auf, daß über das Zählen nur wenige Worte zu verlieren sind, während Messen begrifflich wesentlich schwieriger zu fassen ist. Merken wir uns für später hauptsächlich, daß eine stetige Mannigfaltigkeit nicht aus Punkten zusammengesetzt sein kann (das hatten wir bei Pascal schon).
5 Hermann Weyl
5.1 Das Kontinuum
Zunächst streift Weyl kurz den Inhalt der Logik, weil er die Analysis und daher auch die Mengentheorie auf logische Grundsätze gründen will:
»Nur einem sinnvollen Satz entspricht ein Urteil, nur einem wahren Urteil ein Sachverhalt; ein Sachverhalt aber besteht — schlechthin.«
Das mit dem sinnvollen Satz bezieht sich darauf, daß die Variablen von Relationen sich immer auf Individuen bestimmter Kategorie beziehen und dementsprechend auch nur solche Individuen eingesetzt werden dürfen. Gleich darauf stürzt sich Weyl in die Mengentheorie und kritisiert die Vorstellung, unendliche Mengen könnten aufgezählt oder gar vom Verstand irgendwie simultan überblickt werden:
»Niemand kann eine unendliche Menge anders beschreiben als durch Angabe von Eigenschaften, welche für die Elemente der Menge charakteristisch sind; niemand eine Zuordnung zwischen unendlich vielen Dingen stiften ohne Angabe eines Gesetzes, d.h. einer Relation, welche die zugeordneten Gegenstände miteinander verknüpft.«
Dazu ist anzumerken, daß es im Universum vermutlich ohnehin nur endlich viele Dinge gibt, die miteinander in Relation gesetzt werden können. Fraglich ist das jedoch bei den Positionen im Raum und bei den Zeitpunkten, worum sich ja ständig meine Gedanken drehen.
Weiters halte ich es in diesem Punkt mit Nietzsche und behaupte, »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzung des Nichtgleichen«, denn Begriffe sollen allgemeingültig sein. Begriffe braucht man nicht unbedingt um eine konkrete Ansammlung von Dingen zu einer Menge zusammenzufassen, auf jeden Fall aber zur Konstruktion von unendlichen Mengen. Solche Mengen entstehen durch Abstraktion, wodurch immer Teile der Wirklichkeit durch ein Raster fallen. Dennoch ermöglichen uns erst die Begriffe, das Unendliche denkbar zu machen!
Im Gegensatz zu Dedekind geht Weyl bei der Konstruktion der verschiedenen Zahlbereiche folgendermaßen vor: Er definiert als erstes Brüche von natürlichen Zahlen (Bruch = ℕ × ℕ). Brüche ermöglichen die Division als Umkehroperation der Multiplikation. Negative Zahlen gibt es noch nicht, subtrahieren klappt also nicht in allen Fällen. Die rationalen Zahlen definiert Weyl als Verhältnis von Brüchen (ℚ = Bruch × Bruch = ℕ4), wobei dann auch die Negation eingeführt wird und alle rationalen Zahlen somit ein Inverses haben. Wichtig ist, daß bis hierhin sich alle Rechnungen auf natürliche Zahlen zurückführen lassen.
Nun wird’s haarig:
»Die Analysis der reellen Zahlen hat bis in die Tiefe ihrer logischen Wurzeln hinein eine völlig anderen Charakter als die Arithmetik der rationalen.«
Für die Definition reeller Zahlen (des Kontinuums) benutzt Weyl Dedekindsche Schnitte:
»Ein offener Abschnitt rationaler Zahlen, der weder der Nullbereich noch der Allbereich ist, heißt eine reelle Zahl.«
Dabei ist ein Abschnitt, der die reelle Zahl a repräsentiert, das Intervall {x ∈ ℚ: x < a} = ] − ∞, a[ ⊂ ℚ. Der Nullbereich ist folglich ∅ = ̂ − ∞, der Allbereich ℚ = ̂ ∞. Auf diese Art wird ℝ = P(ℚ), und bekanntlich ist |ℚ| = ℵ0 und |ℝ| = 2ℵ0 = ℵ1.
Weyl stellt als nächstes fest:
»Die Eigenschaft einer Funktion, für einen Wert a stetig zu sein, ist transfinit (und damit abhängig von einer genauen Abgrenzung des Umfangs des Begriffs ›reelle Zahl‹).«
Das ist ein Problem:
»Wohl die Kategorie der natürlichen Zahlen, nicht aber das Kontinuum, wie es in der Anschauung gegeben ist, kann das Fundament einer mathematischen Disziplin abgeben.«
Aus diesem Grund muß Weyl auch die Wohlordnung des Kontinuums, also die Existenz eines Supremums (wahlweise auch Infimums) einer beliebigen Teilmenge von ℝ, aufgeben.
