Segel setzen für tiefe Demokratie

Der sehr tiefsinnige Dialog von François Michael Wiesmann und Dieter Halbach in der Oya zum Thema Gemeinschaft und Hierarchie inspiriert mich dazu, ein paar Stellen aus Arnold Mindells Büchern über tiefe Demokratie zusammenzustellen. Diese hatte ich hier im Blog schon einige Male erwähnt, so z.B. bei Alles gehört dazu und natürlich beim Worldwork in Warschau-Beitrag.

Tiefe Demokratie ist eine Haltung, die wahrhaftig endlich einen eigenen Beitrag verdient. Einige Ausschnitte aus Arnies Buch Der Weg durch den Sturm, das es beim Verlag für ganze 4,- € zu kaufen gibt:

Ebenso können die Werkzeuge der Weltarbeit nur erfolgreich eingesetzt werden, wenn gewisse persönliche Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehört nach meiner Erfahrung vor allem eine bestimmte Einstellung, die Haltung der tiefen Demokratie, welche unerschütterlich an die Wichtigkeit aller Teile eines Ganzen glaubt, an die Bedeutung aller unserer Persönlichkeitsteile und aller verschiedenen Sichtweisen in der Welt um uns herum. Weltarbeit braucht einerseits bestimmte Werkzeuge, welche ständig angepasst werden müssen, je mehr wir über unseren Planeten lernen, andererseits beruht sie auf der tiefen Demokratie als einer zeitlosen Gefühlseinstellung.

Die Haltung der tiefen Demokratie findet sich in allen bewährten spirituellen Traditionen, besonders im Taoismus, im Zen-Buddhismus und in den östlichen Kampfsportarten. Durch sie bekommen wir ein Gefühl für unsere Verantwortung, dem Fluss der Natur, dem Schicksal, der Lebensenergie, dem Tao oder dem Ki mit Respekt zu folgen, und ein Wissen um unsere Rolle als Mitgestalter der Weltgeschichte. Tiefe Demokratie ist die Grundlage der Einsicht, dass die Welt da ist, um uns zu helfen, unser ganzes Selbst zu werden, und dass wir da sind, um der Welt zu helfen, ganz zu werden.

Das klingt vielleicht erst mal ganz schön und entspannt, ist aber beileibe nicht immer bequem:

Selbstbalance wird weise, wenn alle Teile ermuntert werden, sich selbst voll auszudrücken. Nur wenn sowohl Explositivät als auch Sensibilität, die führende Seite genauso wie die störende, voll ausgedrückt und unterstützt werden, wird ein System seine eigenen Probleme sinvoll lösen können. […]

Alle Teile in einem Feld, sogar diejenigen, die uns nicht passen oder von denen wir meinen, sie hätten keinen Sinn, müssen repräsentiert und unterstützt werden. Anführerinnen und Störer, Insider und Outsider, Macho-Benehmen und Sensibilität, Macht und Angst, Kritik und Unterstützung müssen in einem gegebenen System alle identifiziert und repräsentiert werden. […]

Ein System, das seinen Geistern keine Zeit und keinen Raum gibt, wird schliesslich von diesen gestört oder vernichtet werden.

Unter der Überschrift Harmonie ist nicht immer das Beste schreibt er später über Gruppenprozesse:

Harmonie ist ein herrlicher Zustand, aber er ist nicht annähernd so mächtig wie Bewusstheit. Gewisse Prozesse lassen sich nicht vollumfänglich entfalten, entweder weil sie mehr Zeit brauchen, oder weil sie für die Gruppe einfach unlösbar sind; Lösungen gibt es dann nur auf der individuellen Ebene. Eine vollständige Lösung könnte auch dazu führen, dass jemand in der Dissidentenrolle zurückbleibt und verletzt wird. Die Dissidenten repräsentieren die zukünftige Entwicklung der Gruppe, sie zeigen den nächsten Schritt auf, die Wachstumsgrenze der Gruppe.

Das klingt jetzt wieder ganz schön anstrengend, jedoch:

Es gibt im Zusammenhang mit tiefer Demokratie kein Gelingen oder Scheitern. Tiefe Demokratie kennt weder Gewinnen noch Verlieren, weder innen noch aussen, weder Yin noch Yang, sondern sie ist tiefer und grundlegender. Sie ist auf das Wirbeln und Kreisen der Kräfte ausgerichtet, welche das Ganze erschaffen, das wir die Welt nennen.

Was hat es nun mit dem Segeln aus der Überschrift auf sich? Das erklärt Arnie in seinem Buch Mitten im Feuer, das es auf Deutsch nur noch antiquarisch gibt:

Demokratie ist tatsächlich eine sehr grundlegende, doch unentwickelte Form der Weltarbeit. Demokratie verhält sich zu Weltarbeit wie ein Ruderboot zu einem Segelboot. Das Ruderboot beansprucht menschliche Kraft; das Segelboot bewegt sich mit dem Wind.

Deshalb sage ich: Leinen los und Segel setzen für die tiefe Demokratie!

Nachtrag: Eine absolut lesenswerte Ergänzung zum Dialog über Gemeinschaft und Hierarchie ist François’ langer Artikel Die Konsensfalle (Achtung, reiner Download-Link, öffnet sich nicht im Browser).