Weyls nächste Gedanken sind von Henri Bergson wie auch von Edmund Husserl inspiriert:
»Worin liegt es, daß das Bewußtseins-Gegebene nicht als ein Sein schlechthin sich gibt (wie etwa das logische Sein der Begriffe), sondern als ein fortdauerndes und sich wandelndes Jetzt-sein — so daß ich sagen kann: Dies ist jetzt — doch jetzt nicht mehr? Reißen wir uns in der Reflexion heraus aus diesem Strom und stellen uns das einen sich wandelnden Erlebnisgehalt umspannende beständige Jetzt als Objekt gegenüber, so wird es uns zu einem Ablauf, in dem wir Punkte setzen können. Jedem Punkt entspricht ein bestimmtes Erlebnisganze: steht das Bewußtsein in diesem Punkte, so hat es das entsprechende Erlebnisganze; nur dieses ist. Und woher nun doch die konkrete Dauer jeden Erlebens? Halten wir fest an den einzelnen, gegeneinander isolierten Punkten, so kann es nur eine Antwort geben: Ich habe zwar nur die Erlebnisse dieses Zeitpunktes; zu ihnen gehört aber eine mehr oder minder deutliche Erinnerung, deren intentionaler Gegenstand das Erlebnis ist, das ich in einem vergangegen Zeitpunkt hatte. Wir lassen das Problem unerörtert, woher dieser Erinnerung ihre Triftigkeit kommen soll. Mache ich daher etwa eine Lichtwahrnehmung von kurzer Dauer, so habe ich in einem Moment A nicht nur dieses Wahrnehmungserlebnis, sondern gleichzeitig die Erinnerung »an« die Wahrnehmungserlebnisse aller vergangenen Momente, welche in diese kurze Dauer hineinfallen; aber nicht nur das: ich erinnere mich in diesem Moment A nicht nur an das Wahrnehmungserlebnis in dem kurz vergangenen Moment B, sondern an das gesamte Erlebnis dieses Moments B, und das enthält nun seinerseits außer der Wahrnehmung die Erinnerungen an die in allen früheren Momenten gehabten Erlebnisse in sich. Die kontinuierliche Wahrnehmung bestünde so aus unendlichvielen, ineinander geschachtelten und aufeinander bezogenen Systemen unendlichvieler Erinnerungen; das Frühere ist das »Eingeschachtelte«. Nun: es ist klar, daß unser Erleben davon nichts enthält; und zudem ist ein solches Gefüge punktueller, ineinander ohne Ende eingeschachtelter Erlebnismomente als abgeschlossen erfaßte Einheit widersinnig. Die Auffassung eines aus Punkten bestehenden und darum auch in Punkte zerfallenden Ablaufs erweist sich als verfehlt. Es entgeht uns eben das, was die Kontinuität ausmacht, das Hinüberfließen von Punkt zu Punkt, das, was die beständig dauernde Gegenwart beständig hinüber- und hinabgleiten läßt in die absinkende Vergangenheit. ---
Wie es in Wahrheit sich verhält, erlebt ein jeder in jedem Moment unmittelbar; es zu beschreiben, ist, in Anbetracht der echten Ursprünglichkeit der phänomenalen Zeit, unmöglich. Es genügt uns das Folgende. Was ich im Bewußtsein habe, ist mir in einem: Jetzt-seiendes und als das, was es ist, mit seiner Zeitstelle Entgleitendes; und darum ist das beständig Daseiende: ein immer Neues, das da dauert und sich wandelt. Das Entschwundene kann auftauchen — zwar nicht als ein Erlebnis, das ich von neuem habe, wohl aber als Inhalt einer (triftigen) Erinnerung: dann ward es das Vergangene; in dem objektiven Bild des Lebensablaufs, das ich mir mache, ist es gegenüber dem, was jetzt da ist, als das Frühere zu setzen. Für die objektiv vorgestellte Zeit resultiert daraus soviel: 1. ein einzelner Punkt in ihr ist unselbständig, d.h. für sich genommen das reine Nichts und existiert nur als »Durchgangspunkt« (was sich natürlich mathematisch gar nicht fassen läßt); 2. es ist im Wesen der Zeit begründet (und nicht in zufälligen Unvollkommenheiten unserer Mittel), daß sich ein bestimmter Zeitpunkt durchaus nicht aufweisen läßt, daß immer nur ein approximatives, kein exaktes Fixieren möglich ist. Das Entsprechende gilt für jedes anschaulich gegebene Kontinuum, insbesondere auch für das Kontinuum der räumlichen Ausbreitung.
Wie es kommt, daß wir uns dabei nicht beruhigen, daß wir, nachdem uns unser Erleben zu einem realen Vorgang in einer realen Welt geworden und unsere phänomenale Zeit sich als kosmische über diese Welt ausgespannt hat, nun doch dem Kontinuum den exakten Begriff der reellen Zahl unterschieben, der aus dem Gegebenen nicht wegzuleugnenden wesentlichen Inexaktheit zum Trotz, — wie in dem allen nicht bloß schematisierende Vergewaltigung oder eine zur Erfüllung unserer praktischen Aufgaben und Zwecke ersonnene Denkökonomie sich kund tut, sondern echte Vernunft am Werke ist, den der Wirklichkeit einwohnenden »Logos« herauszuschälen (so rein, wie es dem Bewußtsein, das ja nicht »über seinen eigenen Schatten springen« kann, eben möglich ist) — das zu erörtern, kann hier nicht unsere Aufgabe sein. Gewiß: das anschauliche und das mathematische Kontinuum decken sich nicht; zwischen ihnen ist eine tiefe Kluft befestigt. Aber doch sind es vernünftige Motive, die uns in unserm Bestreben, die Welt zu begreifen, aus dem einen ins andere hinübertreiben; die gleichen vernünftigen Motive, welche die Naturforschung von der in Erfahrungsakten sich aufbauenden Wirklichkeit, in der wir als natürliche Menschen leben, hinüberdrängt zu der »hinter« ihr steckenden »wahrhaft objektiven«, exakten, qualitätslosen physikalischen Welt — von den Farbqualitäten der Sehdinge z.B. zu den Ätherschwingungen oder den entsprechenden mathematischen Funktionsverläufen des elektromagnetischen Feldes. So liegt in unserm Aufbau der Analysis, wenn man will, eine Theorie des Kontinuums, die sich (über ihre logische Folgerichtigkeit hinaus) in der gleichen Weise vernünftig auszuweisen hat wie eine physikalische Theorie. Der Begriff der reellen Zahl ist darin das abstrakte Schema des Kontinuums mit seinem unendlichen Ineinander möglicher Teile, der Begriff der Funktion das Schema der Abhängigkeit sich »überdeckender« Kontinuen (von der ein Einzelfall z.B. in einem sich bewegenden Punkte gegeben ist: Überdeckung eines Zeitkontinuums durch ein lineares räumliches). Ich kann es hier nicht tiefer begründen, aber es wird ohne weiteres verständlich sein, wie in dem Umstand, daß für die Begriffe der reellen Zahl und der (stetigen) Funktion, so wie wir sie hier gefaßt haben, der Satz A. des vorigen Paragraphen [Zwischenwertsatz für stetige Funktionen] gültig ist, ein sehr wesentliches Stück solcher vernünftigen Rechtfertigung vorliegt: er ist ein Beleg dafür, daß diese Begriffe zur exakten Erfassung dessen geeignet sind, was »Bewegung« in der Welt physikalischer Objektivität bedeutet.
So liegt denn der exakte Zeit- oder Raumpunkt nicht in der gegebenen Dauer oder Ausbreitung als deren letztes unteilbares Element, sondern erst die durch dies Gegebene hindurchgreifende Vernunft vermag jene Ideen zu erfassen und erst an dem der reinen formalen Sphäre zugehörigen arithmetisch-analytischen Begriff der reellen Zahl kristallisieren sie zu ihrer vollen Bestimmtheit aus. Beschränken wir uns hinsichtlich des Raumes auf die Geometrie der Geraden! Will man nun doch versuchen, eine Zeit- und Raumlehre als selbständige mathematisch-axiomatische Wissenschaft aufzurichten, so muß man immerhin folgendes beachten.
1. Die Aufweisung eines einzelnen Punktes ist unmöglich. Auch sind die Punkte keine Individuen und können daher nicht durch ihre Eigenschaften charakterisiert werden. (Während das »Kontinuum« der reellen Zahlen aus lauter Individuen besteht, ist das der Zeit- oder Raumpunkte homogen.) Punkte und Punktmengen lassen sich deshalb niemals absolut festlegen, sondern immer nur in Abhängigkeit (als Funktionen) von einem Koordinatensystem. (Das Koordinatensystem ist das unvermeidliche Residuum der Ich-Vernichtung in jener geometrisch-physikalischen Welt, welche die Vernunft aus dem Gegebenen unter der Norm der »Objektivität« herausschält — letztes dürftiges Wahrzeichen noch in dieser objektiven Sphäre dafür, daß Dasein nur gegeben ist und gegeben sein kann als intentionaler Inhalt der Bewußtseinserlebnisse eines reinen, sinngebenden Ich).
2. Das Stetigkeitaxiom muß dahin formuliert werden, daß mit Bezug auf eine Einheitsstrecke O E jedem Punkt P eine reelle Zahl als Abszisse entspricht und umgekehrt. Nur infolge dieses Axioms haben alle einschlägigen Urteile trotz des unter 1. erwähnten Umstandes einen klaren Sinn.
3. Wenn wir in der reinen Zahlenlehre auf der Stufe, die wir in § 3 dieses Kapitels erreichten [reelle, algebraische und komplexe Zahlen aus natürlichen Zahlen aufgebaut], ein neues Fundament legen, indem wir neben den natürlichen Zahlen die reellen als eine neue Grundkategorie aufnehmen — ähnlich wie wir es in § 2 für die Brüche in Erwägung zogen ---, so errichtet sich auf dieser Basis ein Lehrgebäude, das wir einen Augenblick als »Hyperanalysis« bezeichnen wollen. Es deckt sich keineswegs mit unserer Analysis; vielmehr existieren in der Hyperanalysis z.B. mehr Mengen reeller Zahlen als in der Analysis, indem diejenigen hinzutreten, bei deren Definition das »es gibt« in Verbindung mit »eine reelle Zahl« auftritt. In der Hyperanalysis gelten infolgedessen weder das Cauchysche Konvergenzprinzip noch die Sätze über stetige Funktionen allgemein (sie gelten eben nur für diejenigen Funktionen und Folgen, die schon in der Analysis auftreten). Darum: der immer sich erneuernden Versuchung, von einem höheren Niveau als der Grundschicht der natürlichen Zahlen den Azsgang zu nehmen, müssen wir immer wieder von neuem widerstehen: nur die Analysis, nicht die Hyperanalysis liefert eine brauchbare Theorie des Kontinuums und der zwischen sich überdeckenden Kontinuen möglichen Abhängigkeiten. Nun liegt die Sache aber so: Zufolge des unter 2. angegebenen Axioms besteht bei Zugrundelegung eines bestimmten Koordinatensystems O E eine durchgängige Korrespondenz nicht nur zwischen den Punkten einerseits, den reellen Zahlen anderseits, sondern auch zwischen den Punktmengen, Mengen von Punktmengen, überhaupt zwischen allen Mengen der Raum- und Zeitlehre einerseits und allen Mengen der Hyperanalysis anderseits; oder noch genauer ausgedrückt, es besteht diese Korrespondenz zwischen den Mengen der Hyperanalysis und den Funktionen von O, E in der Raum- und Zeitlehre. Darum kann das erwähnte Axiom nicht etwa durch das (in der Hyperanalysis ja ungültige) Cauchysche Konvergenzprinzip oder irgend eine ähnliche, bisher beim axiomatischen Aufbau der Geometrie übliche Formulierung ersetzt werden (vom Hilbertschen Vollständigkeitsaxiom ganz zu schweigen). Und weiter geht daraus — wegen der Unbrauchbarkeit der Hyperanalysis — hervor, daß es überhaupt nicht angeht, Zeitlehre und Geometrie als selbständige axiomatische Wissenschaften zu betreiben. Wohl mag elementare Geometrie, d.h. Geometrie, soweit sie sich ohne das Stetigkeitsaxiom begründen läßt, synthetisch aufgebaut werden — eigentliche Kontinuitäts-Geometrie läßt sich immer nur analytisch behandeln, d.h. indem man die Analysis als einen Teil der reinen Zahlenlehre entwickelt und ihre Sätze hernach mit Hilfe des im Koordinatenbegriff enthaltene Übertragungsprinzips geometrisch wendet: nur so gelangt man zu vernünftigen Begriffen von Kurven, Flächen usw. in der exakten Sphäre. Es gehört zu unserer Theorie des Kontinuums die Behauptung: ein Raumstück, ebenso die das Raumstück begrenzende Linie sind Gebilde von der Art, daß die Gesamtheit der in sie hineinfallenden Punkte sich arithmetisch als dreidimensionale Menge reeller Zahlen konstruieren läßt. Diese Behauptung ist von der gleichen Art wie die, daß jedem Punkt auf einer Geraden eine reelle Zahl entspricht: sie wird so wenig wie diese durch das unmittelbar Gegebene bestätigt oder widerlegt; sie ist aber die vernünftige Konsequenz der Konzeption des exakten Raumpunktes. Die geometrischen Axiome haben dabei lediglich die Aufgabe, jenes Übertragungsprinzip aus gewissen, als unmittelbar gegeben anzusehenden Relationen heraus zu formulieren.
Betrachten wir von diesem Standpunkt die heutige [1917] Analysis, so müssen wir sagen, daß sie auf dem Wege von der Anschauung zum formalen Begriff mit ihren Prinzipien in einer nebelhaften Mitte hängen geblieben ist, während sie selbst sich unter dem Deckmantel ihrer vagen Vorstellungen von Menge und Funktion als eine im Formal-begrifflichen operierende Wissenschaft ausgeben kann. Doch muß zugestanden werden: was sie im einzelnen leistet, wird von dieser Kritik des Fundaments zum größten Teil nicht mitbetroffen und läßt sich ohne Mühe von dem noch anhaftenden Erdenrest befreien, wenn einmal jener Nebel zerstreut ist.«
Wir finden hier den Gedanken von Pascal und Riemann wieder, daß das Kontinuum nicht aus Punkten bestehen kann. Weyl bemerkt die Diskrepanz des mathematischen und des anschaulichen Kontinuums: ersteres kommt nämlich nach wie vor in der Gestalt einer Punktmenge daher. Sehr spannend finde ich seine Charakterisierung der Analysis als Theorie von Raum und Zeit und damit empirisch überprüfbar. Reine Mathematik ist eben doch nicht was Bertrand Russel sich darunter vorstellte (nämlich gar nichts). Er verabschiedet sich vom absoluten Kontinuum; man muß zwar ein Koordinatensystem auszeichnen, welches der unendlich vielen möglichen ist jedoch beliebig. Im Zusammenhang mit der Hyperanalysis macht Weyl besonders deutlich, daß für ihn die natürlichen Zahlen a priori gegeben sind. Eine Definition mit Hilfe der Mengentheorie (wie von Dedekind gegeben) hält er für überflüssig und kontraproduktiv. Nun aber weiter im Text:
»Halten wir uns noch einen Augenblick bei jenem, Raum und Zeit einerseits, die Zahlen andererseits verknüpfenden Übertragungsprinzip auf, von dem soeben die Rede war!
Einen Zeitpunkt P auf begriffliche Weise relativ zu einer »Einheitsstrecke« O E festlegen, heißt, aus den Urrelationen »früher« und »gleich« mit Hilfe der Definitionsprinzipien eine Relation Λ(O E P) konstruieren von der Art, daß zu je zwei Punkten O und E, von denen O der frühere ist, ein und nur ein zu dieser Relation gehörender Punkt P gehört. Erfüllen auch die Punkte O’ E’ P’ jene Relation, so sagt man, P’ stünde in demselben Verhältnis zu O’ E’ wie P zu O E: dies scheint uns der ursprüngliche Sinn des Verhältnisbegriffes zu sein. […]
Um diese Fassung des Begriffs »Verhältnis«, die uns die Bedeutung der Zahlen für die Größenmessung ins rechte Licht zu stellen scheint, noch etwas genauer durchzuführen, wollen wir aber nicht von den Zeitpunkten, sondern den Zeitstrecken ausgehen. Die Theorie, die wir so entwickeln, ist, unter einen allgemeineren Gesichtspunkt gerückt, zugleich die Theorie einer beliebigen linearen positiven Größe.«
Das Formale filtere ich mal raus, Weyl legt eine Arithmetik für (Zeit-) Strecken fest, die sich durch folgendes auszeichnet:
»Es ist dann eine weitere Grundtatsache, daß unser Operationsfeld homogen ist, d.h. außer der Null- und der Allmenge keine eindimensionale Streckenmenge existiert. Es ist demnach unmöglich, eine einzelne Strecke absolut in begrifflicher Weise, d.i. durch eine für sie charakteristische Eigenschaft festzulegen. Vielmehr kann eine Strecke nur relativ zu einer andern bestimmt werden, auf Grund einer binären Streckenrelation R(a, b). Man erkennt leicht, daß jede solche Relation, die zwischen a und b besteht, erhalten bleibt, wenn man diese Strecken je durch eine ihr gleiche ersetzt. Wir verstehen unter »Verhältnis« eine binäre Streckenrelation R(a, b) von der Art, daß zu jeder Strecke a eine und im Sinne der Gleichheit nur eine Strecke b gehört, für welche diese Relation statthat. Vom formal-logischen zum sachlichen Standpunkt übergehdne, unterscheiden wir Proportionen nicht, welche den gleichen Geltungsumfang haben, d.h. wir ersetzen jede Proportion durch die ihr korrespondierende zweidimensionale Streckenmenge: sie nennen wir die Maßzahl der Proportion.«
Die so konstruierten Maßzahlen fallen mit den positiven reellen Zahlen zusammen, sind aber nicht gleich denselben. Mit anderen Worten, es gibt eine Bijektion zwischen beiden.
Im folgenden behandelt Weyl die Grundidee der Riemannschen Flächen, wobei er zunächst zwischen Linien und Kurven unterscheidet. Erstere sind auf Flächen vorhanden (durch irgendwelche Konstruktionen festgelegt), während letztere die Bahn eines sich bewegenden Punktes darstellen:
»Der Weg [einer Kurve] selber ist ein eindimensionales Kontinuum von »Bahnpunkten«; jeder Bahnpunkt befindet sich an einer bestimmten Stelle, koinzidiert mit einem bestimmten Punkt der Ebene, ohne aber selbst dieser Punkt der Ebene zu sein. Die Bahnpunkte, als die »Stadien« der Bewegung, stehen ganz analog wie die Zeitpunkte in der Beziehung des »früher« zueinander; in der Bewegung überdeckt das Kontinuum der Bahnpunkte in stetiger monotoner Weise das Kontinuum der Zeitpunkte.«
Das kann man sich ähnlich der Teilchenspuren in einer Nebelkammer vorstellen. Weyl schließt seine Abhandlung mit den Worten:
»Dem Vorwurf gegenüber, daß von jenen logischen Prinzipien, die wir zur exakten Definition des Begriffs der reellen Zahl heranziehen müssen, in der Anschauung des Kontinuums nichts enthalten sei, haben wir uns Rechenschaft darüber gegeben, daß das im anschaulichen Kontinuum Aufzuweisende und die mathematische Begriffswelt einander so fremd sind, daß die Forderung des Sich-Deckens als absurd zurückgewiesen werden muß. Trotzdem sind jene abstrakten Schemata, welche uns die Mathematik liefert, erforderlich, um exakte Wissenschaft solcher Gegenstandsgebiete zu ermöglichen, in denen Kontinua eine Rolle spielen.«
So landen wir wieder bei der Frage, ob Kontinua im echten Leben überhaupt eine Rolle spielen.
5.2 Mathematische Analyse des Raumproblems
Hier geht es nun ausschließlich um Inifinitesimal- bzw. Differentialgeometrie, denn darauf baut Riemanns Theorie auf, die Weyl im wesentlichen behandelt. Beginnen wir mit den Axiomen der Riemannschen Geometrie:
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Nach Wahl einer Längeneinheit (die ein- für allemal vorgenommen sei) kommt jedem unendlich kleinen Linienelement, das von irgendeinem festen Punkt P nach einem zu P unendlich benachbarten Punkte P’ hinführt, eine bestimmte Maßzahl ds als seine Länge zu.
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Für die von einem Punkt ausstrahlenden Linienelemente ist ds2 in seiner Abhängigkeit vom Linienelement eine positiv-definite quadratische Form.
»Die Riemannschen Annahmen kommen offenbar darauf hinaus, daß in der unmittelbaren Umgebung jedes Punktes im Unendlichkleinen die Euklidische Geometrie gültig sein soll.«
Nun kommt die Relativität zum Zuge:
»Ist es uns in der wirklichen Welt möglich, die Wirkungsausbreitung, insbesondere die Lichtausbreitung zu verfolgen, und vermögen wir außerdem die Bewegung freier Massenpunkte, welche dem Führungsfelde folgen, als solche zu erkennen und zu beobachten, so können wir daraus allein, ohne Zuhilfenahme von Uhren und starren Maßstäben, das metrische Feld ablesen.«
»Als die nächstliegende und überzeugendste Kennzeichnung bietet sich die Aussage dar, daß keine absolute Längeneinheit existieren soll. […] Unter diesen Umständen wird man fast mit Notwendigkeit dazu gedrängt, sich zu fragen, ob der wirkliche Raum am Ende gar kein Euklidischer ist, sondern ein Kugelraum von nicht verschwindender Krümmung λ; als Form der Erscheinungen zu dienen, ist jedenfalls ein derartiger Raum zufolge seiner metrischen Homogeneität ebenso geeignet wie der Euklidische. Mit diesem Fragezeichen wenden wir uns von der mathematischen Analyse wiederum der Wirklichkeit zu.
Vom Standpunkt der Erfahrung aus muß man die Tatsache anerkennen, daß sich in der Wirklichekt während vieler Jahrhunderte die Richtigkeit der Euklidischen Geometrie immer von neuem bestätigt hat, sich sogar mit einer viel größeren Genauigkeit bestätigt hat, als sie denjenigen zur Verfügung stand, welche das Gebäude dieser Geometrie errichteten. Dennoch ist heute der Glaube an ihre strenge Gültigkeit zerbrochen durch Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, mit Gründen, welche mir völlig zwingend erscheinen. Die Natur läßt sich nicht unter das starre Schema einer fest dem Raume innewohnenden Euklidisch-metrischen Struktur beugen, sie erweist sich wieder einmal als freier, beweglicher und lebendiger denn der menschliche Geist, der sich so gern in der Endgültigkeit starrer Dogmen beruhigt. Wohl treibt uns dabei eine über die Wirklichkeit hinausweisende Sehnsuch nach dem Absoluten, aber es ist unser Fluch, daß wir mit ihr so oft, statt uns über die Wirklichkeit zu erheben, weit hinter ihr zurückbleiben. — Nach Einstein ist die metrische Struktur der Welt nicht homogen. Wie ist das möglich, da doch Raum und Zeit Formen der Erscheinungen sind? Allein dadurch, daß die metrische Struktur nicht apriori fest gegeben ist, sondern ein Zustandsfeld von physikalischer Realität, das in kausaler Abhängigkeit steht vom Zustand der Materie. Das Wirkliche zieht in den Raum nicht ein wie in eine rechtwinklig-gleichförmige Mietskaserne, an welcher all sein wechselvolles Kräftespiel spurlos vorübergeht, sondern wie die Schnecke baut und gestaltet die Materie selbst sich dies ihr Haus. Ein Körper, der unter dem Einfluß eines Kraftfeldes eine Gleichgewichtsfigur angenommen hat, wird seine Gestalt verändern müssen, wenn er bei festgehaltenem Kraftfeld an eine anders beschaffene Stelle des Feldes geschoben wird. Wird aber das Kraftfeld von dem Körper selber erzeugt, so wird er es bei seiner Ortsveränderung mitnehmen, und das bestehende Gleichgewicht von Körper + Kraftfeld wird sich erhalten. Ein biegsames Blech, das genau auf ein Stück einer krummen Fläche paßt, wird sich im allgemeinen auf der Fläche nicht so bewegen lassen, daß es sich ihr beständig anschmiegt; aber seine freie Beweglichkeit ist ihm zurückgegeben, sobald die krumme Fläche nicht festgehalten wird, sondern von dem Blech mitgenommen werden kann. Genau so ist die freie Beweglichkeit der Körper im metrischen Felde gesichert trotz seiner Inhomogenität, wenn das metrische Feld von der Materie erzeugt wird und mit ihr sich verändert. Einstein wurde zu der neuen Auffassung gedrängt, um dem Prinzip von der Relativität der Bewegung genügen und die Gleichheit von träger und schwerer Masse erklären zu können. Seine Grundannahme ist die, daß die Gravitation nicht eine Kraft ist, welche die Körper aus der ihnen durch das Führungsfeld vorgezeichneten Bahn ablenkt, sondern, mit der Trägheit unlöslich verbunden, im Führungsfelde enthalten ist; nur vom Standpunkte eines in bestimmtem Bewegungszustande begriffenen Bezugskörper aus, von einem bestimmten Koordinatensystem aus trennt sich die Einheit des Führungsfeldes in die beiden Bestandteile Trägheit und Gravitation. Da wir aber wissen, daß die Gravitation von der Materie abhängt, hat diese Annahme die Konsequenz, daß das Führungsfeld und damit auch die das Führungsfeld fundierende metrische Struktur der Welt in kausale Abhängigkeit gerät von der Materie.
Aber auch Einstein hält daran fest, daß die metrische Struktur der Welt überall von derjenigen Art ist, wie sie unsere allgemeine metrische Infinitesimalgeometrie voraussetzte. Daß etwas an der Struktur des extensiven Mediums der Außenwelt apriori ist, wird also nicht schlechthin geleugnet, nur die Grenze zwischen dem apriori und dem aposteriori wird an eine andere Stelle gesetzt. In der Tat ist auch in der allgemeinen metrischen Infinitesimalgeometrie die Natur des metrischen Feldes, die Natur der Metrik im Punkte P und des metrischen Zusammenhanges von P mit den Punkten seiner unmittelbaren Umgebung an jeder Stelle P die gleiche; sie ist wesentlich eine und darum absolut bestimmt, nicht teilhabend an der unaufhebbaren Vagheit dessen, was eine veränderliche Stelle in einer kontinuierlichen Skala einnimmt; in ihr spricht sich das apriorische Wesen der raum-zeitlichen Struktur aus. Aposteriori hingegen, d.h. an sich zufällig und kontinuierlicher Veränderung fähig, in der Natur abhängig von der materiellen Erfüllung, darum auch rational niemals völig exakt erfaßbar, sondern immer nur näherungsweise und unter Zuhilfenahme unmittelbarer anschaulicher Hinweise auf die Wirklichkeit — a posteriori ist die gegenseitige Orientierung der Metriken in den verschiedenen Punkten. Der Raum der alten Euklidischen Geometrie ist zu vergleichen einem Kristall, der aus lauter gleichen unveränderlichen Atomen in der regelmäßigen und starren, unveränderlichen Anordnung eines Gitters aufgebaut ist; der Raum der neuen Riemann-Einsteinschen Geometrie einer Flüssigkeit, die aus denselben untereinander gleichen unveränderlichen Atomen besteht, aber in einer beweglichen, gegenüber einwirkenden Kräften nachgiebigen Lagerung und Orientierung.
Es ist klar, daß von diesem neuen Standpunkte aus sichd as Raumproblem ganz anders formulieren muß; ruht doch seine Lösung durch Helmholtz gerade auf dem Grundprinzip der alten Theorie, der metrischen Homogenität. Müssen wir darum sagen, daß die Arbeit von Euklid bis Helmholtz vergeblich war? Keineswegs. Sache des Mathematikers ist es nicht, über Wirklichkeiten zu Gericht zu sitzen, sondern aus der Wirklichkeit entsprungene Probleme zu Ende zu denken und die dazu benötigten Hilfsmittel bereit zu stellen. Und nur dadurch, daß man eine Theorie mit allem Ernst und aller Konsequenz zu Ende denkt, wächst sie über sich selbst hinaus. Dieser Prozeß vollzog sich an unserem Problem in dem divinatorischen Geiste Riemanns. Nachdem in das neue Haus der Wahrheit alles Wertvolle hinübergerettet ist, was das alte beherbergte, können wir von ihm aus es gleichmütig mit ansehen, wenn die alte Wohnung zerbröckelt. Dieser Prozeß wird niemals stillestehen; seien wir dessen gewiß, daß auch die neue Burg den Geist nicht auf ewig beherbergen wird. Die Wahrheit ist etwas Lebendiges. Das bedeutet nicht Skepsis; an der besonderen Ausgestaltung, die Wahrheit und Recht in diesem Augenblick der menschlichen Kultur angenommen haben, müssen wir mit allem Ernste arbeiten und uns mit allem Ernste an sie binden. Aber gerade dadurch wird das Leben des Geistes diese Gestalt stetig ini neue Gestalten verwandeln; die alte mag dann als eine leere Schale in den Museen aufbewahrt werden. Niemals aber wird es gelingen, die Wahrheit endgültig in die Form eines toten Seins, eines wie rationalen und wohlgeordneten auch immer, zu begraben.
So wollen wir denn jetzt unser Teil dazu beitragen, die Riemann-Einsteinsche Theorie über Zeit und Raum zu Ende zu denken! Offenbar kann es sich bei der Lösung des Raumproblems von diesem Standpunkte aus nicht mehr darum handeln, das metrische Feld in seiner zufälligen, von der Materie abhängigen quantitativen Ausgestaltung rational zu begreifen, sondern allein die eine unveränderliche Pythagoreische Natur dieser Metrik, in der sich das apriorische Wesen des Raumes ausspricht. Das gibt einen ganz neuen Typus von Axiomatik; sie hat nicht mehr mit den mit einem bestimmten metrischen Felde ausgestatteten Raum zum Objekt, durch dessen metrische Struktur z.B. festgelegt ist, was gerade ist und was krumm. Eine Aussage wie die folgende: Ein Punkt und eine Richtung in ihm bestimmen eine gerade Linie, hat in ihr keinen Platz; denn die gerade Linie ist ja gar nicht bestimmt, sie ist bald diese bald jene, je nach der quantitativen Ausgestaltung des metrischen Feldes. An die Stelle der von Helmholtz geforderten Homogenität des metrischen Feldes ist die Möglichkeit getreten, im Rahmen der feststehenden Natur der Metrik das metrische Feld beliebigen virtuellen Veränderungen zu unterwerfen. Dadurch, daß wir diese Möglichkeit statuieren, ist nun freilich über die Natur der Metrik noch nichts ausgesagt. Ziehen wir zur Verdeutlichung einen Vergleich heran! Über das Wesen eines Staates ist damit nichts ausgemacht, daß ich statuiere: Die Staatsverfassung ist für alle Staatsangehörigen bindendes Gesetz; aber innerhalb des von ihr gelassenen Spielraums kommt jedem Bürger volle individuelle Freiheit zu. Es muß erst eine positive Forderung hinzutreten, etwa die folgende: Wie die Bürger diese ihre Freiheit auch ausnützen mögen, es liegt im Wesen unserer Verfassung, daß das Wohl des Ganzen stets in ausreichendem Maße garantiert ist. Jetzt kann man darüber nachdenken, wie eine Verfassung beschaffen sein muß, damit sie dieser Forderung genügt, und ob es vielleicht nur eine einzige Verfassung gibt, welche sie erfüllt. — Das bindende Staatsgesetz im Reiche des Raumes ist die Natur der Metrik, die Freiheit der Bürger ist die Möglichkeit der verschiedenen gegenseitigen Orientierung der Metriken in den verschiedenen Punkten des Raumes; und was ist das »Wohl des Ganzen«? Wenn man sich den Aufbau der Infinitesimalgeometrie vor Augen hält und auch die Anwendung, die sie in der allgmeinen Relativitätstheorie auf die Wirklichkeit findet, so springt einem als die entscheidende Tatsache, welche die ganze Entwicklung möglich macht, mit unentrinnbarer Eindeutigkeit diese entgegen: daß durch das metrische Feld der affine Zusammenhang bestimmt ist; darauf, scheint es also, beruht im Reiche von Raum und Zeit das »Wohl des Ganzen«. So komme ich zu folgendem Prinzip: Welche quantitative Ausgestaltung auch immer im Rahmen der Natur der Metrik das metrische Feld gefunden haben mag, stets determiniert das metrische Feld eindeutig den affinen Zusammenhang.«
Die Natur der Metrik bestimmt sich dadurch, daß Drehungen den Raum unter ihr invariant lassen, mithin also volumentreue Abbildungen sind. Außerdem sind die Drehungsgruppen in allen Punkten der Mannigfaltigkeit von der gleichen Art. Damit landen wir zum Abschluß bei der Frage der Bewegung:
»Viel anschaulicher, natürlicher und außerdem rein infinitesimal ist die Auffassung der kontinuierlichen Bewegung als einer solchen, bei welcher die Lage des Körpers von Augenblick zu Augenblick durch eine infinitesimale Dreh-Transformation verändert wird, als eine integrale Aneinanderreihung infinitesimaler Dreh-Transformationen.«
Leibniz hätte an dieser Vorstellung bestimmt nichts auszusetzen gehabt (im Gegensatz zu Newton…). Außerdem findet sich hier ansatzweise Buckminster Fuller wieder; Bewegung läuft zwar nicht direkt als Schwingung ab, aber doch zumindest als Rotation im Gegensatz zur geraden Linie.